22 May 2025

Fasten für den Überfluss?

Die Abundance-Agenda in den Vereinigten Staaten

In den Vereinigten Staaten haben die Journalisten Ezra Klein (New York Times) und Derek Thompson (The Atlantic) nach jahrelangen publizistischen Vorarbeiten mit ihrem Buch „Abundance“ eine Kritik des gegenwärtigen amerikanischen Verwaltungsstaats mit einem Aufruf für einen Spurwechsel linker Politik verbunden. Während Elon Musks Department of Government Efficiency (DOGE) am Rückbau der Bundesverwaltung arbeitet, wollen die beiden Journalisten sie neu aufstellen. Sie werben dafür, linke Politik, konkret der Demokratischen Partei, auf den titelgebenden Überfluss auszurichten: mehr Wohnen, mehr Energie, mehr öffentliche Forschung. Statt auf Kultur- oder Verteilungsfragen legen sie einen Schwerpunkt auf das Versprechen eines materiell besseren Lebens durch Technik. Eigentlich ein altes linkes Ideal: Das Mittel ist wie damals ein Staat, der viel schafft. Die beste Kurzfassung des Programms ist die Überschrift eines New York TimesArtikels von Klein aus dem Jahr 2022, mit dem auch das Buch endet: A Liberalism That Builds. Schon weil wir in der Bundesrepublik ähnliche Probleme, aber keine vergleichbare Methodenkritik haben, lohnt ein Blick nach Übersee.

Bürokratiekritik von links

Der amerikanischen Gegenwart diagnostizieren Klein und Thompson eine Knappheit bei essenziellen Gütern der Daseinsvorsorge, beispielgesättigt und mit zahlreichen Nachweisen. Während Konsumgüter billig seien, fehle es an den wichtigen Dingen: „We have a startling abundance of the foods that fill a house and a shortage of what’s needed to build a good life“. Es gebe zu wenig bezahlbaren Wohnraum, es fehle an öffentlicher Verkehrsinfrastruktur, die Wissenschaft (und damit Fortschritt für alle) leide an der Drittmittelbürokratie. Dieser Zustand steht in einem offenkundigen Missverhältnis zum unbestreitbaren technischen Fortschritt: Während das meiste immer leichter und schneller geht, scheint der Staat heute schwergängiger als früher. Woran liegt das?

Den Grund sehen die Autoren in einer Überregulierung, welche den Staat daran hindert, die genannten Güter bereitzustellen. Thompson und Klein kleiden ihr Buch zwar am Anfang und Ende mit dem Versprechen von materieller Fülle – eben der titelgebenden Abundance – hoffnungsvoll ein, den Inhalt des Buches bestimmt die detaillierte Beschreibung von Missständen, die durch schlechte Regelsetzung und Verwaltung entstehen. Das Buch ist damit das Centerpiece eines Projekts, für das nicht nur die Autoren, sondern eine Gruppe aus linksliberalen Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern steht. Thompson und Klein formulieren mit dem Versprechen von Abundance ein positives Etikett für deren hartes Programm der Selbstkritik: Viele Probleme der amerikanischen Gegenwart hätten ihren Grund in einer unreflektierten Überregulierung, mit der linke Politik ihre eigenen Politikziele hindere.

In das gleiche Horn stößt Marc J. Dunkelmann (Universität Brown) mit seinem ebenfalls 2025 erschienenen BuchWhy Nothing Works“. Darin beschreibt er die Kosten eines seit den 70er-Jahren übermäßig ausgebauten Systems aus Verfahrensrechten, Klagemöglichkeiten und Verhinderungsregulierung, vor allem zum Umweltschutz. Ähnlich Nicholas Bagley (Universität Michigan), der schon 2019 mit seinem einflussreichen Aufsatz „The Procedure Fetish“ die Verfahrensfixierung des amerikanischen Verwaltungsrechts kritisierte. Es ist die Kritik der Schattenseiten einer Linken, die sich ab den 70er-Jahren vor allem um individuelle Rechte statt materiellen Fortschritt gekümmert hat. Drittschutz gegen Bauprojekte sind ein Beispiel dafür, dass beides in Widerspruch geraten kann: Der auf beiden Seiten des Atlantiks mühsame Ausbau erneuerbarer Energien ist das bekannteste Beispiel, bei dem ungewohnte Zielkonflikte entstehen.

Klein und Thompson identifizieren ein Set aus Politiken, die legitime Reaktionen auf die Probleme des New Deals gewesen seien: Wachstum um jeden Preis, Autofixierung, Umweltverschmutzung, dazu wenig Möglichkeiten des Einzelnen, sich gegen die Verwaltung zu wehren. Diese Gegenbewegung erzeuge nun aber selbst Probleme. Das Planungsrecht und die Umweltgesetze der 70er Jahre, konkret die Umweltverträglichkeitsprüfung, seien ein mächtiges Instrument geworden, um Infrastrukturvorhaben zu erschweren. Ein zentrales Beispiel der Autoren ist das jahrzehntelange Scheitern Kaliforniens, einen Schnellzug zwischen L.A. und San Francisco zu errichten. Im Morast der Regeln, der öffentlichen Pflichten und privaten Rechten war kein Durchkommen. Und linksliberale Politik lege immer weitere Regel-Schichten über Vorhaben: In den letzten Jahren sei der Mitteleinsatz nicht nur durch die überkommenen Regularien erschwert worden, sondern auch durch ein aufgesatteltes identitätspolitisches Pflichtenheft – etwa identitätspolitische Quoten für Bau- oder asiatische Chip-Unternehmen. Hinzu komme die Vorstellung, dass Ziele schon durch die Verausgabung von Mitteln erreicht würden, ohne die Zielerreichung angemessen zu überprüfen.

