Mitwirkung durch Los?
Zur verfassungskonformen Einbindung von Bürgerräten in den politischen Prozess
Das Modell der repräsentativen Demokratie steckt in einer Krise. Für Deutschland belegen dies kontinuierlich neue Daten und Statistiken über das niedrige Vertrauen der Bevölkerung in einzelne Institutionen wie den Bundestag als auch die anhaltend niedrige Zufriedenheit mit dem Funktionieren der repräsentativen Demokratie als solcher. Um dieser Vertrauens- und Zufriedenheitskrise entgegenzutreten, werden neue Formen politischer Partizipation – derzeit insbesondere das Konzept der Bürgerräte – diskutiert (hier, hier und hier) und erprobt. Bürgerräte bieten einer kleinen Gruppe von zufällig ausgelosten Bürger:innen die Möglichkeit, (mit Unterstützung von Moderator:innen und Sachverständigen) ein politisches Thema zu diskutieren und Empfehlungen für die Politik in Form eines Bürgergutachtens zu erarbeiten. Ziel dieses Konzepts ist es, durch eine engere Einbindung der Bürger:innen in den demokratischen Prozess politische Selbstwirksamkeit zu erzeugen und hiermit das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie als solche zu stärken.
Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass Bürgerräte tatsächlich einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie leisten können, dann muss deren Institutionalisierung zumindest folgende Grundvoraussetzung erfüllen: Bürgerräte müssen eine Form von Wirksamkeit aufweisen. Sie müssen in den politischen Prozess eingebunden werden und einen wahrnehmbaren Effekt auf das Handeln der entscheidenden Akteure erkennen lassen. Denn: Auch wenn die persönlichen positiven Effekte (wie die Selbstwahrnehmung als „politischer Mensch“ oder die Erfahrung eines respektvollen, konstruktiven Austausches auf Augenhöhe) auf die einzelnen Beteiligten eines Bürgerrats nicht übersehen werden dürfen, ist eine Form von Wirksamkeit unabdingbar, um (individuelle) Ernüchterungseffekte zu verhindern und Bürgerräte nicht zu einer nur vermeintlich wirksamen „Alibiveranstaltung“ zu degradieren, die der Krise der repräsentativen Demokratie weiter Vorschub leistet.
Bürgerräte mit quasi-legislativer Entscheidungsgewalt
Die stärkste – aber nur auf den ersten Blick naheliegendste – Variante, eine Wirksamkeit von Bürgerräten zu erreichen, wäre die Einführung von Bürgerräten mit quasi-legislativer Entscheidungsgewalt. Dies könnte etwa durch die Verpflichtung des Bundestags erzielt werden, die Empfehlungen eines Bürgergutachtens als Gesetz auszugestalten und zu verabschieden. Diese Art der Ausgestaltung würde allerdings die Grundfesten des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips antasten. Denn Bürgerräte, die über echte legislative Entscheidungsgewalt verfügen und deren Empfehlungen aus dem Bürgergutachten für staatliche Organe, sowie letzten Endes auch für alle Bürger:innen rechtlich verbindlich wären, würden nicht weniger als eigene öffentliche Gewalt ausüben. Im politischen System der Bundesrepublik Deutschland bedarf die Ausübung von öffentlicher Gewalt nach Art. 20 Abs. 2 GG jedoch zwingend der demokratischen Legitimation.
Fehlende demokratische Legitimation
Demokratisch legitimiert sind Akte der öffentlichen Gewalt nur, wenn sie auf das Volk rückführbar sind. Hierfür sieht das Grundgesetz zwei Wege vor: Erstens kann das Volk durch Personalentscheidungen in Wahlen und Sachentscheidungen in Abstimmungen unmittelbar öffentliche Gewalt ausüben. Diese Sach- und Personalentscheidungen sind unmittelbar demokratisch legitimiert. Zweitens kann öffentliche Gewalt mittelbar durch „besondere Organe“, also Verfassungsorgane der Legislative, Exekutive und Judikative, ausgeübt werden. Deren Akte öffentlicher Gewalt bedürfen eines hinreichenden Legitimationszusammenhangs, der die Ausübung an das Volk rückkoppelt. Erforderlich ist hierzu, dass „das Volk einen effektiven Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Organe hat“ und die Akte staatlicher Gewalt „[dem Volk] gegenüber verantwortet werden“ (BVerfGE 83, 60 [72]).
