Juristisches Prüfen 2030
Der nachfolgende Text entstand im informellen, digitalen Austausch der Unterzeichnenden. Er bildet kein Ergebnis ab, sondern stellt drei Thesen als Anstoß für eine weitere, vertiefte Debatte auf:
These 1: Juristische Prüfungsformate sind reformbedürftig.
In der juristischen Ausbildung sollen Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt und geprüft1) werden, die einem modernen juristischen Arbeitsumfeld entsprechen. Dies wird durch die gegenwärtigen Prüfungsformate nicht mehr umfassend abgebildet.
Erstens wird in Wissenschaft und Praxis kaum noch händisch gearbeitet. Es kommt nicht darauf an, schnell und schön zu schreiben. Während der gesamten Ausbildung sollte daher die Möglichkeit bestehen, Klausuren digital zu verfassen.
Zweitens wird kaum noch ohne digitale Hilfsmittel gearbeitet. Eigentlich würden sich gerade Hausarbeiten dazu eignen, diverse digitale Hilfsmittel einzubinden. Da KI-Tools eigenständige Lösungen erzeugen, lässt sich der Eigenbeitrag jedoch kaum noch bewerten – immer mehr Universitäten schaffen Hausarbeiten daher ab.
Die Lücke ist jetzt deshalb umso größer. Es fehlen Formate zum Abprüfen des Umgangs mit modernen digitalen Hilfsmitteln sowie der kritischen Einordnung daraus gewonnener Ergebnisse.
These 2: Hausarbeiten können als „KI-Hausarbeiten“ einen Prüfungswert behalten.
Im Jahr 2030 wird Künstliche Intelligenz juristische Standardprobleme weitgehend eigenständig lösen und darstellen können. Ihr Einsatz wird sich in klassischen Hausarbeiten faktisch nicht unterbinden lassen. In ihrer jetzigen Form laufen sie Gefahr, bloße „Prompt-Wettbewerbe“ zu werden, die sich mit Blick auf das Eigenständigkeitserfordernis in den geltenden Prüfungsordnungen zudem in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Der Lerneffekt wie auch der Prüfungswert in Bezug auf die juristischen Inhalte werden dadurch erheblich geschmälert.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass Hausarbeiten pauschal abgeschafft werden sollten. Mit ihnen lassen sich – in Gestalt von „KI-Hausarbeiten“ – vielmehr auch weiterhin juristische Fähigkeiten prüfen, wenn und soweit die zugelassenen Hilfsmittel, die abgeprüften Inhalte und die Prüfungsmaßstäbe modifiziert werden. Der Einsatz von KI-Tools bei der Generierung der Texte, einschließlich der Nachweise, sollte unter Aufrechterhaltung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, insbesondere über die Übernahme fremder Gedanken, grundsätzlich zugelassen werden. Empfehlenswert sind entsprechende Lehrformate zur Vermittlung jener Kenntnisse. Wenn die KI plagiiert, sich auf nicht zitierfähige Quellen beruft oder Quellen gänzlich frei erfindet, sind die Prüflinge dafür verantwortlich. Es obliegt ihnen, zitierfähige Quellen zu identifizieren, zu verifizieren und einzubauen. Dies erfordert gerade jene kritischen Fähigkeiten der Studierenden im Umgang mit KI-Werkzeugen, die sie auch nach Abschluss ihrer juristischen Ausbildung benötigen. Die Korrektur sollte hierauf ein noch stärkeres Augenmerk legen. Studierende sollten zitierte Quellen, soweit geeignet und verfügbar, digital klickbar verlinken, um Korrigierenden die Quellenverifikation zu erleichtern.
Gleichzeitig sind sowohl die Schwierigkeit der Aufgabenstellung als auch die Anforderungen an die inhaltliche Qualität der Falllösungs- wie auch der Seminararbeiten mit der Erweiterung des Kreises zugelassener Hilfsmittel entsprechend zu erhöhen. Besonders eignen dürften sich Themenhausarbeiten, die gänzlich neue Fragen aufwerfen – z.B. ein neues Urteil besprechen lassen, zu welchem kaum konkrete Literatur existiert.
Soweit dies mit Blick auf den Prüfungsaufwand darstellbar ist, sollten derartige „KI-Hausarbeiten“ – insbesondere KI-Seminararbeiten – durch anspruchsvolle mündliche Prüfungen ergänzt werden. Auf diese Weise lässt sich untersuchen, ob die Studierenden sich eigenständig und vertieft mit der Thematik bzw. dem Rechtsgebiet befasst haben und fachbezogene Rückfragen präzise beantworten können. Es kann erwogen werden, die mündliche Prüfung stärker zu gewichten oder alternativ eine einheitliche Gesamtnote zu vergeben.
These 3: Es braucht Klausuren mit und ohne digitalen Hilfsmittelzugriff.
