08 September 2025

Der Ruf nach Strafe

Zur Pönalisierung von Catcalling

Die SPD-Bundestagsfraktion will Catcalling unter Strafe stellen. Der Vorstoß fügt sich in das, was Didier Fassin als neue „Lust am Strafen” beschrieben hat – eine Hinwendung westlicher Gesellschaften zu strafrechtlichen Antworten, selbst dort, wo sie wenig bewirken. Tatsächlich taugt das Strafrecht hier weder zum Schutz vor Belästigung noch zur Stärkung der Betroffenen. Es wird als leere, repressive Geste instrumentalisiert, die Diskurse befeuert, aber keine Lösungen schafft. Der Ruf nach Strafe birgt vielmehr die Gefahr reaktionärer und rassistischer Dynamiken – und unterläuft so die Ziele, die er zu verfolgen vorgibt.

Das Narrativ der Gesetzeslücke

Schon das bemühte Narrativ einer „Gesetzeslücke“ lässt aufhorchen. Zur Begründung des neuen Straftatbestandes gegen Catcalling verweist die SPD auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2017, in der die Strafbarkeit einer verbalen sexuellen Belästigung als Beleidigung verneint wurde. Der BGH habe darin eine Gesetzeslücke für Catcalling offengelegt, die es nunmehr legislativ zu schließen gelte.

Der Begriff des Catcalling selbst ist durchaus unscharf und erfasst ein breites Spektrum an Verhaltensweisen. Gemeinhin ist damit jener Bereich alltäglicher sexueller Belästigungen gemeint, der von Gesten, anzüglichen Rufen und Pfiffen, bis hin zu Kommentaren reicht. Der vom BGH entschiedene Fall hat damit nur wenig zu tun. Vielmehr ging es um einen Mann, der mehrere Frauen – darunter ein elfjähriges Mädchen – mit seinen expliziten sexuellen Absichten konfrontierte (die konkrete Wortwahl ist dem Urteil zu entnehmen). Es handelt sich hierbei um einen Fall extremer verbaler sexueller Belästigung. Wer den Fall dennoch unter Catcalling fassen will, dem ist das Diktum des Richters Oliver Wendel Holmes Jr. in Erinnerung zu rufen: Hard cases make bad law.

Auch wenn der BGH also keine allgemeine Gesetzeslücke in Bezug auf Catcalling aufgedeckt hat, so verweisen die Fürsprecher:innen einer Kriminalisierung zutreffend darauf, dass extreme Formen verbaler sexueller Belästigung – wie in dem besagten BGH-Urteil – durch das bestehende strafrechtliche Raster fallen. Während der Tatbestand der sexuellen Belästigung nach § 184i StGB eine körperliche Berührung voraussetzt, schützt der Beleidigungstatbestand des § 185 StGB primär die Ehre und nicht die sexuelle Selbstbestimmung. Solange weder eine körperliche Berührung noch eine verbale Ehrverletzung vorliegt, gibt es also keine Strafbarkeit. Die Grenze der Strafbarkeit von Catcalling resultiert aber nicht zuletzt aus Verfassungsprinzipien.

Verfassungsrechtliche Untiefen

Denn erstens müsste ein Straftatbestand für Catcalling das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG (nulla poena sine lege certa) wahren. Dieses verlangt, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafbarkeit so präzise umschreibt, dass der Einzelne „in der Lage ist, sein Verhalten danach einzurichten“ (BVerfGE 48, 48, 30). Hierfür müsste aus der Norm die Grenze zwischen einer strafbaren verbalen Belästigung und einer zwar unerwünschten, aber straflosen Interaktion deutlich hervorgehen. Wo wäre die Grenze zu ziehen zwischen einer plumpen Anmache und einer strafwürdigen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung? Catcalling ist zutiefst kontextabhängig; Tonfall, Machtgefälle, Ort und die subjektive Wahrnehmung der betroffenen Person sind entscheidend, aber bieten kaum objektivierbare und generalisierbare Kriterien. Es ist zu bezweifeln, dass da für eine Strafbarkeit von Catcalling Raum bleibt.

