27 March 2025

Weniger Spielraum als behauptet

Zu den rechtlichen Grenzen einer Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten

Im Januar 2025 versuchte die CDU/CSU-Fraktion mit Stimmen der AfD, FDP und BSW, ihr sogenanntes „Zustrombegrenzungsgesetz“ zu beschließen. Der Gesetzentwurf sah unter anderem vor, den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten vollständig und unbefristet auszusetzen. Zwar scheiterte das Vorhaben, doch nun planen CDU/CSU und SPD laut Sondierungspapier den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten befristet auszusetzen. Die politische Debatte entfernt sich dabei zunehmend von der Realität: Statt faktengestützt zu argumentieren, ist vom „Zuzug in die Sozialsysteme“ oder einer „Signalwirkung“ restriktiver Maßnahmen die Rede. Damit werden Narrative bedient, die populistische und teils rassistische Stereotype reproduzieren. Bereits die bestehende Praxis zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ist rechtsstaatlich höchst bedenklich. Wer eine erneute Aussetzung als rechtlich haltbare und politisch sinnvolle Maßnahme darstellt, verkennt die tatsächliche Lage der Betroffenen und ignoriert, dass Visa ohnehin regelmäßig nach § 22 Satz 1 AufenthG zu erteilen wären. Verfassungs- und unionsrechtlich ist eine Gleichstellung mit Menschen, die einen Schutzstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten haben (GFK-Geflüchteten) nicht nur geboten – sie ist überfällig.

Status quo: Realitäten des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten

Subsidiär Schutzberechtigte erhalten ihren Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 2 Alt. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. § 4 Asylgesetz (AsylG), wenn ihnen im Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, etwa Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Nachdem der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten von 2016 bis 2018 ausgesetzt wurde, führte der Gesetzgeber mit der Wiederaufnahme ein monatliches Kontingent von 1.000 Visa in § 36a Abs. 2 AufenthG ein. Ein Visum wird grundsätzlich nur dann erteilt, wenn ein humanitärer Grund vorliegt. Ein solcher ist unter anderem nach § 36a Abs. 2 Nr. 1 AufenthG anzunehmen, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist.

Faktisch ist der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ein langwieriger Kraftakt, der sich häufig am Rand der Rechtsstaatlichkeit bewegt: Bereits das vorgelagerte Asylverfahren dauert durchschnittlich mehr als acht Monate. Hinzu kommen erhebliche Wartezeiten auf einen zwingend erforderlichen persönlichen Vorsprachetermin bei der jeweils zuständigen deutschen Auslandsvertretung, um dort ein Visum zu beantragen. In zahlreichen deutschen Auslandsvertretungen liegt die Wartezeit nach Angaben des Auswärtigen Amtes (AA) bei „über 52 Wochen“ (BT-Drs. 2012922, Anlage 1 zu Frage 3). Laut Gerichtsbeschlüssen lag die durchschnittliche Terminwartezeit für die Auslandsvertretung Beirut im August 2024 sogar bei 22 Monaten (BT-Drs. 20/13979, S. 2). Solche Verzögerungen sind nicht neu: Bereits 2018 betrugen die Wartezeiten an der deutschen Botschaft in Islamabad rund zehn Monate. Dass „über 52 Wochen“ in der Praxis nahezu zwei Jahre bedeuten kann, dürfte daher eher die Regel als die Ausnahme sein – nicht nur in Beirut.

Wer schließlich vorsprechen kann – oft unter erheblichen Belastungen, etwa weil Menschen aus Afghanistan für die Antragstellung nach Pakistan oder in den Iran reisen müssen – wird von den beteiligten Behörden aufgefordert, teure DNA-Gutachten durchzuführen oder Dokumente unter unzumutbaren Bedingungen zu besorgen. So wird das Verfahren erheblich weiter verzögert.