Die Empfehlungen eines Bürgergutachtens sind jedenfalls nicht als Sachentscheidung unmittelbar durch das Volk legitimiert. Es findet gerade keine Abstimmung des Volkes in seiner Gesamtheit über das Bürgergutachten statt. Abstimmungsberechtigt sind nur Teile des Volkes, nämlich die zufällig ausgelosten Mitglieder eines Bürgerrats. Allein die theoretische Möglichkeit, in einen Bürgerrat gelost zu werden und somit die Chance zu erhalten, über das Bürgergutachten abzustimmen, genügt einer Abstimmung des Volkes im Sinne des verfassten Demokratieprinzips nicht. Auch der Verweis auf die (wenn auch begrenzte) Zulässigkeit direktdemokratischer Elemente unter dem Grundgesetz ist in diesem Zusammenhang fehlgeleitet. Direktdemokratische Volksbefragungen sprechen gerade das gesamte Volk als Souverän an, welches als solches an die Urne gebeten wird.
Bürgerräte können auch keine demokratische Legitimation dadurch erfahren, dass ihre Mitglieder durch Wahlen unmittelbar legitimiert sind. Die Zusammensetzung eines Bürgerrats durch aleatorisches Verfahren – also durch Zufall – ist gerade keine Personalentscheidung des Volkes.
Es bleibt somit die Möglichkeit, dass Bürgerräte als besonderes Organ – hier der Gesetzgebung – durch einen hinreichenden Legitimationszusammenhang an das Volk rückgekoppelt werden können und hierdurch mittelbar demokratisch legitimiert würden. Jedoch kann auch insofern Bürgerräten nach oben beschriebenem Modell im Ergebnis keine demokratische Legitimation vermittelt werden, da es jedenfalls an einem „effektiven Einfluss“ des Volkes auf die Ausübung von öffentlicher Gewalt fehlt. Insbesondere haben das Volk als Souverän sowie das Parlament als einsetzendes Organ, keine wirksamen Kontrollmöglichkeiten zur Hand, um Mitglieder eines Bürgerrats oder einen Bürgerrat als Kollektiv für eine getroffene Entscheidung politisch verantwortlich zu machen. Der notwendige Verantwortungszusammenhang zwischen getroffener Entscheidung und personellen Konsequenzen (Bestätigung oder Abwahl) für einzelne Amtsträger:innen – wie für Mitglieder des Bundestags durch periodische Wahlen – besteht gerade nicht. Die angestrebte deskriptive Repräsentativität eines Bürgerrats – also die Zusammensetzung als „Abbild des Volkes“ – hilft über den fehlenden Legitimationszusammenhang nicht hinweg. Losbasierte Bürgerräte sind somit schlicht nicht hinreichend demokratisch legitimiert, um öffentliche Gewalt auszuüben.
Grenzen einer Verfassungsänderung
Ob durch die Änderung des Grundgesetzes eine hinreichende demokratische Legitimation für Bürgerräte mit quasi-legislativer Entscheidungsgewalt geschaffen werden kann, ist mit guten Gründen zu bezweifeln. Einer Verfassungsänderung, die die Grundsätze des Demokratieprinzips berührt, steht jedenfalls die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG entgegen. Zu diesen unantastbaren Grundsätzen zählen die Volkssouveränität und damit auch das Erfordernis, die Ausübung von Staatsgewalt durch einen hinreichenden Legitimationszusammenhang an das Volk rückzukoppeln. Eine hypothetische Aufnahme von Bürgerräten als Verfassungsorgan und besonderes Organ der Gesetzgebung in das Grundgesetz hilft über das (oben dargelegte) Fehlen dieser Voraussetzung schlicht nicht hinweg. Gleiches gilt für die hypothetische Ergänzung der bisher verfassten Ausübungsmodi um „Losverfahren“. Auch hier fehlt es an der weiterhin erforderlichen Rückkoppelung zum Souverän. Dazu tritt, dass die Entscheidung der verfassungsgebenden Gewalt, gerade diese Ausübungsmodi (Wahlen, Abstimmungen, besondere Organe) festzuschreiben, auch als (änderungsfeste) Entscheidung gegen weitere Ausübungsmodi gelesen werden kann.
