17 December 2021

Bürgerräte als Potential für die Handlungs- und Lernfähigkeit von Demokratien

Von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen, entstehen seit einigen Jahren in europäischen Ländern und in den USA neue Formen der Bürgerbeteiligung. Per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, die die Bevölkerung in ihrer Vielfalt repräsentieren, erarbeiten in Räten, Konferenzen oder Versammlungen nach intensiver und informierter Diskussion Empfehlungen zur Lösung politischer Probleme. Auch im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sind Bürgerräte vorgesehen.

Auf der einen Seite beobachten wir also ein Interesse der Bürgerinnen und Bürger an politischer Beteiligung und auch die Bereitschaft der Politik, Möglichkeiten für die Realisierung dieses Interesses zu schaffen. Auf der anderen Seite erleben wir seit gut einem Jahrzehnt Fehlentwicklungen der repräsentativen Demokratien. Ein Teil der Bevölkerung verliert nicht nur das Vertrauen in die politischen Eliten, sondern darüber hinaus in die demokratischen Institutionen. Mit dem Verlust des Vertrauens in demokratische Institutionen nimmt die Angst vor der Zukunft zu. Populisten instrumentalisieren diese Angst für ihre anti-demokratische und anti-pluralistische Politik. In einer fragmentierten Öffentlichkeit findet der Diskurs zunehmend in voneinander abgeschotteten virtuellen Räumen statt. Dies führt zu wachsender Intoleranz, weil die Fähigkeit abnimmt, sich in andere Kulturen, Denkweisen und Traditionen hineinzudenken. Die Demokratie, so Rainer Forst, ist eben „nicht nur eine Staats-, sondern auch eine Lebensform, und sie ist zuallererst eine Denkform: denn sie erfordert eine bestimmte Haltung zu sich und den anderen“.

Den Prozess einer „Erosion der Demokratie“ hat Wolfgang Merkel anhand des Index der liberalen Demokratie mit einer Grafik veranschaulicht (Vorlesung am 1. Oktober 2021). Die Grafik zeigt, dass die Qualität der Demokratie, gemessen am Index der liberalen Demokratie des Projektes „Varieties of Democracy“, in der EU, Australien, Kanada, Neuseeland, den USA und Japan seit den 1950er Jahren zunimmt und seit 2010 abnimmt.

 

Liberal Democracy Index: 1950-2019

EU, Australia, Canada, New Zealand, USA, and Japan

 

(Wolfgang Merkel, Neue Krisen, Moral, Wissenschaft und die Demokratie, Vorlesung am 1.10.2021 im WZB. Ich danke Wolfgang Merkel für die Erlaubnis, die Grafik zu verwenden.)

 

Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Bürgerräte, -konferenzen und -versammlungen ein Gegengewicht zu den Zerfallserscheinungen der repräsentativen Demokratie sein können. Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst, die Ursachen für die beunruhigende Entwicklung zu klären.

Der Zusammenhang von öffentlicher Debatte und demokratischer Politik

Es ist meine Hypothese, dass die repräsentativen Demokratien in eine kritische Lage geraten sind, weil der unzureichende Diskurs zwischen Repräsentanten und Repräsentierten und die negativen Folgen der Deregulierung des Marktes für die Geltung des demokratischen Prinzips der Gerechtigkeit eine inklusive politische Öffentlichkeit als notwendige Grundlage der Handlungs- und Lernfähigkeit von Demokratien beeinträchtigen. Die Defizite der Kommunikation zwischen Politikern und Bürgern und die Anpassung der Politik an den Markt, haben zu einer Abgehobenheit der politischen Elite geführt. Diese Abgehobenheit wirkt sich auf die Inhalte der Politik aus. Empirische Studien zur Responsivität der Politik für Deutschland und für die USA belegen, dass in den politischen Entscheidungen vor allem die Präferenzen der Bürger mit höherem Einkommen berücksichtigt werden. Auf diese Weise gerät das demokratische Prinzip der Gerechtigkeit aus dem Blick. Rainer Forst spricht von einer „sozialen Verwahrlosung“. „Eine begriffliche Trennung von Demokratie und Gerechtigkeit ist der theoretische Ausdruck dieser Verwahrlosung“.

