11 August 2025

Wer ist eigentlich Verfassungsfeind?

Zeit für eine neue Legaldefinition

In mehreren Bundesländern wird derzeit an einer Reform der Verfassungsschutzgesetze gearbeitet. Ziel ist insbesondere eine stärkere Eingrenzung der Befugnisse der Verfassungsschutzämter zur Informationsübermittlung. Damit sollen die Vorgaben des BVerfG zur Wahrung der informationellen Trennung von Nachrichtendiensten und operativ tätigen Sicherheitsbehörden umgesetzt werden. Inwieweit das gelingt, wird – wie schon bei der Überarbeitung des BVerfSchG – der eingehenden Diskussion bedürfen.

Die Reformen bieten aber auch die Gelegenheit die Legaldefinitionen der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ (fdGO), die bislang an den Parteiverbotsentscheidungen des BVerfG aus den 1950er-Jahren angelehnt sind, im Sinne des NPD-Urteils des BVerfG 2017 neu zu fassen. Sie sollten enger auf die Kernelemente der Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet werden. Die Entwürfe der einzelnen Länder divergieren hier: Während Baden-Württemberg (§ 4 Abs. 2) und Schleswig-Holstein (§ 8 Abs. 2) eine entsprechende Änderung in vorbildlicher Weise vorsehen, soll in NRW (§ 2 Abs. 1) und Niedersachsen (unveränderter § 4 Abs. 3) an der alten Definition festgehalten werden. Hessen (§ 3 Abs. 1) und Berlin (§ 6 Abs. 1) wollen auf die ihrerseits unveränderte Definition in § 4 Abs. 2 BVerfSchG verweisen.

Der Notwendigkeit einer Änderung werden im Wesentlichen drei Argumente entgegenhalten: (1) Das NPD-Urteil habe für das Verfassungsschutzrecht gar nichts geändert, (2) das Problem lasse sich auf der Anwendungsebene lösen und (3) eine Neudefinition komme aus Kompetenzgründen allein im Bundesgesetz in Betracht. Keines dieser Argumente ist aus meiner Sicht haltbar.

Das NPD-Urteil 2017 und die Aufgabe des Verfassungsschutzes

Die Gesetze beschreiben mit dem Schutz der fdGO die wesentliche Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden. Davon, wie weit oder eng die fdGO verstanden wird, hängt – noch vor der Frage, welche Überwachungsmaßnahmen im Einzelnen zulässig sind – ab, welche Gruppierungen und Einzelpersonen als „Verfassungsfeinde“ beobachtet werden dürfen. Seit den 1990er-Jahren enthalten die Gesetze dazu eine Definition, die sich an der frühen Rechtsprechung des BVerfG zum wortgleichen Begriff in Art. 21 Abs. 2 GG orientiert. Im SRP– und KPD-Parteiverbotsverfahren hatte das BVerfG die fdGO durch eine katalogartige Aufzählung einzelner Elemente definiert, die für die Verfassungsordnung des Grundgesetzes prägend erschienen.

Bereits das KPD-Verbot, aber auch die weitere Praxis der wehrhaften Demokratie – etwa die Nichteinstellung zahlreicher Lehramtsanwärter:innen wegen einer Mitgliedschaft in der DKP im Zuge des „Radikalenerlasses“ – stieß auf vehemente Kritik (vgl. nur Ridder 1975, S. 65). Der Verdacht, dass die wehrhafte Demokratie mithilfe eines in der Politikwissenschaft noch weiter ausbuchstabierten Extremismusmodells zum Kampfinstrument gegen jegliche tiefgreifenden Veränderungswünsche jenseits des Mainstreams degenerierte, lag nur allzu nahe.