Diese Kritik des Verwaltungsstaats ist nah an der von rechts. Die Abundance-Bewegung ist eine linke Ausprägung einer parteiübergreifenden Unzufriedenheit mit der amerikanischen Verwaltung, die auch die politische Rechte umtreibt: Elon Musks DOGE ist der Versuch von rechts und mit rabiateren Mitteln, Bürokratie einzudämmen und abzubauen. Zugleich ist der beklagte Regelzuwachs Produkt einer „neoliberalen” Prägung, die beide großen politischen Lager prägte: Bei Steve Teles wird deutlich, dass minoritäre Entscheidungsstrukturen oft das Ergebnis linksliberaler Politik sind. Es ist kein Zufall, dass postliberale Theorien regelmäßig keinen Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern machen, stattdessen beide zur „Uniparty” fusionieren und ihnen eine Politik gegenüberstellen, die sich auf das Gemeinwohl statt auf individuelle Rechte bezieht.

Die letzten Jahrzehnte brachten eben nicht nur Shareholder-Value, sondern auch Umweltschutz und Klagerechte: Eine auf individuelle Interessen ausgerichtete Juridifizierung ist die große Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die in manchen Bereichen rechten, in anderen linken Bedürfnissen diente. Die Abundance-Anhänger akzeptieren hier, was die Law and Political Economy-Bewegung als alternatives linkes neues Projekt zuweilen nicht einsehen will. In diesem Panorama ist Abundance die Selbstkritik einer schrumpfenden Mitte. Man kann Klein und Thompson auch als Obduktion der zentralen Projekte Joe Bidens lesen. Dessen enormen Programme für Technologieförderung und Infrastrukturausbau waren voller Bezüge auf Roosevelts New Deal, konnten aber weder in der Umsetzung noch in der politischen Wirkung an das große Vorbild anknüpfen.

Zum Überfluss

Ist Abundance nur die Karotte, mit welcher der demokratische Esel auf den ausgetretenen Pfad von Bill Clinton und Tony Blair, von New Democrats und New Labour, zurück gelockt wird? Diese linke Bewegung zur Mitte hin prägte ja auch eine Selbstkritik, die liebgewonnene Traditionen und Überzeugungen abschnitt und marktorientierte Reformen begründete. Für die gegenwärtige Rechte und die neue Linken der Clinton/Blair-Generation führt jedoch ein anderer Weg zum künftigen Überfluss. Mit Elon Musk teilen die Autoren den Techno-Optimismus – das Buch beginnt mit einer futuristischen Zukunftsvision aus dem Jahr 2050, in welcher technischer Fortschritt ein besseres Leben garantiert. Aber anders als in Musks privatem Cyberpunk sehen sie einen von linksliberalen Hindernissen entfesselten Staat als großen Ermöglicher einer besseren Zukunft. Unter Verweis auf die – auch vom ehemaligen deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck geschätzte – Ökonomin Mariana Mazzucato schreiben sie dem Staat eine Schlüsselrolle bei Forschung und Entwicklung zu – aber eben einem entfesselten Staat, der öffentliche Güter in einem lange nicht gekannten Umfang selbst bereitstellt: ein linkes „Make America Great Again“, das die Größe von Roosevelts New Deal in seiner machtvollen Verwaltung sieht, die nicht an Verfahrensrechten, sondern an politischem Zack-Zack orientiert war.

Dieses Ideal der letzten Jahrhundertmitte grenzen sie nicht nur von einer stark auf private Rechte fokussierenden Kultur ab, sondern auch vom Bemühen, Leistungen möglichst marktwirtschaftlich abzuwickeln: Obamas Gesundheitsreform, die statt einer staatlichen Versicherung ein privatwirtschaftliches, aber staatlich stark vorstrukturiertes Modell vorsah, ist ein Beispiel, das seine deutsche Entsprechung in der Riester-Rente hat – ein privates Angebot nach staatlichen Regeln. Statt das Angebot zu vermehren, habe man Zugänge zum privaten Angebot für Bedürftige staatlich erleichtert, damit aber am Ende die Knappheit nur verstetigt. Die Autoren wollen, dass der Staat wieder mehr selbst macht. Sie sagen jedoch nichts dazu, wie sich alte Fehler vermeiden lassen. So ist das Buch stark in seiner Kritik, für manche sicher attraktiv in seinem Ziel – aber wenig ergiebig, was den Weg dorthin angeht.