Zweitens müsste auch das Ultima-Ratio-Prinzip gewahrt werden. Dieses aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG) abgeleitete Prinzip gebietet, dass das Strafrecht als schärfstes Schwert des Staates nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf, „wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verboten-sein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist“ (BVerfGE 120, 224, 35). Strafrecht ist indes kein Mittel zur Regulierung sozialer Interaktionen. Es soll erst dann zum Einsatz kommen, wenn alle milderen Mittel ausgeschöpft sind. Ein Catcalling-Tatbestand, der ein Verhalten umfassend unter Strafandrohung stellen würde, das gemeinhin als Catcalling gilt, ist insoweit aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen.

Auf der anderen Seite ist Catcalling kein ausgedachtes Problem. Im Gegenteil, Studien zeigen die psychologischen Auswirkungen auf junge Frauen deutlich. Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG fordert, dass der Staat „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern [fördert]“ und „auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin[wirkt]“. Insoweit gibt es trotz der verfassungsrechtlichen Grenzen immer wieder Versuche, eine Strafbarkeit von Catcalling rechtlich zu definieren. Nora Labarta Greven, Laura-Romina Goede und Paul Brodtmann kommen in einem Artikel zu den „Möglichkeiten und Grenzen einer strafrechtlichen Regulierung“ zu dem Schluss, dass eine Strafbarkeit zumindest eine „erhebliche Belästigung“ auf Tatbestandseite vorsehen müsste, um verfassungsrechtlich haltbar zu sein. In einem Gesetzesantrag im Bundesrat durch das Land Niedersachsen von 2024 zur „Verbesserung des Schutzes vor sexueller Belästung“ wird daran anschließend eine „erhebliche“ Belästigung gefordert. Der DJB hat in einem Positionspapier von 2021 eine Formulierung vorgeschlagen, wonach das Verhalten geeignet sein muss sein Gegenüber „herabzuwürdigen oder erheblich zu bedrängen“. Catcalling ist davon kaum mehr umfasst.

Möchte man Catcalling unter Strafe stellen, muss der Straftatbestand also entweder so eng gefasst werden, dass er kaum Anwendungsfälle abdeckt, die gemeinhin als Catcalling gelten, oder so weit gefasst werden, dass er verfassungswidrig wäre. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Umgang mit dem Begriff des Catcalling in Forschung, politischen Initiativen und Gesetzesvorhaben als äußerst ambivalent. Seit Jahren wird regelmäßig auf die Grenzen einer möglichen Strafbarkeit hingewiesen. Mitunter wird sogar angemerkt, dass der Begriff Catcalling „nicht sachdienlich“ sei. Gleichzeitig wird weiterhin an dem Begriff festgehalten: keine öffentliche Initiative, die sich nicht in irgendeiner Form auf den Begriff beruft. Schließlich weiß auch die SPD, dass eine Strafbarkeit von Catcalling nicht möglich ist, passt ihre Kommunikation aber nicht daran an. Sie bringt mit ihrem neuerlichen Vorstoß lieber das alte, gut bekannte Skript in Bewegung.

Hyperpolitik statt Kulturwandel

Ihr Koaltionspartner, die Union, folgt dem Skript und antwortet prompt: Der Vorstoß der SPD sei abzulehnen, es handle sich um „Symbolgesetzgebung“ und sowieso seien Regelungen in der Praxis nicht durchsetzbar. Doch was, wenn das primäre Ziel der SPD gar nicht die effektive Strafverfolgung, sondern das Senden einer politischen Botschaft war? Eine Art der „Hyperpolitik“, wie es der belgische Historiker Anton Jäger nennen würde? Der Begriff beschreibt die Gegenwart extremer, oft online getriebener Politisierungen, die jedoch folgenlos bleiben. Man bleibt inhaltlich diffus und erzeugt einen kurzlebigen moralischen Überschuss. Das Motto dieser Politik lautet: „niedriger Aufwand, niedrige Kosten, niedrige Exit-Schranken und kurze Zeitspannen.“ Der schnelle, sichtbare „Fix“ eines neuen Paragrafen tritt an die Stelle des „starken und langsamen Bohrens von harten Brettern“, wie es Jäger mit Max Weber formuliert.

