Bürgerräte als legitime Gestaltungsoption
Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit entscheidungsbefugter Bürgerräte
Konsultative Bürgerräte haben Konjunktur und sind als Element der Partizipation bis in die Spitzenpolitik anschlussfähig geworden, wie die vom Bundestag initiierten Bürgerräte zeigen. Die Zustimmung schlägt aber regelmäßig in harsche Kritik um, sobald Bürgerräte mit eigenen Entscheidungskompetenzen ausgestattet werden sollen – wie etwa von der sog. „letzten Generation“ gefordert (dazu schon Karamehmedovic, Verfassungsblog, Alles auf Los).
Der zentrale Vorwurf lautet in aller Regel, derartige Vorschläge seien im Kern undemokratisch und verfassungswidrig. Diese Abwehrreaktion ist nicht überraschend, stellen die Vorschläge doch gezielt den institutionell-organisatorischen Status quo in Frage. Allerdings wird insbesondere der vorschnelle Rückzug auf verfassungsrechtliches Terrain der im Kern politischen Auseinandersetzung nicht gerecht. Dies gilt umso mehr, als sich die Behauptung weder auf einen entsprechenden Konsens in der Rechtswissenschaft stützen kann noch in der Sache überzeugt. Die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit von Bürgerräten mit Entscheidungsbefugnissen ist allenfalls im Entstehen begriffen und ihr Ausgang noch völlig offen. Sie dürfte perspektivisch an drei zentralen Konfliktlinien ausgefochten werden, wobei die besseren Argumente dafür sprechen, dass entscheidungsbefugte Bürgerräte im Grundsatz mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Erste Konfliktlinie: Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes
Das Grundgesetz legt die Bundesrepublik Deutschland in Art. 20 Abs. 1 GG auf die Staats- und Regierungsform der Demokratie fest. Als Staatsstrukturprinzip steht diese Festlegung unter dem Schutz der sog. Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG), ist also in ihrem Kernbereich der Disposition sogar des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen.
Doch schon bei der Frage, was den „unberührbaren“ Kernbereich der Demokratie ausmacht, sucht man vergeblich nach klaren Antworten. Ausgehend von einem „elektoral-repräsentativen Demokratieverständnis“ lässt sich argumentieren, Demokratie sei im Kern die durch Wahlen legitimierte parlamentarische Repräsentation des Volkes. Dieses Demokratieverständnis ist aber weder allgemeingültig noch historisch zwingend. Zu Recht weisen Befürworter von Bürgerräten darauf hin, dass in der „Wiege der Demokratie“ – dem antiken Athen – die meisten Staatsämter durch Zufallsverfahren besetzt wurden. Diese galten als genuin demokratisch, wohingegen Wahlen ein aristokratisches Element zugeschrieben wurde. Gerade aufgrund ihrer vielschichtigen, komplexen und teils widersprüchlichen (Ideen-)Geschichte gibt die Festlegung auf die „Demokratie“ in Art. 20 Abs. 1 GG also nicht ohne Weiteres Aufschluss über die Verfassungsmäßigkeit von Bürgerräten. Eine fundierte rechtliche Prüfung setzt die Definition eines konkret verfassungsrechtlichen Demokratiebegriffs voraus – hier liegt die erste zentrale Konfliktlinie der verfassungsrechtlichen Diskussion um Bürgerräte.
Ein gängiges Interpretationsmodell rekonstruiert das Demokratieprinzip unter Rückgriff auf einen Kanon unabdingbarer „Strukturelemente“ (so prototypisch Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, 3. Aufl., 2015, Art. 20 (Demokratie), Rn. 66; Art. 79 Abs. 3, Rn. 36). Da eine abstrakte Definition des Kernbereichs der Demokratie unmöglich sei, müsse sich der verfassungsrechtliche Schutz auf die für alle modernen Demokratien identitätsstiftenden Wesensmerkmale beziehen – wie etwa das Mehrheitsprinzip. Dieser Ansatz entpuppt sich bei näherer Betrachtung aber als Hütchenspieler-Trick. Denn er löst das Definitionsproblem nicht, sondern verlagert es nur. Schließlich ist auch der Kanon identitätsstiftender Merkmale keineswegs eindeutig und seine Bestimmung erfolgt immer ausgehend von einem bestimmten Vorverständnis. Vor allem aber führt diese Interpretation zu einer Ineinssetzung des Prinzips der Demokratie an sich mit dessen Konkretisierungen, auf deren Bestimmung Art. 20 Abs. 1 GG gerade verzichtet. Das war historisch weder intendiert noch ist es verfassungstheoretisch überzeugend.