Im NPD-Urteil 2017 ist das BVerfG dieser Kritik begegnet. „Unter den Gesichtspunkten der Unvollständigkeit, Beliebigkeit, Unbestimmtheit, Missbrauchsanfälligkeit und fehlender Systematik“ betont es, dass „zwischen den Kernelementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und den sich daraus ergebenden (fallbezogenen) Ableitungen zu unterscheiden ist“ (Rn. 534). Der Begriff der fdGO erfordere eine Konzentration auf wenige zentrale Elemente, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind (Rn. 535). Besonders deutlich wird das an der Ablehnung einer Identifikation der fdGO mit den änderungsfesten Verfassungsinhalten nach Art. 79 Abs. 3 GG, zu denen auch der föderale Staatsaufbau zählt (Rn. 536 f.). Es geht also nicht um die prägenden Elemente der konkreten bundesdeutschen Verfassungsordnung, sondern um die Grundlagen des freiheitlichen Verfassungsstaats überhaupt. Ausgangspunkt ist der Schutz der Menschenwürde. Damit verbunden sind ein grundlegendes Demokratiegebot im Sinne einer gleichberechtigten politischen Mitwirkung aller Bürger:innen und der Rückbindung der Staatsgewalt an sie sowie die rechtsstaatliche Bindung und Kontrolle der Staatsgewalt (Rn. 538 ff.), wozu auch das staatliche Gewaltmonopol zählt (Rn. 547). Dass die neue Definition deutlich enger ist als die alte, zeigt nicht zuletzt das Beispiel des KPD-Verbots: Heute könnte es nicht mehr wie im KPD-Urteil (BVerfGE 5, 85, 195 f.) als „müßig“ abgetan werden, dass die Partei argumentierte, für eine andere, eben nicht-repräsentative Form der Demokratie einzutreten. Auch ist das von der KPD abgelehnte Privateigentum zwar im geltenden Grundrechtskatalog geschützt, es zählt aber nicht zum Kerngehalt der Menschenwürde.

Nachdem das NPD-Urteil ein substantiell anderes und engeres Verständnis der fdGO eingeführt hat, liegt es nahe, die aus der früheren Rechtsprechung übernommenen Definitionen der Verfassungsschutzgesetze anzupassen. Zwar bezieht sich das NPD-Urteil unmittelbar nur auf Art. 21 Abs. 2 GG. Insoweit ist mitunter, etwa vom VG Köln (Rn. 37), argumentiert worden, für das Verfassungsschutzrecht habe sich nichts geändert, da es hier nicht um den Ausschluss einer Partei aus dem Prozess der politischen Willensbildung gehe. Eine solche Verdopplung des fdGO-Begriffs führt aber in die Irre (dazu ausführlicher bereits hier). Die Tätigkeit der Verfassungsschutzämter steht nicht isoliert neben den in Art. 21 Abs. 2, 9 Abs. 2 und 18 GG vorgesehen Instrumenten zur Abwehr von „Verfassungsfeinden“, sondern ist mit ihnen untrennbar verbunden: Die Informationssammlung dient dazu, die Regierung in die Lage zu versetzen, ein Parteiverbots- bzw. ein Grundrechtsverwirkungs-Verfahren beim BVerfG einzuleiten bzw. ein Vereinsverbot unmittelbar zu verfügen. Für die Beobachtung politischer Parteien hat sich das OVG Münster (Rn. 105) im Verfahren zur Einstufung der AfD als Verdachtsfall ausdrücklich für einen identischen Maßstab ausgesprochen. Aber auch für andere Beobachtungsobjekte kann nichts anders gelten. Wenn in der Entwurfsbegründung in NRW (S. 101) behauptet wird, die Verengung des fdGO-Begriffs im NPD-Urteil gelte nur für politische Parteien, während im Übrigen „die ausdifferenzierte bewährte Begriffsbestimmung“ Bestand habe, ist das nicht haltbar. Art. 21 GG privilegiert die Parteien gegenüber sonstigen Vereinigungen nur verfahrensrechtlich dadurch, dass nur für ihr Verbot die originäre Zuständigkeit dem BVerfG zugewiesen ist. Materiell ist aber der Verbotsgrund des Art. 9 Abs. 2 GG, dass sich Vereine „gegen die verfassungsmäßige Ordnung (…) richten“, mit Begriff der fdGO in Art. 21 Abs. 2 GG identisch. Das BVerfG hat hier den Maßstab des NPD-Urteils übertragen.