Wirksamkeit durch eine parlamentarische Befassungspflicht
Weil die Möglichkeit, einen Bürgerrat mit quasi-legislativer Entscheidungsgewalt auszustatten, verfassungsrechtlich versperrt ist, ist eine zur Kenntnisnahme, Auseinandersetzung oder gar Umsetzung der Empfehlungen vom politischen Willen der Mitglieder des Bundestags abhängig. Ohne nähere Ausgestaltung steht es den Parlamentarier:innen gänzlich frei zu entscheiden, ob sie sich überhaupt – und falls ja, wie – mit einem Bürgergutachten auseinandersetzen. Unter der eingangs aufgestellten Prämisse, dass Bürgerräte eine Form von Wirksamkeit aufweisen müssen, um sowohl bei den Beteiligten als auch in der Öffentlichkeit Ernüchterung über die (versuchte) engere Einbindung der Bürger:innen zu vermeiden, kann etwa die Einführung einer Befassungspflicht des Parlaments mit dem Bürgergutachten eine Lösung bieten. Eine solche Befassungspflicht würde den Bundestag verpflichten, mindestens eine Aussprache über das Bürgergutachten im Plenum vorzunehmen. Weiterreichende Auseinandersetzungen mit dem Gutachten, etwa die Überweisung in Ausschüsse oder die Abstimmung über einzelne Empfehlungen, gehen mit einer solchen (hier in Rede stehenden) Pflicht nicht einher.
Ein Bürgerrätegesetz?
Im Rahmen der Diskussion um eine rechtliche Verstetigung von Bürgerräten, steht die Überlegung im Raum, grundlegende Parameter eines Bürgerrats – wie etwa Einsetzung, Zusammensetzung, Themenwahl und interner Ablauf – in einem Bürgerrätegesetz zu regeln. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob auch die Befassungspflicht in einem solchen Gesetz geregelt werden könnte. Gegen eine solche Ausgestaltung spricht jedoch die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG). Dies überrascht möglicherweise auf den ersten Blick, da die Einführung einer Befassungspflicht durch das Parlament ja gerade die Gestaltung seines inneren Ablaufs betrifft. Sinn und Zweck dieser Geschäftsordnungsautonomie ist es, die Selbstorganisation des Parlaments sicherzustellen und Einflüsse anderer Verfassungsorgane zu verhindern. Die Regelung interner Verfahrensabläufe in Gesetzesform führt hier zu einer unzulässigen Auslagerung aus der rein parlamentarischen Sphäre. Es eröffnet durch das Gesetzgebungsverfahren sowohl dem Bundesrat (durch Zustimmungspflicht oder Einspruchsmöglichkeit), als auch dem:der Bundespräsident:in (im Rahmen der Ausfertigung des Gesetzes) Einfluss auf die parlamentarische Ausgestaltung. Der Gesetzgebungsprozess ist durch die Einbindung dieser weiteren Verfassungsorgane zeitintensiv und für den Bundestag selbst weniger flexibel. Die Selbstorganisation des Parlaments wird durch diese Auslagerung deshalb in einem nicht unerheblichen Maße eingeschränkt. Allein die Praktikabilität einer umfassenden einfachgesetzlichen Regelung genügt nicht, um eine Einschränkung der Geschäftsordnungsautonomie zu rechtfertigen. Ohne einen (hier nicht erkennbaren) gewichtigen sachlichen Grund, in die verfassungsrechtliche Autonomie des Bundestages einzugreifen, ist eine Regelung der Befassungspflicht in Gesetzesform daher nicht zulässig.
Oder die Geschäftsordnungslösung?
Die Einführung einer Befassungspflicht kann jedoch über eine Aufnahme in die Geschäftsordnung des Bundestags (GOBT) erfolgen. Eine entsprechende Regelung in der GOBT würde zum einen sicherstellen, dass der Bundestag mit einfacher Mehrheit (ohne den möglichen Einfluss weiterer Akteure) eine Aufnahme, Änderung oder Abschaffung einer Befassungspflicht initiieren und umsetzen kann. Zum anderen besteht zu Beginn jeder neuen Legislaturperiode aufgrund des Grundsatzes der Diskontinuität die Notwendigkeit, sich (erneut) für oder gegen die Befassungspflicht zu entscheiden.
