Grundpfeiler eines Rahmengesetzes für konsultative Bürgerräte
Während Philip Berger sich in seinem Beitrag mit Fragen zur Zulässigkeit losbasierter Entscheidungs- und Willensbildungsstrukturen anhand änderungsfester Grenzen des Demokratieprinzips befasst, wollen wir Eckpfeiler für ein Rahmengesetz vorschlagen, das den Einsatz konsultativer Bürgerräte auf Bundesebene normiert. Rahmenregelungen zu Initiativrecht, Themenfindung und Zusammensetzung erleichtern die Integration von Bürgerräten in parlamentarische Abläufe und tragen zu der mit ihnen bezweckten Rückkopplung zwischen Bevölkerung und Parlament in Einzelfragen einerseits, und der Befriedung gesellschaftlich kontrovers diskutierter Themen andererseits bei.
Rahmengesetz für Bürgerräte auf Bundesebene
Unter konsultativen Bürgerräten werden im Folgenden Gremien verstanden, deren Teilnehmende per stratifiziertem Losverfahren bestimmt werden und die Legislative oder Exekutive durch Bürgergutachten oder Stellungnahmen beraten. Die grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit solcher Gremien ist Voraussetzung für die hier erörterten Möglichkeiten ihrer einfachgesetzlichen Normierung. Sie hängt zu großen Teilen von der konkreten Ausgestaltung der Anbindung an legislative Entscheidungsprozesse ab (pauschal gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit konsultativer Bürgerräte Friehe, ZParl 55 (2024), 263 (273)). Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Normierung von Rahmenvorschriften zu Einsetzungsrecht, Zusammensetzung und Themenfindung von Bürgerräten auf Bundesebene in einem formellen Gesetz. Diese Regelungsform hat dabei Vorteile sowohl gegenüber einer Einsetzung per Bundestagsbeschluss als auch gegenüber einer Regelung in der Geschäftsordnung des Bundestags.
Aus einer rechtspolitischen Perspektive spricht für eine gesetzliche Regelung, dass sie insbesondere vor dem Hintergrund des Erstarkens populistischer und rechtsextremer Kräfte in den Parlamenten deren Missbrauch als bloßes politisches Druckmittel auf den parlamentarischen Prozess verhindern kann. Eine gesetzliche Regelung kann auch generell die Qualität des Beteiligungsinstruments sichern. Durch eine längerfristige Verankerung von Qualitätsstandards, an die nicht nur (bis zu einer Änderung des Gesetzes) wechselnde parlamentarische Mehrheiten, sondern insbesondere auch die Bundesregierung gebunden ist, wird dem Eindruck entgegengewirkt, dass Bürgerräte als „legitimatorisches Feigenblatt“ nur dem „Abnicken“ bereits gefällter Entscheidungen dienen (zu dieser Kritik an einem österreichischen Bürgerrat vgl. Clar, Omann und Scherhaufer, 2023, S. 270 ff. sowie Ehs und Praprotnik, 2022). Schließlich bietet ein Gesetz auch die richtige Form zur Regelung potenziell grundrechtssensibler Verfahrensfragen.
Verfassungsrechtlich ist hierzu festzustellen, dass der Gesetzgeber Parlamentsrecht nur unter bestimmten Voraussetzungen in Gesetzesform regeln kann, insbesondere müssen gewichtige sachliche Gründe für die Wahl der Gesetzesform sprechen (BVerfGE 130, 318 (349), Fortsetzung von BVerfGE 70, 324 (361)). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist im Einzelfall zu prüfen. Wir gehen hinsichtlich des Vorliegens gewichtiger sachlicher Gründe davon aus, dass die Notwendigkeit einer einheitlichen Verfahrensregelung, um einen politischen Missbrauch des Instruments zu verhindern, einen hinreichend gewichtigen Grund darstellt.
Initiativrecht und Themensetzung
In staatsorganisationsrechtlicher Hinsicht wirft die Regelung des Initiativrechts die Frage auf, ob durch die Möglichkeit der Initiierung eines Bürgerrats durch bestimmte Verfassungsorgane die Rechte bestehender Verfassungsorgane derart beeinträchtigt werden, dass eine grundlegende Verschiebung im Gefüge der Verfassungsorgane stattfindet. Dabei hat nicht nur die gesetzliche Regelung selber, sondern auch die Kommunikation des normativen Rahmens an die Bevölkerung einen Einfluss auf die tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen den Verfassungsorganen: Wird der Bürgerrat als eine statistische Repräsentation der Bevölkerung mit einer aufgrund dessen eigenständigen demokratischen Legitimation beworben und mit entsprechenden Rechten ausgestattet, so rückt er in seiner Funktion und deren öffentlicher Wahrnehmung in die Nähe eines eigenständigen Verfassungsorgans (siehe Stein, DMPs in der Demokratie des Grundgesetzes, S. 444). Es muss daher von Beginn an normativ und kommunikativ jeder Zweifel daran ausgeräumt werden, dass Bürgerräte lediglich eine beratende Funktion haben (Fischer-Bollin (Hrsg.), Zukunftsmodell Bürgerrat, S. 45).