Die „Verwahrlosung auf Seiten von Eliten“ ist mit einer Schwächung der politischen Urteilskraft verbunden. Gewählte Repräsentanten, die sich mit den Argumenten, Sorgen und Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger nicht ernsthaft auseinandersetzen, ja diese gar nicht kennen, trauen sich auch nicht, gleichermaßen selbstbewusst und selbstkritisch zu handeln. Der anspruchsvolle Prozess der Repräsentation, in dem die „lebensweltlichen Erfahrungen und Konflikte der Bürger in die Handlungs- und Organisationsstrukturen des Staates“ überführt werden, verliert ohne öffentlichen Diskurs zwischen Bürgern und Politikern seine gesellschaftliche Grundlage (Ulrich K. Preuß, Wo bleibt das Volk? Erwartungen an demokratische Repräsentation, 1996, S.96).

Und hier kommen die Bürgerräte ins Spiel. Wenn es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Räte gelänge, mit informierten Diskussionen und gut begründeten Vorschlägen die repräsentative Demokratie zu ergänzen, dann ließe sich die Problemlösungsfähigkeit einer Demokratie erhöhen.

Die bisherigen Erfahrungen mit Bürgerräten

Ein Blick auf die bisherigen Erfahrungen kann zu ersten vorsichtigen Einschätzungen darüber führen, inwieweit die Bürgerräte tatsächlich die repräsentative Demokratie stärken. Die neuen Formen der Partizipation lassen sich nach ihrer Einberufung durch staatliche Organe oder zivilgesellschaftliche Gruppen, nach der Auswahl und Zahl der Teilnehmer, der Ansiedlung auf der lokalen, regionalen, nationalen oder inter- und transnationalen Ebene, der Art des Themas, der Dauer ihrer Aktivität, des diskursiven Niveaus der Debatten und der Wirkung ihrer Empfehlungen unterscheiden. Mit zwei Beispielen auf der nationalen und einem Beispiel auf der transnationalen Ebene möchte ich das Potential, aber auch die Herausforderungen der Bürgerräte skizzieren.

  1. Die irische Bürgerversammlung

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der irischen Bürgerversammlung (2016-2018) wurden per Los ausgewählt und waren nach Alter, Geschlecht, sozialer Schicht und regionaler Verteilung repräsentativ für die Gesellschaft. Die Versammlung traf sich an insgesamt 20 Tagen und hat sich mit wichtigen Themen der nationalen Politik befasst: mit der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, der Alterung der Gesellschaft, dem Klimawandel und dem Pro und Contra von Referenden. Nehmen wir das Beispiel der Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch. 40 Experten (Ethik, Medizin und Recht) haben zwischen 15 und 30 Minuten zu diesem Thema vorgetragen, und auch betroffene Frauen kamen zu Wort. Die Debatten fanden auf der Basis der Präsentationen der Experten in kleinen Gruppen zwischen 7 und 8 Personen statt und wurden von Moderatoren unterstützt.

Den Diskussionsprozess beurteilten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als sehr zufriedenstellend, fair und von wechselseitigem Respekt geprägt. Und obwohl es sich beim Schwangerschaftsabbruch um ein Thema handelte, das die irische Gesellschaft seit Jahrzehnten spaltete, war es möglich, eine sachliche Debatte zu führen. Das Ergebnis der Beratungen hatte auch praktische Folgen. Für die Empfehlung der Bürgerversammlung, den Schwangerschaftsabbruch zu liberalisieren, stimmte im Mai 2018 in einem Referendum eine große Mehrheit der Bevölkerung.