Der Ruf nach der Strafbarkeit von Catcalling ist insoweit moralisch eindeutig, leicht verständlich und eignet sich hervorragend für die Mobilisierung in der digitalen Öffentlichkeit. Man signalisiert vor allem Handlungsfähigkeit, Entschlossenheit und Solidarität mit den Opfern. Tatbestandlich kann Catcalling nicht mit Strafe angedroht werden – und man weiß das auch. Dennoch wird das gesellschaftliche Problem immer wieder mit der Möglichkeit eines neuen Straftatbestands in Zusammenhang gebracht, als sei dieser irgendwie doch eine Lösung des Problems. Man suggeriert, dass etwas getan wird. So ist der Vorstoß der SPD die „kostengünstige, aber wirkungslose Alternative zu Präventionsmaßnahmen oder Ursachenforschung“, mit der wir dieser Tage leider regelmäßig in der Kriminalpolitik konfrontiert sind.

Politisch hat die Forderung nach einer Strafbarkeit für Catcalling vor allem die Funktion Aufmerksamkeit zu generieren. Hinter der Kommunikation der SPD steht ein politisches Kalkül, das mit dem Soziologen Nils C. Kumkar als „kommunikative Polarisierung“ verstanden werden kann. Das ist erstmal nur bloße Beschreibung. Kumkar argumentiert, dass Parteien über die polarisierende Rede ihre Wählerschaft an sich binden, Alternativen sichtbar machen und Menschen in den politischen Prozess integrieren. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Sonja Eichwede, und andere zivilgesellschaftliche Stimmen räumen ein, dass ein neuer Straftatbestand kaum etwas ändern würde. Es sei aber gut, so die Argumentation, wenn aus dem Gesetzesvorschlag ein „gesellschaftlicher Diskurs“ entstünde.

So einfach ist es allerdings nicht. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob das Strafrecht für einen solchen gesellschaftlichen Diskurs ein geeignetes und legitimes Spielfeld ist. Nicht jede Politisierung ist im Sinne ihrer Politik. Es kommt darauf an, wie wir über Themen reden.

Das Strafrecht neigt dazu, gesellschaftliche Probleme zu individualisieren (vgl. Fassin, S. 164). Die leere Forderung nach einer Strafbarkeit von Catcalling präsentiert insoweit das strukturelle Problem des Patriarchats als eine Summe von Fehlverhaltensweisen einzelner Männer, dessen Lösung ihre Bestrafung ist. Indem die Gesellschaft, wie Fassin schreibt, „den Einzelnen mit seiner Tat allein lässt, stiehlt sie sich aus der ihr bei den sozialen Entstehungs- und Konstruktionsbedingungen der Gesetzesbrüche zukommenden Verantwortung“ (Fassin, S. 152). Das Strafrecht suggeriert, ein komplexes soziokulturelles Phänomen ließe sich durch einen einfachen legislativen Akt „reparieren“ und lenkt von der mühsamen Arbeit ab, die für einen tatsächlichen Kulturwandel notwendig wäre. So erweist sich auch der Diskurs über eine vermeintlich progressive Strafreform „in Wahrheit als konservativ im Hinblick auf die rechtliche, moralische und letztendlich soziale Ordnung“ (Fassin, S. 165).

Emanzipation durch Repression?