Überzeugender ist es deshalb, das Demokratieprinzip inhaltlich auf die zentrale historische Konstante der Demokratiegeschichte zurückzuführen: das Ideal einer Herrschaft der Freien und Gleichen. Dies gelingt durch eine Rekonstruktion des Demokratieprinzips als entwicklungsoffenes Rechtsprinzip. Dessen Regelungsgehalt besteht in der Zielvorgabe, der demokratischen Freiheit und Gleichheit aller Bürgerinnen möglichst umfassend Wirkung zu verleihen (wegweisend Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 249 ff.).
An diesem Maßstab gemessen sind geloste Bürgerräte mit dem Demokratieprinzip vereinbar (ausführlich Berger, Grundgesetz und aleatorische Demokratie, 2024, S. 348 ff.). Denn Bürgerräte und Losverfahren sind erkennbar darauf ausgerichtet und nach ihrer Wirkungsweise auch dazu geeignet, die demokratische Freiheit und Gleichheit der Bürger zu verwirklichen. Ihre Stärke besteht darin, die Freiheitsausübung in Form einer substantiellen Beteiligung an der Willensbildung zu ermöglichen und die Chance darauf gleichmäßig zu verteilen. Damit verleihen Bürgerräte der demokratischen Freiheit und Gleichheit zwar in gänzlich anderer, aber ebenso zulässiger Form Wirkung wie gewählte Parlamente. An die Stelle der für Wahlen charakteristischen Allgemeinheit und formalen Gleichheit tritt die Gleichheit der Chance zur substantiellen Beteiligung.
Zweite Konfliktlinie: Die Ausübungsmodi der Staatsgewalt
Die zweite für die Zulässigkeit von Bürgerräten entscheidende Konfliktlinie betrifft die Modi der Ausübung von Staatsgewalt. Sie sind im Grundgesetz verbindlich und abschließend in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG festgelegt, der bestimmt: „Sie [die Staatsgewalt] wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Einen Hinweis auf Losverfahren sucht man hier vergebens. Dennoch fügen sich geloste Bürgerräte als „besondere Organe der Gesetzgebung“ letztlich problemlos in den Kanon der Ausübungsmodi ein.
Dieser Einordnung wird teils mit dem Argument widersprochen, sie umgehe unzulässig die grundgesetzlichen Bindungen. Da Losverfahren kein vorgesehener Ausübungsmodus der Staatsgewalt seien, könnten geloste Bürgerräte auch keine „besonderen Organe“ im Sinne des Grundgesetzes sein. Konsequent verfolgt hätte diese Argumentation zur Folge, dass nur unmittelbar vom Volk gewählte Organe als „besondere Organe“ Staatsgewalt ausüben dürften. Damit dürfte sie ihre Befürworter in massive Erklärungsnot bringen. Denn es ließe sich dann kaum begründen, warum die Mitglieder des Bundesrats sowie die Bundesminister Staatsgewalt ausüben dürfen – schließlich werden sie nicht vom Volk gewählt (Berger, Grundgesetz und aleatorische Demokratie, 2024, S. 336 f.). Hier wird deutlich, dass es für die Einordnung als „besonderes Organ“ nicht auf dessen unmittelbare Besetzung durch Wahlen ankommt, sondern auf eine insgesamt hinreichende demokratische Legitimation.
Dritte Konfliktlinie: Die demokratische Legitimation der Staatsgewalt
Im Grundgesetz findet die demokratische Legitimation ihren normativen Anknüpfungspunkt in der ebenfalls „ewigkeitsfesten“ Bestimmung des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG. Dieser besagt so knapp wie fundamental: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Verbindlich festgelegt werden damit das Legitimationssubjekt (Volk), das Legitimationsobjekt (Staatsgewalt) und das Erfordernis einer zwischen ihnen bestehenden Legitimationsbeziehung. Weitere Vorgaben zu deren Ausgestaltung fehlen allerdings – hier liegt die letzte zentrale Konfliktlinie in der verfassungsrechtlichen Diskussion um entscheidungsbefugte Bürgerräte.