Nicht alle Empfehlungen der Bürgerversammlung wurden umgesetzt. Das irische Beispiel macht daher deutlich, so Gráinne de Búrca, dass es Probleme gibt, für deren Lösung sich die Deliberation in Bürgerversammlungen besonders gut eignet. Ist ein Thema umstritten und die Politik in eine Sackgasse geraten, dann eröffnet eine Bürgerversammlung die Chance, die Debatte zu versachlichen und herauszufinden, in welche Richtung die gesellschaftliche Entwicklung gehen soll. Auch wenn eine Regierung mit ihrer Politik auf beträchtlichen öffentlichen Protest stößt, ist es sinnvoll, den Bürgerinnen und Bürgern die Chance zu geben, ihre Erfahrungen darzulegen und ihre Kritik zu begründen.

  1. Der französische Klimarat

Ein Beispiel für die politische Beteiligung der Bürger als Reaktion auf einen Vertrauensverlust in die Regierung ist der französische Klimarat (2019-2020). Die Proteste der „Gelbwesten“, der „Gilets Jaunes“, gegen die Erhöhung des Dieselpreises, die Geschwindigkeitsbegrenzungen und die geplante Umweltsteuer veranlassten den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die Bürgerinnen und Bürger in öffentlichen Debatten zu Umweltfragen, der Steuerpolitik und einer Demokratisierung der Demokratie zu Wort kommen zu lassen. Einer der Vorschläge, einen Bürgerkonvent zum Klima einzuberufen, wurde im April 2019 verwirklicht. Die Regierung versprach, die Vorschläge des Konventes in die Praxis umzusetzen.

150 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger diskutierten von Oktober 2019 bis Juni 2020 an acht Wochenenden die Frage, wie man die Emissionen von Treibhausgasen bis zum Jahr 2030 um 40% im Vergleich zu den Emissionen im Jahr 1990 reduzieren und dabei soziale Gerechtigkeit beachten könne. In einem Abschlussbericht wurden 149 Maßnahmen vorgeschlagen, denen 95 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zustimmten. Es wurde beispielsweise dafür plädiert, den Kampf gegen den Klimawandel in die französische Verfassung aufzunehmen. Die Regierung hat die Vorschläge bisher jedoch nicht verwirklicht, und die hohen Erwartungen der Beteiligten wurden enttäuscht.

  1. Die Konferenz zur Zukunft Europas

Das dritte Beispiel einer neuen Form der Bürgerbeteiligung ist die gegenwärtig stattfindende Konferenz zur Zukunft Europas (2021-2022). Die Konferenz geht auf eine Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zurück, der in seiner Rede an der Sorbonne am 26. September 2017 für die intensive Beteiligung der Bürger an einer grundlegenden Erneuerung der EU plädierte. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sich im Europaparlament am 16. Juli 2019 für eine Konferenz zur Zukunft Europas aus: „Zunächst möchte ich, dass die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union eine führende und aktive Rolle dabei spielen, die Zukunft unserer Union zu gestalten. Ich will, dass sie bei einer Konferenz zur Zukunft Europas zu Wort kommen, die 2020 beginnen und sich über zwei Jahre erstrecken soll“.

Die Konferenz startete pandemiebedingt mit einem Jahr Verspätung am 9. Mai 2021 im Europaparlament in Straßburg. Die Debatten finden auf einer digitalen Plattform, in den nationalen Bürgerdialogen, den vier europäischen Bürgerforen und den Sitzungen des Konferenzplenums statt. 200 Bürgerinnen und Bürger wurden per Los aus den 27 EU-Mitgliedstaaten jeweils für die vier europäischen Bürgerforen ausgewählt. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, dass die soziale Vielfalt der EU repräsentiert und ein Drittel der Mitglieder zwischen 16 und 25 Jahren alt ist. Es ist geplant, die Arbeit der vier Foren bis Mitte Januar 2022 mit Empfehlungen abzuschließen. Diese Empfehlungen werden dann in den Plenarsitzungen der Konferenz im Februar und März 2022 beraten.