Der bisher einzige staatlich initiierte Bürgerrat auf Bundesebene zum Thema Ernährung wurde vom Bundestag per Beschluss eingesetzt. Ein Rahmengesetz für Bürgerräte könnte alternativ oder zusätzlich zu dieser Möglichkeit auch ein Initiativrecht für den Bundesrat oder die Bundesregierung vorsehen. Das Initiativrecht könnte außerdem als Minderheitsrecht der Opposition vorbehalten bleiben. Denkbar wäre zwar auch eine Initiierung durch die Bevölkerung, beispielsweise durch Volksinitiativen. Da diese aber inkompatibel mit einem Verständnis des Bürgerrats als rein konsultativem Instrument für bestehende Staatsorgane ist, soll sie hier nicht thematisiert werden. Nicht empfehlenswert wäre ein Initiativrecht des Bundesrates, weil diesem bei gleichzeitiger Normierung einer Befassungspflicht ein unzulässiger Einfluss auf die Organisation der Geschäfte des Bundestags eröffnet würde. Gegen ein Initiativrecht der Bundesregierung spricht die Möglichkeit, dass diese die Einsetzung eines Bürgerrats als „Gegen-Parlament“ mit „echter“ Repräsentation und entsprechender Legitimation kommunizieren und damit zur Unterminierung der genuin parlamentarischen Willensbildung missbrauchen könnte. Zwar ist davon auszugehen, dass die Mehrheit im Parlament auch die Regierung stellt, sodass in vielen Fällen kein Unterschied im Ergebnis bestehen dürfte. Allerdings können sich gerade in Zeiten unsicherer Mehrheitsverhältnisse auch innerhalb der Koalitionsfraktion unterschiedliche Meinungen zu verschiedenen Parametern der Einsetzung (Zeitpunkt, Themenwahl) bilden, die dann auch in der parlamentarischen Diskussion geklärt werden sollten. Zudem verhindert die alleinige Möglichkeit der parlamentarischen Einsetzung von vornherein, dass Bürgerräte als Machtmittel der Bundesregierung kritisiert werden. Ein Initiativrecht der Parlamentsminderheit würde ihr die Möglichkeit eröffnen, Themen eine erheblich größere Bedeutung zukommen zu lassen, als das beispielsweise mit einer Gesetzesvorlage möglich wäre, da mit der Durchführung eines Bürgerrats notwendigerweise ein erheblicher Ressourcen- und Zeitaufwand einhergeht. Ohne eine zusätzliche Begrenzung könnte die Minderheit allerdings hiermit den parlamentarischen Prozess obstruieren oder sogar aufhalten – insbesondere in Konstellationen mit einer starken und einheitlichen politischen Opposition könnte dies zu Problemen führen.
Teilweise wird vorgeschlagen, das Initiativrecht im Parlament dem Ältestenrat zu überlassen, da das der „Rolle“ des Bürgerrats entspreche und dessen Entpolitisierung diene (Ziekow, Rechtsgutachten, S. 68). Hiergegen spricht, dass gerade die politisch umstrittensten Fragen nach dem „ob“ einer Einsetzung und der Festlegung des Themenfelds zumindest in einem Ausschuss, wenn nicht sogar im Plenum, diskutiert werden sollten. Die Befassung des parlamentarischen Plenums mit diesen Fragen entspricht einem typischen Ziel der Einsetzung von Bürgerräten, der Wiederherstellung von Vertrauen in den politischen Prozess. In diesem Zuge kann auch öffentlich deutlich gemacht werden, dass relevante Fragen nicht einfach an den Bürgerrat abgegeben werden, um politische Verantwortung zu verlagern. Für einen Ausschuss spricht zudem, dass für deren Zusammensetzung das Prinzip der Spiegelbildlichkeit im Gegensatz zum Ältestenrat in vollem Umfang gilt (Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 40 GG Rn. 158 mVa BVerfGE 96, 264 (280)).