Selbst wenn einstweilen kein Verbot ins Auge gefasst wird, sondern lediglich im Verfassungsschutzbericht vor bestimmten Gruppierungen gewarnt wird („Verfassungsschutz durch Aufklärung“), liegt darin ein faktischer Eingriff in die freie politische Auseinandersetzung, der lediglich gegenüber Gruppierungen und Personen zulässig sein kann, die nach Art. 21 Abs. 2, 9 Abs. 2 und 18 GG als „Verfassungsfeinde“ qualifiziert werden dürfen. Ein wesentlicher Unterschied zu den Verbotsinstrumenten besteht nur darin, dass für die Beobachtung und Nennung im Verfassungsschutzbericht noch keine Gewissheit über die Verfassungsfeindlichkeit der Bestrebungen bestehen muss; das Schutzgut der fdGO ist aber identisch. Das hat zumindest implizit auch das BVerfG anerkannt, als es zu einer Verfassungsbeschwerde gegen die Nennung einer Vereinigung im Verfassungsschutzbericht ausführte, dass der Begriff der fdGO durch das NPD-Urteil 2017 geklärt sei.

Verfassungskonforme einschränkende Auslegung als Dauerlösung?

Solange die Verfassungsschutzgesetze noch die alte fdGO-Definition enthalten, lässt sich das engere Verständnis des NPD-Urteils übergangsweise durch eine verfassungskonforme Auslegung umsetzen. Weil sich die Abweichung vom Normtext allein zugunsten der Betroffenen auswirkt, bestehen dagegen keine rechtsstaatlichen Bedenken. Gleichwohl ist ein Rechtszustand, bei dem der Gesetzestext ein unzutreffendes Bild von der Rechtslage vermittelt, defizitär. Die behördliche Praxis orientiert sich in aller Regel am Gesetzeswortlaut; daher ist nicht ausgemacht, dass rechtlich gebotene Einschränkungen auch tatsächlich vorgenommen werden. Viele neuere Verfassungsschutzberichte, etwa derjenige für Niedersachsen 2024 (S. 16), nehmen noch auf die Legaldefinition und die alte Rechtsprechung Bezug, ohne das NPD-Urteil überhaupt zu erwähnen. Ein frappierendes Beispiel für eine Beobachtungspraxis, die nach wie vor auf einem undifferenzierten Extremismuskonzept beruht und nach den neuen Maßstäben eindeutig rechtswidrig ist, ist die Beobachtung der klimaaktivistischen Gruppe „Ende Gelände“. Effektiver Grundrechtsschutz setzt voraus, dass das gewandelte Begriffsverständnis zumindest mittelfristig in den Normtext übernommen wird.

Die verfassungsrechtlichen Anforderungen der Bestimmtheit und Normenklarheit werden gerade bei den im Verfassungsschutzrecht üblichen heimlichen Überwachungsmaßnahmen besonders streng verstanden. Das BVerfG hat es im Antiterrordateigesetz-II-Beschluss (Rn. 116) ausdrücklich abgelehnt, die verfassungsrechtlich gebotene Eingriffsschwelle durch Auslegung in das Gesetz hineinzulesen; vielmehr müsse diese bereits im Wortlaut klar erkennbar sein. Wenn für den zulässigen Umfang der einzelnen Informationserhebungsmaßnahmen zu Recht hohe Bestimmtheitsanforderungen gelten, muss aber auch die Frage, wer ihnen überhaupt als „Verfassungsfeind“ unterzogen werden darf, gesetzlich klar geregelt sein.

Verfassungsdogmatisch ergibt sich daraus eine Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers. Eine solche Pflicht kann sich nicht nur als Kehrseite von Prognosespielräumen in empirischen Fragen ergeben (vgl. aus der Rechtsprechung hier, Rn. 176), sondern auch infolge einer gewandelten Verfassungsinterpretation. Dabei ist zwar anzuerkennen, dass eine Nachbesserung nicht von heute auf morgen möglich ist. Aber jedenfalls dann, wenn das einschlägige Gesetz ohnehin umfassend überarbeitet wird, sollte die Gelegenheit genutzt werden, der Pflicht nachzukommen. Die Legislative darf sich ihrer Regelungsverantwortung nicht dauerhaft verweigern.