Nicht zuletzt tappt der Diskurs über die Strafbarkeit von Catcalling in die Falle des „Carceral Feminism“ – ein Begriff, der von dekolonialen Theoretikerinnen wie Françoise Vergès benutzt wird. Der Begriff beschreibt eine feministische Kriminalpolitik, die zur Durchsetzung ihrer Ziele auf die repressiven Institutionen des Staates setzt: mehr Polizei, härtere Strafen, neue Gesetze (Vergés, S. 65 ff.; vgl. hierzu)

Die zentrale Kritik von Vergès und anderen Feministinnen lautet, dass der strafrechtliche Appell an den Staat problematisch ist, da dieser Ungleichheiten aufrechterhält und auf patriarchalen und rassistischen Fundamenten ruht (Vergés, S. 74 f.). Anstatt die Strukturen der Diskriminierung abzubauen, würde jener repressive Apparat gestärkt, der an der Marginalisierung von Personen selbst beteiligt ist (Vergés, S. 80). Das betrifft die der Strafverfolgung ebenso sehr wie den Diskurs über sie. Mark Terkessidis hat insoweit schon 1995 darauf hingewiesen, dass der Kriminalisierungs- und Sicherheitsdiskurs den Kulturrassismus der Neuen Rechten bedient (Terkessidis, S. 152 ff.). Auch der Diskurs über die Strafbarkeit von Catcalling zeigt sich für den Kulturrassismus anschlussfähig. Er ist insbesondere offen für das Narrativ vom gefährlichen südländischen Mann, der der deutschen Frau hinterherruft, sie verfolgt und bedroht. Unter dem entsprechenden Facebook-Beitrag der SPD-Fraktion des Bundestages kann man sich davon ein Bild machen. Dort wimmelt es nur so von Kommentaren, die den Vorstoß der SPD dankend annehmen und jenen rassistischen Zusammenhang herstellen.

Die Gesetzesinitiative ignoriert, dass das Strafrecht historisch und aktuell ein Instrument zur Aufrechterhaltung von Ungleichheit ist. Es ist bedauerlich, dass sie wohl nicht bloß ein politisch naiver „Ausrutscher“ ist. So hat Christine Morgenstern erst kürzlich hier auf diesem Blog argumentiert, dass im neuen Koalitionsvertrag von Union und SPD eine politische Öffnung für ein Strafrecht „mit rassistischen Untertönen“ formuliert ist. Insoweit ist nicht nur der Diskurs über die Strafbarkeit des Catcallings ein Einfallstor für rassistische Narrative. Auch die Diskurse über Femizide, über ein Sexkaufverbot oder generell geschlechtsspezifische Gewalt sind davon betroffen. Sie offenbaren einmal mehr, dass es im Strafrecht wenig zu gewinnen gibt, aber viel zu verlieren. Für die feministischen Anliegen gilt das in doppelter Hinsicht. Denn nicht zuletzt zielt die rechte Instrumentalisierung feministischer Anliegen auf ihre Delegitimierung und Bekämpfung ab.

Fazit: Jenseits des Strafrechts

Feministischer Fortschritt lässt sich kaum durch die Hintertür des Strafgesetzbuchs erreichen. Die mühsame Arbeit an strukturellen Veränderungen kann nicht durch eine leere Geste der Bestrafung ersetzt werden. Insbesondere dann nicht, wenn sie dabei reaktionäre und rassistische Dynamiken freisetzt.

Eine Politik im Sinne des Art. 3 Abs. 2 GG sollte jenseits des Strafrechts ansetzen. Anstatt auf das trügerische Versprechen der Strafe zu setzen, sollte eine progressive Politik sich auf die schwierige, aber einzig nachhaltige Aufgabe struktureller Veränderungen konzentrieren. Dazu gehören eine umfassende Bildungs- und Präventionsarbeit, eine Stadtplanung, die den öffentlichen Raum für alle zugänglich macht, und vor allem eine Sozial- und Wirtschaftspolitik, die die materiellen Grundlagen für Selbstbestimmung schafft. Nur so lässt sich eine Gesellschaft schaffen, in der sich alle Menschen frei und ohne Angst bewegen können – nicht, weil sie von der Drohung des Strafrechts geschützt werden, was, wie gezeigt, ohnehin nicht der Fall sein wird – sondern weil Respekt und Gleichberechtigung zur gelebten sozialen Norm geworden sind.


SUGGESTED CITATION  Endemann, Fabian: Der Ruf nach Strafe: Zur Pönalisierung von Catcalling, VerfBlog, 2025/9/08, https://verfassungsblog.de/der-ruf-nach-strafe/.

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