Die Berliner Verwaltungsgerichtsbarkeit erkennt in den langen Wartezeiten bislang kein strukturelles Problem. Zuletzt billigte das OVG Berlin-Brandenburg die Aussetzung einer Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO gegen das AA für einen Zeitraum von 18 Monaten ab Antragstellung auf ein Visum zum Familiennachzug. Aus Sicht des Gerichts beruhen die massiven Verzögerungen auf bloß situativen Kapazitätsengpässen und nicht auf strukturellen Organisationsdefiziten der Bundesrepublik. Es argumentiert, das AA müsse seine Kapazitäten zur Visabearbeitung nicht unbegrenzt ausweiten.

Doch darum geht es nicht: Zwischen einer Pflicht zur unbegrenzten Kapazitätsausweitung und dem stillschweigenden Dulden struktureller Verwaltungsüberlastung besteht ein grundlegender Unterschied. Deswegen dürfen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts strukturelle Organisationsdefizite bei der gerichtlichen Bemessung angemessener Entscheidungsfristen gerade nicht zu Lasten der Betroffenen gehen (Beschluss v. 16.01.2017, 1 BvR 2406/16, Rn. 9). Es scheint jedoch, als erkenne das OVG Berlin-Brandenburg strukturelle Organisationsdefizite erst dann als solche an, wenn der Staat einen verwaltungsorganisatorischen Kahlschlag vollzieht, wie er derzeit in den USA zu beobachten ist.

Dabei hat die Überlastung bereits ein Ausmaß erreicht, in dem grund- und menschenrechtliche Garantien real leer zu laufen drohen. Mit einer Weisung vom 6. November 2024 beendete das AA ohne Vorankündigung die bisherige Praxis, subsidiär Schutzberechtigten Jugendlichen kurz vor ihrem 18. Geburtstag Sondertermine zu gewähren. In der Folge drohen viele dieser Jugendlichen, ihren Anspruch auf Elternnachzug allein wegen der Länge des Asyl- und Visumverfahrens zu verlieren.

Familiennachzug trotz Aussetzung: § 22 AufenthG greift und verpflichtet

Das Bundesverfassungsgericht hat die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten in den Jahren 2016 bis 2018 ausschließlich im Rahmen von Eilrechtsschutzverfahren geprüft (Beschluss v. 11.10.2017, 2 BvR 1758/17, Beschluss v. 20.3.2018, 2 BvR 1266/17). Dabei kam es zu dem Schluss, dass die Aussetzung jedenfalls deswegen nicht evident verfassungswidrig sei, weil § 22 Satz 1 AufenthG Raum dafür lässt, in Härtefällen Visa zu erteilen. § 22 Satz 1 AufenthG wirkt heute allenfalls als humanitäres Feigenblatt. Nimmt man die verfassungs- und menschenrechtliche Dimension der Regelung jedoch ernst, kommt ihr gerade bei einer Aussetzung speziellerer Nachzugsregelungen eine zentrale kompensatorische Funktion zu.

In seiner Entscheidung M.A. gegen Dänemark (6697/18) betont der EGMR, dass das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK prozedurale Garantien wie ein faires, flexibles, zügiges und effizientes Verfahren umfasst (Rn. 163). Eine pauschale Wartezeit von drei Jahren ab Erteilung des Schutzstatus bis zur individuellen Prüfung eines Antrags auf Familiennachzug verletzt danach Art. 8 EMRK; zwei Jahre wurden im konkreten Fall noch als hinnehmbar bewertet (Rn. 162). Für Deutschland bedeutet das: Auch bei einer erneuten Aussetzung des Familiennachzugs wären die Behörden spätestens zwei Jahre nach Schutzzuerkennung verpflichtet, Visumanträge von Angehörigen subsidiär Schutzberechtigter entgegenzunehmen, einzelfallbezogen zu prüfen und zu bescheiden. Besteht eine Ermessensreduzierung auf Null, muss der Antrag positiv beschieden werden.