Die Drittmittel-Fixierung der Universitätspräsidenten und Fakultäten hat ja nachvollziehbare Gründe: Ihr Reiz liegt nicht nur im zusätzlichen Geldfluss, sondern im Wert des Geldes als Kriterium zur akademischen Leistungsmessung. Akzeptiert man es, reduziert es Komplexität und gibt einen objektiven Maßstab. Wissenschaftler von Leistungsmessung zu befreien, erfordert Vertrauen in Wissenschaftler, deren Leistung dann schlechter zu bestimmen ist. Genauso kann man den Verzicht auf Klagerechte auch nur solchen Bürgern abverlangen, die die Verwaltung als einen guten Hüter des Gemeinwohls akzeptieren. Aber gibt es das Vertrauen für einen solchen Rückbau von individuellen Rechten in Vertrauen auf eine effektivere Verwaltung? Das Lieblingsbeispiel der Abundance-Anhänger ist Trumps Operation Warpspeed, welche die Entwicklung von BioNTech/Pfizer- und Moderna-Impfungen beschleunigte. Die staatliche Reaktion auf die Pandemie hat in den Vereinigten Staaten wie in der Bundesrepublik neben Leid auch enormes Misstrauen erzeugt. Da dürfte der Appetit der Bürger, Sicherungen gegen den Staat zurückzubauen, eher begrenzt sein.

Und in Deutschland?

Auch die Bundesrepublik kennt eine allseitig beklagte Krise staatlicher Leistungsfähigkeit ebenso wie ein Übermaß an Vorgaben. Beispiele gibt es viele: Die deutsche Filmförderung fordert derweil Recycling-Toilettenpapier am Filmset. Ob hier mehr Papier gespart wird, als die Regelsetzung verbraucht? Nur noch ein Viertel der Deutschen sieht den Staat in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Und unser Staat kennt nicht nur ähnliche Probleme, sondern nutzt auch die gleichen, die Marktwirtschaft nachäffenden Instrumente: Drittmittel sind längst der Königsweg zum Lehrstuhl. Wenn Bundesministerien Aufträge ausschreiben, organisieren private Unternehmen diese Vergabe von öffentlichen Aufgaben an andere private Unternehmen. Die Ministerialbeamten machen nicht einmal mehr die Ausschreibung selbst. Die neue Bundesregierung verspricht Reformen wie die alte Bundesregierung davor; eine vom Bundespräsidenten beschirmte, von einer Reihe von Stiftungen – den üblichen Zeitgeistverstärkern – finanzierte Initiative für einen handlungsfähigen Staat hat gerade einen Zwischenbericht mit Vorschlägen vorgelegt. Zugleich schaut die deutsche Rechtswissenschaft auf das Thema wie Walter Benjamins Engel auf die Geschichte: nach hinten und mit Schrecken. Es gibt das verbreitete Gefühl, dass die vergangene Reformwellen nichts gebracht haben. So muss es nicht wundern, dass die einzige Rechtswissenschaftlerin, die sich dem Thema mit öffentlicher Beachtung widmet, die Bürokratiekritik historisiert. Bürokratie erscheint seltsam unvermeidbar – ein Unterschied zu Abundance genau wie DOGE.

Abundance mag künftig dabei helfen, nicht die altbewährten verwaltungsstaatlichen Instrumente zu schwingen, sondern den Blick einmal auf eben diese zu richten. Die Diskussion hierzulande ist entweder hochgradig technisch – etwa ein NVwZ-Aufsatz zu Anpassungen in BauGB oder BImSchG – oder oberflächlich: Bürokratie wird als solche kritisiert, ohne sich darüber Gedanken zu machen, warum wir sie bzw. die Regeln, die zu ihr führen, haben. Die von Klein und Thompson festgestellte Entwicklung zeichnet sich auch im deutschen Recht gut lesbar ab: Das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) von 1977 kodifiziert den Status quo der Zeit vor der Verfahrensbegeisterung. So erscheint es als ein Verfahrensgesetz, dem das Verfahren nicht sonderlich wichtig ist: Ist der Verwaltungsakt materiell richtig, werden Verfahrensfehler geheilt oder sind unbeachtlich, notfalls durch Umdeutung (§§ 43 ff. VwVfG). Wie anders ist das Standortauswahlgesetz von 2017, das Beteiligungsverfahren an Beteiligungsverfahren reiht: ein dekadenlanges Verfahren mit der Hoffnung auf deren befriedende Kraft. Die oft zwischen hochspezifischer Technizität und banaler Kritik („Alles dauert viel zu lange!“) schwankende deutsche Debatte würde von einer stärker historischen Perspektive profitieren – einer Perspektive, die nicht nur das Verfassungsrecht, sondern auch das Verwaltungsrecht als Ausdruck von Ideen liest, die immer wieder auf ihre Tauglichkeit befragt werden müssen.


SUGGESTED CITATION  Lennartz, Jannis: Fasten für den Überfluss?: Die Abundance-Agenda in den Vereinigten Staaten, VerfBlog, 2025/5/22, https://verfassungsblog.de/abundance-verwaltungsstaat-usa/, DOI: 10.59704/a5239deb9918f279.

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