Neudefinition der fdGO im föderalen Verfassungsschutzverbund

Ein Sonderproblem bei der Reform der Legaldefinitionen der fdGO ergibt sich daraus, dass die einzelnen Verfassungsschutzbehörden in einen föderalen Verfassungsschutzverbund einbezogen sind. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass in manchen Ländern Skepsis gegenüber einer Änderung nur in ihrem Gesetz besteht. Teilweise wird dabei auch rechtlich argumentiert, dass es den Ländern verwehrt sei, die fdGO-Definition in ihrem Gesetz anzupassen, solange das Bundesgesetz (§ 4 Abs. 2) noch die alte Legaldefinition enthält. Tatsächlich bestimmt § 3 Abs. 1 BVerfSchG die Aufgabe „der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder“ u.a. mit dem Schutz der fdGO. Daraus wird nun in Berlin (S. 48 f. der Entwurfsbegründung) der Schluss gezogen, die Definition in § 4 Abs. 2 BVerfSchG sei auch für die Länder maßgeblich. Konsequenterweise wird dann auch – wie bereits in Bayern und Hessen – auf eine nach diesem Verständnis rein deklaratorische fdGO-Definition verzichtet und lediglich auf das Bundesgesetz verwiesen. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob die Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b zur Regelung der „Zusammenarbeit des Bundes und der Länder (…) zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ wirklich umfasst, den fdGO-Begriff auch für die Länder verbindlich zu konkretisieren. Der Kompetenztitel betrifft die „Zusammenarbeit“. Das umfasst dem BVerfG zufolge (vgl. hier Rn. 76) „die laufende gegenseitige Unterrichtung und Auskunftserteilung, die wechselseitige Beratung sowie gegenseitige Unterstützung und Hilfeleistung in den Grenzen der je eigenen Befugnisse“. Auch die Errichtung von Verbunddateien durch Bundesgesetz wie im Antiterrordatei-Gesetz kann darauf gestützt werden. Der Bundesgesetzgeber hat insoweit gewisse politische Gestaltungsmöglichkeiten mit Auswirkungen auf die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden der Länder. Keine Frage der politischen Gestaltung ist dagegen die Definition der fdGO. Der Begriff ist bereits auf der Ebene des Verfassungsrechts festgelegt, dabei entspricht derjenige in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. b dem in Art. 21 Abs. 2 GG (vgl. für die einhellige Kommentarliteratur nur Heintzen in Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2024, Art. 73 Rn. 116).

Dementsprechend ist die Konkretisierung Sache des BVerfG. Die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene trifft nur die Aufgabe, diese Konkretisierung in einer geeigneten Formulierung aufzugreifen. Ändert sich die Rechtsprechung, trifft sämtliche Gesetzgeber eine Nachbesserungspflicht. Die Landesgesetzgeber können dabei nicht an eine verfassungswidrig gewordene Begriffskonkretisierung im Bundesgesetz gebunden sein. Das schließt nicht aus, eine Harmonisierung in einem koordinierten Vorgehen anzustreben oder eine landesgesetzliche Definition nachträglich an eine verfassungskonforme Neufassung im Bundesgesetz anzupassen. Solange der Bundesgesetzgeber untätig ist, kann das die Länder aber nicht von ihrer eigenen Nachbesserungspflicht entlasten.

Fazit

Die Länder und perspektivisch auch der Bund sollten die Reformen der Verfassungsschutzgesetze nutzen, um die Neuausrichtung der wehrhaften Demokratie aus dem NPD-Urteil 2017 aufzugreifen – weg vom alten Extremismuskonzept, hin zum Schutz von Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Mit einer Änderung der Legaldefinitionen wird sichergestellt, dass der Gesetzestext keinen falschen Eindruck von der Rechtslage erweckt und sich die Behördenpraxis tatsächlich ändert.


SUGGESTED CITATION  Hohnerlein, Jakob: Wer ist eigentlich Verfassungsfeind?: Zeit für eine neue Legaldefinition, VerfBlog, 2025/8/11, https://verfassungsblog.de/wer-ist-eigentlich-verfassungsfeind/, DOI: 10.59704/cb1799a23243b8a1.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
KPD, NPD, Verfassungsschutz, fdGO


Other posts about this region:
Deutschland