Das dürfte regelmäßig der Fall sein, auch wenn § 22 Satz 1 AufenthG – anders als § 36a AufenthG –  dringende humanitäre Gründe voraussetzt. Dringende humanitäre Gründe liegen vor, „wenn die Aufnahme im Hinblick auf eine Sondersituation gegenüber anderen Ausländern gerechtfertigt ist” (BT-Drs. 15/420, S. 77) und können sowohl in der Nachzug begehrenden Person als auch in der in Deutschland lebenden Person mit subsidiärem Schutzstatus liegen. Daraus folgt, dass selbst bei einer befristeten Aussetzung des Familiennachzugs subsidiär Schutzberechtigten ein Visum nach § 22 Satz 1 AufenthG zu erteilen sein kann, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft außerhalb Deutschlands nicht hergestellt werden kann und eine Trennung bereits so lange andauert, dass sie mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.12.2020 – 1 C 30/19, Rn. 49). Subsidiär Schutzberechtigte können wegen der Gefahrenlage nicht auf eine Familienherstellung im Herkunftsstaat verwiesen werden; eine von der Schutzentscheidung des BAMF abweichende Bewertung im Rahmen des § 22 Satz 1 AufenthG verbietet sich.

Entscheidend ist daher allein, ab welcher Dauer eine Trennung der Familie regelmäßig als unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 GG anzusehen ist. Die derzeit von der Rechtsprechung festgelegten Richtwerte im Rahmen des § 36a Abs. 2 Nr. 1 AufenthG – etwa zwei Jahre nach Asylantragstellung bei minderjährigen Kindern, drei Jahre bei Ehegatten mit Eheschließung vor der Flucht und vier Jahre bei Eheschließung während der Flucht (Rn. 36) – dürften bereits jetzt von den äußersten verfassungsrechtlichen Grenzen in Anbetracht der Rechtsprechung des BVerfG nicht allzu weit entfernt sein.

Dennoch wird das Vorliegen dringender humanitärer Gründe regelmäßig mit dem Argument verneint, sie müssten im Vergleich zu anderen Drittstaatsangehörigen in vergleichbaren Notsituationen vorliegen (so VG Berlin Urt. v. 22.3.2023 – 21 K 134/22, Rn. 24 und OVG Berlin-Brandenburg Urt. v. 17.2.2023 – OVG 3 B 9/21, Rn. 29).

Diese Sichtweise ist jedoch verfehlt: Die Dringlichkeit humanitärer Gründe darf nicht am Schweregrad anderer Notlagen, sondern muss im Verhältnis zu sämtlichen Einreisebegehren bewertet werden – auch solchen, die etwa wirtschaftlich oder bildungsbezogen motiviert sind. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob die Antragstellenden aus einer Krisenregion stammen oder nicht.

Die derzeitige Vergleichspraxis knüpft nicht nur in unzulässiger Weise mittelbar an die Herkunft der Betroffenen an und dürfte damit gegen Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen. Sie macht zudem humanitäre Notlagen systematisch unsichtbar und unterläuft den Zweck des § 22 Satz 1 AufenthG.  Wer in diesem Kontext eine vollständige Aussetzung des Familiennachzugs für rechtlich tragfähig verkauft, verkennt entweder die Lebensrealitäten der Betroffenen – oder forciert eine Auslegung des § 22 Satz 1 AufenthG, die ihn weiterhin auf ein humanitäres Feigenblatt reduziert, und relativiert zugleich die Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG.

Erneute Aussetzung verfehlt Art. 6 GG – rechtlich ist nur Gleichstellung mit GFK-Geflüchteten haltbar

In seinen Eilbeschlüssen zur Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte in den Jahren 2016 bis 2018 hat das Bundesverfassungsgericht den hohen Rang von Art. 6 Abs. 1 GG betont und die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer zweijährigen Aussetzung ausdrücklich als klärungsbedürftig bezeichnet (Rn. 12, Rn. 15). Eine befristete Aussetzung kann verfassungsrechtlich nur Bestand haben, wenn das öffentliche Interesse gegen die Interessen aller betroffenen Familienmitglieder abgewogen wird. Angesichts der langwierigen Verfahren, in deren Folge Visa auch nach § 22 Satz 1 AufenthG regelmäßig zu erteilen sind, wäre eine erneute Aussetzung nicht geeignet, dem zuletzt angeführten öffentlichen Interesse an der Entlastung begrenzter Kapazitäten der Aufnahme- und Integrationssysteme Rechnung zu tragen; zumal die weitere Beschränkung des Familiennachzugs angesichts des deutlichen Rückgangs der Asylantragszahlen überhaupt nicht erforderlich scheint.