Auch materiell-rechtlich spricht nichts gegen die Schaffung einer solchen Befassungspflicht. Es trifft zwar zu, dass die Pflicht, sich mit einem Gegenstand zu befassen, der GOBT bislang fremd ist. Der Umstand, dass sich das Parlament mit einem parlamentsexternen Gegenstand – etwa wie hier dem Bürgergutachten – beschäftigen muss, ist allerdings durchaus gängige (teils auch rechtlich verpflichtende) Parlamentspraxis. So finden schließlich auch Gesetzesvorlagen der Bundesregierung oder des Bundesrats (Art. 76 Abs. 1 GG), Gutachten von Sachverständigen oder Berichte von Untersuchungsausschüssen im Plenum und/oder in Ausschüssen Gehör und bieten Anlass für parlamentarischen Austausch. Auch die einer Befassungspflicht inhärente vorgelagerte Selbstbindung des Parlaments stellt keine unzulässige Beschränkung der Parlamentsautonomie dar. Aus einer reinen Befassung erwachsen gerade keine weiterreichenden Pflichten: Der Bundestag allein entscheidet darüber, in welchem (zeitlichen) Umfang er die Befassung im Plenum ausgestaltet, ob eine Überweisung in einen Ausschuss erfolgt oder ob konkrete Empfehlungen tatsächlich Eingang in Gesetzesvorhaben finden.
Verfassungskonforme Wirksamkeit
Wenn die Institutionalisierung von Bürgerräten politisch das gewünschte Mittel der Wahl gegen die Vertrauens- und Zufriedenheitskrise ist, muss die konkrete Art der Ausgestaltung jedenfalls sicherstellen, dass den Ergebnissen eines Bürgerrats eine gewisse Form von Wirksamkeit zuteilwird. Die Möglichkeit, Bürgerräte mit quasi-legislativer Entscheidungsgewalt auszustatten, ist verfassungsrechtlich klar versperrt. Rechtlich zulässig und gleichzeitig mit einer Form von Wirksamkeit ausgestattet wäre hingegen die Einführung einer Befassungspflicht des Bundestags mit dem Bürgergutachten. Bürgerräte würden durch diese Art der Ausgestaltung in Wechselwirkung zu bestehenden Verfassungsorganen stehen und in verfassungskonformer Weise Einfluss auf den parlamentarischen Willensbildungsprozess nehmen. Eine solche Institutionalisierung von Bürgerräten stünde ganz im Sinne der deliberativen Idee – eines freien und offenen Austausches mit dem Ziel der Willensbildung – aus der das Konzept der Bürgerräte ursprünglich erwachsen ist.
Die Wahlbeteiligung bei der letzten Bundestagswahl lag bei 82,5%.
Das ist der höchste Stand seit 38 Jahren.
Wenn die Leute fleißig partizipieren und dann dennoch ihre Unzufriedenheit über Bundestag und Demokratie kundtun, dann liegt das vielleicht daran, dass sie mit den Entscheidungen nicht einverstanden sind. Und es ist klar, dass dieser Anteil größer wird, je polarisierter politische und gesellschaftliche Diskussionen geführt werden.
Ich sehe nicht, wie sich das durch Bürgerräte irgendwie verbessern könnte.
99,9% der Bevölkerung würden daran nicht teilnehmen, und die wären immer noch unzufrieden. (Schon allein, weil sie vollkommen weltfremde Vorstellungen davon haben, was politisch machbar ist. Ja, oftmals sogar weltfremde Vorstellungen von der Realität.)
Gegen Hetze bei TikTok hat ein Bürgerrat mit fünf Sitzungen im Jahr einfach keine Chance.
Vielen Dank für den interessanten Aufsatz. Aus den Erfahrungen in Baden-Württemberg stelle ich in Frage, ob wir diese Debatte um mehr Verbindlichkeit von Bürgerräten brauchen. Bürgerräte sind kein Instrument, um Rechte zu realisieren. Sie dienen der repräsentativen Demokratie. Sie sind vorbereitend. Sie sind Teil der politischen Debatten. Dialogische Bürgerbeteiligung ist in Baden-Württemberg entsprechend gesetzlich geregelt. Dieses Gesetz reicht völlig aus. Teilnehmende eines Bürgerrats erwarten gar nicht, dass alles umgesetzt wird, was sie anregen. Die Debatte um irgendeine höhere Verbindlichkeit schadet vielmehr dem Instrument Bürgerrat, weil es dann sofort Abwehrreflexe der Abgeordneten geben wird.