Auch im Rahmen von Aufsichtsarbeiten (Klausuren) sollte in differenzierter Weise der Zugriff auf digitale Hilfsmittel eröffnet werden. Denkbar sind dabei zahlreiche Formate. Die nachfolgenden drei Typisierungen sollen einen ersten Diskussionsanstoß liefern:
Herkömmliche Klausuren ohne Zugriff auf besondere digitale Hilfsmittel
Die Fähigkeit zur kritischen Reflexion und fundierten Bewertung KI-generierter Inhalte setzt voraus, dass juristische Kenntnisse und Methodenkompetenzen zuvor eigenständig erworben wurden. Auch im Jahr 2030 wird es weiterhin Situationen geben, in denen unmittelbar abrufbares Fachwissen erforderlich ist – etwa in wissenschaftlichen Diskussionen, in Mandantengesprächen oder mündlichen Verhandlungen. Folglich sind juristisches Grundwissen und methodische Fertigkeiten auch künftig selbstständig zu erlernen und in konventionellen schriftlichen/elektronischen Klausuren ohne Zugriff auf Datenbanken oder KI-Tools abzuprüfen.
„Hybridklausuren“ mit begrenztem Zugriff auf digitale Hilfsmittel
Ähnlich einer Klausur mit Kommentarzugang im zweiten juristischen Staatsexamen können Universitäten schriftliche Aufsichtsarbeiten unter Zugriff auf eine begrenzte Zahl – man könnte überlegen: kostenfreier2) – juristischer Online-Datenbanken ohne LLMs, die vollständige Lösungsabschnitte generieren, vorsehen. Der Sachverhalt enthält hier zahlreiche juristische Standardprobleme, vergleichbar mit einer Examensklausur. Die studentischen Lösungen enthalten keine Quellenangaben. Geprüft wird vor allem die Fähigkeit, eine Vielzahl an Problemen schnell zu erkennen und korrekt einzuordnen. Durch den Hilfsmittelzugriff kann ein höheres Leistungsniveau erwartet werden, weil nicht mehr primär das Auswendiglernen von Schemata und Definitionen die Kapazitäten der Studierenden belastet.
„KI-Klausuren“ mit umfassendem Zugriff auf digitale Hilfsmittel
Auch die Kompetenz, in begrenzter Zeit (etwa fünf Stunden) eigenständig und ohne Kommunikation, jedoch unter Nutzung aller verfügbaren digitalen Hilfsmittel, einschließlich juristischer Datenbanken sowie LLMs und sonstiger KI-Tools, ein juristisches Gutachten zu erstellen, kann unter Aufsicht abgeprüft werden. Der Sachverhalt einer solchen „KI-Klausur“ enthält deutlich mehr und anspruchsvollere juristische Problemstellungen. Geprüft wird dabei einerseits die Fähigkeit, komplexe juristische Probleme zu verarbeiten, andererseits aber auch der souveräne und kritische Umgang mit den erlaubten digitalen Werkzeugen. Es kann vorgesehen werden, dass die studentischen Lösungen auch hier aus den verwendeten Hilfsmitteln verlinkte Quellenangaben enthalten müssen – wie in einer Hausarbeit. Das zu erwartende Leistungsniveau ist bei solchen KI-Klausuren denkbar hoch.
Annex als Diskussionsbeitrag: Übersicht möglicher Prüfungsformen 2030
Prüfungsform | Zulassung digitaler Hilfsmittel | Dauer | Geprüfte Kompetenzen |
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Falllösungshausarbeit | Vollumfänglich (inkl. LLMs, da nicht kontrollierbar) |
Mehrere Wochen | Insbesondere Argumentations- und Methodenkontrolle, formale Standards |
Themenhausarbeit mit mündlicher Prüfung |
Vollumfänglich in Schreibphase, keine digitalen Hilfsmittel in mündlicher Prüfung | Mehrere Wochen | Tiefe Einarbeitung in ein Thema, Fähigkeit zur spontanen Beantwortung von Rückfragen |
Klausur ohne Hilfsmittel |
Nur Online-Gesetzbuch | 2 – 5 Stunden | Auswendig abrufbares Fachwissen, Methodenkompetenz, schnelle Falllösung |
Hybridklausur mit begrenztem Hilfsmittelzugriff |
Begrenzte juristische Online-Datenbanken (ggf. kostenfrei), keine LLMs | 2 – 5 Stunden | Schnelle Aufarbeitung vieler Standardprobleme |
KI-Klausur mit umfassendem Hilfsmittelzugriff |
Vollumfänglich (inkl. LLMs). | 2 – 5 Stunden | Wissenschaftliche Aufarbeitung komplexer Spezialprobleme, Kompetenz zu souveränem Umgang mit KI im juristischen Bereich |
References
↑1 | Nach dem Prinzip des ‚Constructive Alignment‘ gilt dies in gleicher Weise auch für die Lehre. Wie Lehrformate angepasst werden, um neu benötigte Kompetenzen zu vermitteln, bedarf jedoch einer gesonderten Auseinandersetzung. |
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↑2 | Auf https://oa-kommentar.de (OAK) – der ersten gemeinnützigen und kostenlosen Plattform für Open-Access-Kommentare in Deutschland – entsteht gerade der erste GG-Kommentar. Idealerweise sind bis 2030 sechs Kommentare zum materiellen sowie prozessualen Recht aller drei Rechtsgebiete frei verfügbar. |