Im Übrigen verfehlt das Narrativ, es bestehe kein öffentliches Interesse am Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, die tatsächlichen und verfassungsrechtlichen Gegebenheiten. So dokumentiert etwa eine Studie des SVR-Forschungsbereichs 2017-4 eindrücklich die massiven psychischen Belastungen, die langfristige familiäre Trennungen und Unsicherheiten bei Betroffenen verursachen. Belastungen dieser Art, die systematisch und vorhersehbar entstehen, können nicht im öffentlichen Interesse liegen. Im Gegenteil: Familiennachzug erleichtert Integration, wirkt  gewaltpräventiv und dem demographischen Wandel entgegen. Das öffentliche Interesse an einer erneuten Aussetzung ist daher als marginal zu bewerten; das öffentliche Interesse und das Interesse der betroffenen Familien an einer Aufrechterhaltung und Ausweitung des Familiennachzugs überwiegen deutlich.

Hinzu kommt, dass subsidiär Schutzberechtigte nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht anders behandelt werden dürfen als GFK-Geflüchtete.  GFK-Geflüchtete erhalten ihren Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 2 Alt. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. § 3 AsylG, sofern eine begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe besteht.  Im Unterschied zu subsidiär Schutzberechtigten ergibt sich der Schutzbedarf somit nicht aus einer allgemeinen Gefahrenlage im Herkunftsland, sondern aufgrund individueller Verfolgung. Eine Gleichstellung des Familiennachzugs war bereits im Koalitionsvertrag der “Ampel-Regierung” geplant und ist weiterhin rechtlich geboten. Es handelt sich bei der Situation subsidiär Schutzberechtigter und GFK-Geflüchteter um im Wesentlichen gleiche Sachverhalte: Denn auch subsidiär Schutzberechtigte können ihre familiäre Lebensgemeinschaft im Herkunftsstaat dauerhaft nicht herstellen. Die gegenteilige Annahme im gescheiterten „Zustrombegrenzungsgesetz”, wonach subsidiärer Schutz nur vorübergehenden Charakter habe, verkennt die tatsächlichen Verhältnisse. Über die Hälfte der subsidiär Schutzberechtigten (187.194 Personen) lebt seit über sechs Jahren in Deutschland (BT-Drs. 20/13040, S. 6). Der Gesetzgeber hat diesen Umstand mit dem „Rückführungsverbesserungsgesetz“ anerkannt und die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 2 Alt. 2 AufenthG zuletzt an die Regelung für GFK-Geflüchtete angeglichen.

Auch unionsrechtlich ist eine Gleichbehandlung indiziert: Nach Art. 20 Abs. 2 Qualifikations-RL 2011/95 ist eine Gleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten mit GFK-Geflüchteten geboten, sofern eine Ausnahmeregelung nicht notwendig oder sachlich gerechtfertigt ist (EG 39 Qualifikations-RL 2011/95). Der UNHCR hat im Dezember 2024 ausdrücklich festgestellt, dass eine Differenzierung weder erforderlich noch sachlich begründbar sei – insbesondere nicht mit Blick auf Fluchterfahrungen und Schutzbedarfe (S. 7f.).


SUGGESTED CITATION  Kummer, Rhea; Wessing, Greta: Weniger Spielraum als behauptet: Zu den rechtlichen Grenzen einer Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten , VerfBlog, 2025/3/27, https://verfassungsblog.de/familiennachzug-migration-aufenthaltsgesetz-koalitionsvertrag-sondierungspapier/, DOI: 10.59704/2440009efc76c1a5.

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