Eng verbunden mit der Regelung des Initiativrechts ist die Frage, von wem und auf welche Weise das Thema festgelegt wird. Hier kann unterschieden werden zwischen der Festlegung eines Themenfeldes (z.B. Ernährung oder Verkehr) und der Festlegung der konkreten thematischen Fragestellung (z.B. Essen in Schulkantinen oder Ausstieg aus dem Verbrennermotor). Es entspricht dem konsultativen Charakter des Bürgerrats, zumindest das Themenfeld nicht durch dessen Teilnehmende selbst festlegen zu lassen. Wird das Themenfeld demnach im Beschluss des Bundestags selber festgelegt, sollte das Thema dann in weiteren Schritten in Zusammenarbeit von Bundestag und Bürgerrat konkretisiert werden.
Zusammensetzung und Quoten
Die legitimatorische Relevanz von Bürgerräten besteht nicht in der Abschöpfung von Bürgerwissen, sondern in der politischen Willensbildung eines Gremiums mit dem Anspruch, ein möglichst statistisch repräsentatives Abbild der Bevölkerung zu sein (siehe Stein, DMPs in der Demokratie des Grundgesetzes, S. 177). Die Auswahl der Teilnehmenden per Zufall bezweckt die Erzeugung eines solchen Abbilds auf möglichst unparteiische Weise und ohne die Definition zu berücksichtigender Merkmale. Weil Bevölkerungsgruppen jedoch in der Regel mit ungleicher Häufigkeit auf die Einladung zur Teilnahme antworten, kommt es zu einer Verzerrung der Gleichverteilung, die sich aus dem reinen Losverfahren ergibt (sog. Selbstselektionsverzerrung). Quoten auf bestimmte Merkmale können eingeführt werden, um diese Verzerrung zu korrigieren.
Als de facto Verfahrensstandard hat sich etabliert, zuerst eine deutlich größere Zahl an Personen zur möglichen Teilnahme am Bürgerrat einzuladen bzw. aufzufordern (bspw. etwa 20.000 Personen beim Bürgerrat Ernährung) und zur Angabe ihrer Merkmale bezüglich relevanter Kriterien aufzufordern. Erst in einem zweiten Schritt werden aus den Rückmeldungen zufällig die finalen Teilnehmer:innen des Bürgerrats ausgelost, wobei bei dieser finalen Auslosung die Erfüllung der gesetzten Quoten sichergestellt wird. Solche Quoten können nicht dieselbe statistische Signifikanz wie bei einer Umfrage oder einer statistischen Erhebung erreichen (vergangene Bürgerräte hatten in Deutschland bis zu 160 und international bis zu 300 Teilnehmer:innen), sondern können lediglich zu einer Verbesserung des Repräsentationsgrads beitragen. Trotz dieser Einschränkungen ist die Verwendung von Quoten zur Abschwächung der Selbstselektionsverzerrung und zur Qualitätssicherung deliberativer Verfahren allgemein anerkannt. Die Kernfrage ist deshalb, nach welchem Maßstab Quoten für die Besetzung des Bürgerrats gebildet werden. Neben einer Anknüpfung an demografische Unterscheidungsmerkmale wird auch eine „funktionale Typisierung“ vorgeschlagen, bei der die Differenzierung an gesellschaftliche Interessenlagen in Bezug auf das konkrete Thema anknüpft (Böhm/Kersten, DÖV 2023, 361 (370)).
Eine gesetzliche Annäherung an ein Quotenkonzept findet sich in § 2 Abs. 5 des Baden-Württembergischen Gesetzes über dialogische Bürgerbeteiligung (DBG BW), der eine Anknüpfung allein an den Katalog der in § 34 BMG genannten Merkmale vorsieht und ausdrücklich klarstellt, dass diese Anknüpfung keine gleichheitswidrige Diskriminierung darstellen soll. Abgesehen davon, dass dieser einfachgesetzlichen Wertung kein verfassungsrechtlicher Gehalt zukommt, entsprechen die in § 34 BMG genannten Kriterien nicht vollständig einer etablierten Verfahrenspraxis, nach der die folgenden Merkmale zu berücksichtigen sind: Geschlecht, Alter, Bildungsstand (als sozioökonomischer Indikator) und Größenklasse der Gemeinde des Wohnsitzes (als Indikator für den Grad der Urbanisierung), sowie das Bundesland des Wohnsitzes.