Die nachkriegsdeutsche Staatsrechtslehre und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war über Jahrzehnte von einem Legitimationsverständnis geprägt, das sich als „klassisch-monistisch“ beschreiben lässt (prototypisch BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1995 – 2 BvF 1/92). In dessen Zentrum steht das Parlament als unmittelbar durch Wahlen vom Volk legitimiertes Staatsorgan, von dem sich die Legitimation aller weiteren Organe ableitet. Sie wird danach im Wesentlichen als „sachlich-inhaltliche Legitimation“ durch die Bindung an die Entscheidungen des Parlaments und als „personell-organisatorische Legitimation“ durch die von ihm ausgehenden Einsetzungs- und Weisungszusammenhänge vermittelt. Letztere sind nach diesem Verständnis besonders bedeutend und nicht substituierbar.
Dieses einst hegemoniale Legitimationsverständnis wird zunehmend in Frage gestellt und Alternativkonzepte, die sich als „pluralistische Legitimationskonzepte“ zusammenfassen lassen, finden vermehrt Zuspruch (vgl. Berger, Grundgesetz und aleatorische Demokratie, 2024, S. 235 f., 271 ff.). Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist die überzeugende Kritik, der klassisch-monistischen Legitimationskonzeption lägen ein überkommenes Ideal parlamentarischer Repräsentation sowie ein zu formalistisches und damit unterkomplexes Legitimationsverständnis zugrunde. Folgerichtig plädieren sie – mit erheblichen Unterschieden in den Details – für eine Öffnung des Kanons der Legitimationsmodi sowie für eine Flexibilisierung ihrer Handhabung.
Bemerkenswert ist, dass das Bundesverfassungsgericht schon vor über 20 Jahren in einer Entscheidung zur funktionellen Selbstverwaltung von Wasserverbänden (BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2002 – 2 BvL 5/98 und 2 BvL 6/98) von seiner zuvor klassisch-monistisch geprägten Rechtsprechung abgewichen ist und sich pluralistischen Ansätzen angenähert hat. Wohl nicht zufällig deren Terminologie und Argumentation aufgreifend, hat das Gericht das Demokratieprinzip als aufgrund „seines Prinzipiencharakters (…) entwicklungsoffen“ rekonstruiert und sich für eine flexiblere Handhabung der Legitimationsmodi ausgesprochen. Es hat allerdings darauf verzichtet, sein Legitimationsverständnis und die daraus resultierenden Anforderungen im Einzelnen auszubuchstabieren.
Gerade hier liegt aber die entscheidende Herausforderung pluralistischer Legitimationskonzepte. Denn ohne ein übergeordnetes Ordnungskonzept laufen sie Gefahr, jeder irgendwie wünschenswerten Eigenschaft einen Legitimationswert beizumessen und dadurch beliebig zu werden. Dieser Gefahr lässt sich indes systematisch schlüssig und verfassungstheoretisch überzeugend begegnen, indem die übergeordnete Zielvorgabe des Demokratieprinzips als Ordnungsprinzip für die Konkretisierung herangezogen wird. Vor diesem Hintergrund wirken alle – aber auch nur solche – institutionell-organisatorischen Mechanismen und Sicherungen legitimationsstiftend, die zur Verwirklichung der Freiheit und Gleichheit aller Bürgerinnen in den staatlichen Organisationsstrukturen beitragen.
So wird auch die besondere Bedeutung der personell-organisatorischen und sachlich-inhaltlichen Legitimation erklärbar. Beide sind von entscheidender Bedeutung dafür, den in der Wahl – als zentralem Ausdruck demokratischer Freiheit – manifestierten Willen der Bürger in die nachgelagerten Organisationsstrukturen zu überführen. Gleichzeitig werden aber auch die legitimatorischen Potenziale anderer Mechanismen und Eigenschaften ersichtlich. Dies gilt insbesondere für die Fähigkeit eines Systems, gesellschaftliche Pluralität abzubilden und gute Deliberationsbedingungen zu schaffen – also die bestehende Meinungsvielfalt produktiv in den Willensbildungsprozess zu überführen. Beides trägt dazu bei, unterschiedliche Positionen effektiv in die Organisations- und Entscheidungsstrukturen zu übersetzen.