Die zentrale Innovation der europäischen Bürgerkonferenz besteht in dem direkten Austausch zwischen Repräsentierten und Repräsentanten. Im Plenum der Konferenz diskutieren nämlich Mitglieder des Europaparlamentes, der nationalen Parlamente, des Rates und der Kommission mit Vertretern der europäischen Bürgerforen, der nationalen Foren und des europäischen Jugendforums. Dieser direkte Austausch fehlte bei den europäischen Bürgerräten, die nach dem gescheiterten Verfassungsvertrag von Oktober 2006 bis Mai 2007 tagten. Damals haben 1.800 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zur Umweltpolitik, zur sozio-ökonomischen Lage von Familien und zur Rolle der EU in der Welt überzeugende und noch heute lesenswerte Empfehlungen entwickelt. Doch die Vorschläge spielten in der politischen Praxis keine Rolle. Das Dokument mit den Ergebnissen der „European Citizens‘ Consultations“ wurde der Kommission übergeben und zu den Akten gelegt. Die Enttäuschung bei den Bürgern war groß, hatten sie doch zu Recht eine praktische Relevanz ihres Engagements erwartet.

Dieses Mal wollen die europäischen Institutionen den Empfehlungen der Konferenz „Folge leisten“ und „rasch prüfen, wie ein effektives weiteres Vorgehen im Anschluss an den Bericht zu gestalten sein wird“. So steht es jedenfalls in der Gemeinsamen Erklärung von Europaparlament, Rat und Kommission vom 10. März 2021. Bisher ist das eine Zielsetzung, die an der Realität zu prüfen sein wird. Was sich aber jetzt schon beurteilen lässt, ist die Qualität der Debatten in den europäischen Bürgerforen. Als Beobachterin konnte ich an den drei Sitzungen des 2. Forums zum Thema „Demokratie in Europa/Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit“ teilnehmen. Die diskursive Qualität der Diskussionen in den Arbeitsgruppen mit 10-20 Personen war beeindruckend. Es ist es gelungen, eine gute Diskussionsatmosphäre zu schaffen, in der sich alle zu Wort meldeten und mit ihren Beiträgen aufeinander Bezug nahmen. In den Gesprächen wurde deutlich, wie sinnvoll es ist, das Erfahrungswissen der Bürger für politisches Handeln zu nutzen. So wollte es der Zufall, dass in einer Arbeitsgruppe zum Thema des Schutzes der Privatsphäre von Kindern und Jugendlichen bei der Nutzung sozialer Medien einige Teilnehmer beruflich mit Minderjährigen arbeiten und ihre besonderen Erfahrungen einbringen konnten. Solches Wissen erhöht die politische Urteilskraft.

Die Erfolgsbedingungen von Bürgerräten

Aus den bisherigen Erfahrungen lassen sich einige Erfolgsbedingungen der Bürgerräte, -konferenzen und -versammlungen ableiten. Entscheidend sind transparente Ziele und Verfahren, eine inklusive Repräsentativität, die deliberative Qualität, und die politische Effektivität der Beteiligung der Bürger. Und schließlich spielt die Aufmerksamkeit der Medien eine wichtige Rolle für den Erfolg der Bürgerräte. Die Empfehlungen der Bürgerräte müssen auch in einer größeren Öffentlichkeit, in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen sowie in den sozialen Medien diskutiert werden, um politisches Handeln wirksam zu beeinflussen.

Das Potential eines Bürgerrates für demokratisches Handeln liegt also in seinem Beitrag zu einer Rationalisierung politischer Machtausübung durch eine lebendige Öffentlichkeit begründet. „Am Nachlassen, in einigen Ländern fast schon am Versiegen dieser rationalisierenden Kraft der öffentlichen Auseinandersetzungen bemisst sich die politische Regression, in deren Sog seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts fast alle Demokratien des Westens geraten sind. Diese Abhängigkeit der problemlösenden Kraft einer Demokratie vom Fluss der deliberativen Politik beleuchtet (…) die zentrale Rolle der politischen Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas, Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit, Leviathan Sonderband 37, 2021, S. 479). Da es in einer fragmentierten Öffentlichkeit immer schwieriger wird, Diskurse zu organisieren, in denen Themen von allgemeinem Interesse und das bessere Argument eine Rolle spielen, könnten Bürgerräte ein Weg sein, die Rationalität politischen Handelns in repräsentativen Demokratien zu stärken.