Eine themenbezogene Quote soll grundsätzlich sicherstellen, dass die Meinungsverteilung im Bürgerrat derjenigen in der Bevölkerung entspricht. Sie setzt voraus, dass die Teilnehmer:innen zu ihrer Einstellung oder ihrem Verhalten befragt werden. Auch dieser Befragung liegen Kriterien zugrunde, nach denen in Bezug auf das Thema differenziert werden soll. Im Bürgerrat Ernährung war dieses Kriterium die Ernährungsgewohnheit (regelmäßiger Verzehr von Fleisch oder vegetarische oder vegane Ernährung). Eine Orientierung an gesellschaftlich besonders kontrovers diskutierten Fragestellungen (deren Relevanz bzw. Kontroversität demoskopisch festgestellt werden müsste) erscheint auf den ersten Blick sinnvoll. Es stellt sich jedoch die Frage, ob auf diese Weise nicht andere, ebenso grundlegende Unterscheidungen vernachlässigt werden. So hätte man beispielsweise hinsichtlich der Ernährungsgewohnheiten ebenso gut zwischen Personen, die ausschließlich regionale Produkte kaufen, und solchen, für die die Herkunft ihrer Nahrungsmittel eine untergeordnete Rolle spielt, unterscheiden können. In der Praxis wird diese Frage dadurch gelöst, dass eine Orientierung an sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen zu gesellschaftlich besonders relevanten Meinungs- bzw. Verhaltensunterschieden erfolgt.
Ist das Ziel eines Bürgerrates die möglichst unparteiische Abbildung der Bevölkerung, so wäre eine beabsichtigte Über- oder Unterrepräsentation von Bevölkerungsgruppen mit diesem Ziel unvereinbar und könnte zur Delegitimierung des Instruments beitragen. Formen der Beteiligung, die bestimmte Bevölkerungsgruppen gezielt ansprechen sollen, haben ihre Berechtigung und können nichtproportionale Quoten enthalten — sowohl demografische Quoten (z.B. Altersbeschränkung bei Jugendbeteiligung) als auch themenbezogene Quoten (z.B. Überrepräsentation besonders betroffener Bevölkerungsgruppen wie etwa Auto- oder Fahrradfahrende bei Mobilitätsthemen). Eine begriffliche Abgrenzung vom Begriff „Bürgerrat“ und entsprechende begleitende Kommunikation sind bei diesen Beteiligungsformen jedoch wichtig, um die Verwechselung der unterschiedlichen Ziele dieser Instrumente zu vermeiden.
Schließlich stellt sich die Frage, ob und wie Quoten einer allgemeinen Normierung zugänglich sind. Es erscheint schwer, einen abstrakten Maßstab zur inhaltlichen Festlegung themenbezogener Quoten zu bilden. Die Festlegung der Quoten unterliegt daher notwendigerweise bei jeder Neuinitiierung der politischen Diskussion, die ihre Grenzen nur darin findet, dass eine Orientierung an sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen (s.o.) erfolgen muss. Der Normierung zugänglich ist hingegen der Ausschluss oder die Beschränkung nicht-proportionaler Quoten. Auf diese Weise werden konsultative Bürgerräte von anderen Formen der Bürgerbeteiligung abgegrenzt. So wird auch dem politischen Missbrauch des unparteiisch intendierten Instruments durch gezielte Überrepräsentation politischer Meinungen vorgebeugt und letztlich das Vertrauen in das Instrument konsultativer Bürgerräte gestärkt.
Für die Normierung in einem Rahmengesetz eignen sich hierneben allein demografische Unterscheidungsmerkmale. Die inhaltliche Festlegung themenbezogener Quoten muss dann im Einsetzungsbeschluss des Bundestags erfolgen. Sobald ein demografisches (vgl. die in § 34 Abs. 1 BMG genannten Merkmale wie etwa Namen (Nr. 1-4) oder ein ausländischer Geburtsort (Nr. 6)) oder ein themenbezogenes Merkmal an ein gemäß Art. 3 Abs. 3 GG verpöntes Merkmal anknüpft, bedarf es hierfür außerdem einer Rechtfertigung durch die Verwirklichung eines kollidierenden Verfassungsguts (näher Böhm/Kersten, DÖV 2023, 361 (363 ff.)).
Ein ausfüllungsbedürftiger Rahmen
Ein Rahmengesetz für Bürgerräte auf Bundesebene sichert deren Qualität und stärkt das Vertrauen in ihre Funktion als Ergänzung, nicht aber Substitution des parlamentarischen Prozesses. Es muss allerdings Raum für themenbezogene Anpassungsmöglichkeiten lassen.