Hinsichtlich der demokratischen Legitimation von Bürgerräten ergibt sich damit folgendes Bild (umfassend Berger, Grundgesetz und aleatorische Demokratie, 2024, S. 351 ff.): Soweit sie vom Parlament initiiert würden, könnten sie ein hohes Maß an personell-organisatorischer Einsetzungslegitimation für sich in Anspruch nehmen. Die Entscheidung für Losverfahren als Besetzungsverfahren unterbräche den personell-organisatorischen Legitimationszusammenhang nicht etwa, sondern wäre ein legitimes Mittel zu dessen Ausgestaltung. Auch ein hohes Maß an abgeleiteter sachlich-inhaltlicher Legitimation ließe sich erreichen, wenn Inhalt und Grenzen der Entscheidungsbefugnisse klar definiert würden. Neben dieser abgeleiteten Legitimation könnten Bürgerräte auch auf eigene Legitimationspotenziale zugreifen. Denn bei gelungener Umsetzung wären sie wohl besser als gewählte Parlamente geeignet, gesellschaftliche Pluralität abzubilden und diese dank guter Deliberationsbedingungen auch effektiv in den Entscheidungsprozess zu überführen.
Das daraus resultierende hohe Legitimationsniveau von Bürgerräten spricht dafür, dass deren Einführung und Ausstattung mit eigenen Entscheidungskompetenzen verfassungsrechtlich zulässig wäre. Hierfür bedürfte es aber zwingend einer entsprechenden Regelung im Grundgesetz. Eine solche wäre zur Änderung des Gesetzgebungsverfahrens ohnehin erforderlich; sie wäre aber auch als verfassungsrechtliches Fundament für den erheblichen Eingriff in das staatsorganisatorische Gesamtgefüge unbedingt geboten.
Bei alldem darf außerdem nicht übersehen werden, dass Bürgerräte selbst unter Ausschöpfung aller Legitimationspotenziale letztlich schlechter demokratisch legitimiert wären als gewählte Parlamente. Denn ihnen fehlt das für die fortwirkende Verwirklichung demokratischer Freiheit und Gleichheit entscheidende Element der „Rückkopplung“ an das Volk, das in wahlbasierten Systemen in der Möglichkeit zur Abwahl besteht. Aus diesem legitimatorischen Minus folgen zwingende Grenzen für die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen. Insbesondere dürfte die herausgehobene Rolle des gewählten Parlaments nicht grundlegend in Frage gestellt werden. Dieses müsste stets in der Lage bleiben, den Bürgerräten die übertragenen Kompetenzen wieder zu entziehen und sie – auch zu seinen eigenen Gunsten – zu reorganisieren. Viel spricht außerdem dafür, dass auch Kompetenzen im Bereich des formellen Verfassungsrechts nicht übertragen werden dürften. Als grundlegendste gesetzliche Regelungsmaterie steht es unter einem besonderen Schutz. An seine Änderung sind deshalb höchste Legitimationsanforderungen zu stellen.
Florett statt Keule
Insgesamt sprechen die besseren Argumente dafür, dass Bürgerräte mit dem Grundgesetz vereinbar sind und es eine verfassungsrechtlich legitime Gestaltungsoption wäre, ihnen eigene Entscheidungskompetenzen zu übertragen. Naheliegend wäre dies zum Beispiel, wo genuine Eigeninteressen des Parlaments betroffen sind und deshalb Interessenkonflikte bestehen – etwa bei der Parteienfinanzierung oder dem Wahlrecht. In diesen Bereichen könnten beispielsweise Gesetzgebungskompetenzen an einen verfassungsrechtlich abgesicherten Bürgerrat übertragen und zugleich durch verbindliche materielle Rahmenvorgaben determiniert und begrenzt werden.
Die „ewigkeitsfesten“ Vorgaben des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG bestimmen insoweit klare Anforderungen und Grenzen, eröffnen aber zugleich einen weiten Gestaltungsspielraum. Auch das Bundesverfassungsgericht hat schon vor über 20 Jahren die Tür für diese Interpretation mit seiner veränderten Rechtsprechung zur demokratischen Legitimation mehr als nur einen Spalt breit geöffnet. Ob es im Ernstfall tatsächlich hindurchtreten würde, bleibt abzuwarten.
Insgesamt sollte diese verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme aber dazu ermutigen, die Diskussion um Bürgerräte bis auf Weiteres als das zu führen, was sie in ihrem Kern ist: eine politische Auseinandersetzung über gesellschaftliche Ideale, demokratische Institutionen und Macht. Eine ernsthafte und möglichst breite Debatte über die Zukunft der Demokratie und die Rolle von Bürgerräten darin scheint in Anbetracht der sich abzeichnenden Legitimations– und Akzeptanzkrise des demokratischen Status quo auch mehr denn je erforderlich. Um ihr produktives Potenzial voll zu entfalten, sollte sie möglichst kontrovers und offen ausgefochten werden – mit dem Florett politischer Argumente und nicht der Keule der vermeintlichen Verfassungswidrigkeit. En garde!