Schutzpflicht mit 16 Adressaten
Die Triage-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und das Infektionsschutzrecht werden keine Freunde mehr. Während der Pandemie hatte das BVerfG den Grundrechtsschutz zunächst weitgehend den Verwaltungsgerichten überlassen, die im Großen und Ganzen auch ganz gute Arbeit geleistet haben. Im November 2021 hat es dann in den beiden Bundesnotbremse-Entscheidungen zu den Ausgangsbeschränkungen und den Schulschließungen den an sich einzelfallbezogenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in einem verwegenen Gesamtschutzkonzept versenkt, mit dem es sich den Vorwurf der „Rechtsschutzverweigerung“ einfangen musste.1) Auch in der Entscheidung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht „räumt [es] mit perfekter dogmatischer Artistik nahezu alles ab, was dem Gesetzgeber das Leben schwer machen könnte“.
Gemessen an dieser Pandemie-Passivität legt das BVerfG in seinen beiden Entscheidungen zur Triage bei knappen Behandlungsressourcen einen geradezu aktivistischen Übereifer an den Tag. Mit Beschluss vom 16.12.2021 hat es „dem Gesetzgeber“ eine Verletzung seiner Schutzpflichten für Menschen mit Behinderung attestiert, um ihm dann vier Jahre später mit Beschluss vom 23.09.2025 zu attestieren, er sei wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz gar nicht „der Gesetzgeber“. Schwerer kann man dem Gesetzgeber das Leben nicht machen.
Kein einziges Problem gelöst: Die Triage-I-Entscheidung
Auslöser des ersten Triage-Beschlusses waren Verfassungsbeschwerden von Menschen mit Behinderung, die der Auffassung waren, dass der Gesetzgeber sie in Situationen medizinischer Knappheit nicht hinreichend vor Diskriminierungen schütze. Es gab seinerzeit keine einschlägigen parlamentsgesetzlichen Regelungen, sondern lediglich Empfehlungen und Stellungnahmen der medizinischen Fachgesellschaften und der Bundesärztekammer, wonach die klinische Erfolgsaussicht der intensivmedizinischen Behandlung ein wesentliches Kriterium bei knappheitsbedingten Allokationsentscheidungen sein solle.
Nun kann das Kriterium der Erfolgsaussicht die Chancen von Menschen mit Vorerkrankungen bzw. Behinderungen in solchen Situationen tatsächlich verschlechtern. Es ist daher grundsätzlich nachvollziehbar, dass das BVerfG in seiner ersten Entscheidung aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG eine staatliche Schutzpflicht dahingehend abgeleitet hat, Menschen mit Behinderung vor Diskriminierungen zu schützen. Auch kann man verstehen, dass „der Gesetzgeber“ aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verpflichtet sein kann, Vorkehrungen gegen Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung zu treffen (Rn. 96), wenn das Risiko besteht, dass sie in einer Triage-Situation bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden (Rn. 109).
Worin aber bestand eigentlich genau dieses Risiko? Die Empfehlungen der Bundesärztekammer hatten immerhin schon seinerzeit angemahnt, dass auch unter Knappheitsbedingungen „die Probleme vulnerabler und benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen“ seien; ausdrücklich wurde darauf verwiesen, dass Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG jede Differenzierung auch aufgrund der Behinderung auf allen Stufen ausschließe (Rn. 111). Nun kann man natürlich mit guten Gründen an den verfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) und die aus ihm abgeleitete Notwendigkeit erinnern, dass grundrechtswesentliche Fragen im Gesetz geregelt werden müssen. Aber mit dieser Frage befasst sich das BVerfG überhaupt nicht. Vielmehr zitiert es aus Stellungnahmen von Sozialverbänden, wonach die Lebenssituation und -qualität von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt werde, weil das in Krankenhäusern tätige Personal in Entscheidungssituationen unter hohem zeitlichen und ökonomischen Druck stehe und zudem im Umgang mit Menschen mit spezifischen Behinderungen in der Regel nicht geschult sei (Rn. 113). Daraus kann in der Tat ein die staatliche Schutzpflicht auslösendes Risiko für Menschen mit Behinderung erwachsen. Aber wer wäre eigentlich der richtige Adressat dieser Schutzpflicht? Jedenfalls nicht der Gesetzgeber, denn es handelt sich um ein Risiko im Klinikalltag, das nicht dadurch verschwindet, dass Vorgaben für die Triage aus den berufsständischen Leitlinien in ein Parlamentsgesetz überführt werden. Ein Gesetz allein löst kein Anwendungsproblem, das auf die wesentlich grundsätzlichere Herausforderung zurückzuführen ist, Mitarbeitende im Gesundheitswesen adäquat zu wertschätzen, zu schützen und zu qualifizieren.
Auch in der Sache hat die erste Triage-Entscheidung das eigentliche Verteilungsproblem nicht gelöst und auch nicht lösen können, weil es dilemmatischer Natur ist: Auf der einen Seite muss die Aussicht auf Behandlungserfolg nicht nur in Knappheitssituationen, sondern generell ein Maßstab für medizinische Maßnahmen sein und ist deshalb auch nach Meinung des BVerfG verfassungsrechtlich unbedenklich (Rn. 188); auf der anderen Seite lässt sich aber schwerlich bestreiten, dass es Menschen mit Behinderungen bzw. Vorerkrankungen in einer Verteilungssituation schlechter stellen kann. Das Dilemma löst auch das BVerfG nicht auf, sondern schiebt die Verantwortung auf den Gesetzgeber. Den Beschwerdeführenden ist damit überhaupt nicht geholfen, denn die beiden widerstreitenden Entscheidungsparameter standen schon zuvor in den Leitlinien, die aber angeblich unzureichend waren, um dem Risiko von Diskriminierungen zu begegnen.
Die erste Triage-Entscheidung hat also kein einziges Problem gelöst, sondern der Vielzahl der Probleme in medizinischen Knappheitslagen nur noch ein weiteres hinzugefügt. „Der Gesetzgeber“ musste ein Problem lösen, das für ihn in doppelter Hinsicht unlösbar war: Weder konnte er mit einem Federstrich die Probleme der Triage unter den Bedingungen des deutschen Klinikalltags bewältigen noch eine Zauberformel entwickeln, die die Erfolgsaussicht als Allokationskriterium normiert, ohne Menschen mit Behinderung latent zu benachteiligen. Dennoch hat er sich der aus Spielen gegen Bayern München bekannten Herausforderung „Du hast keine Chance, aber nutze sie“ brav gestellt und nach einem aufwändigen Gesetzgebungsverfahren mit § 5c IfSG eine im Grunde ehrliche Norm geschaffen, die in ihrem Absatz 1 das Verbot der Diskriminierung u.a. wegen der Behinderung betonte, während sie in ihrem Absatz 2 gleichsam gegenläufig postulierte, dass die Zuteilungsentscheidung nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden durfte. Die viel diskutierte Ex-post-Triage wurde ausgeschlossen (§ 5c Abs. 2 S. 4 IfSG).
Kompetenznormrabulistik: Die Triage-II-Entscheidung
Diese gesetzlichen Vorgaben von Zuteilungsentscheidungen gingen nun wiederum einigen Ärzten zu weit, die darin unbotmäßige Verengungen ihrer durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Therapiefreiheit sahen. Das existentielle Triage-Dilemma in ein Problem des ärztlichen Berufsrechts umzuformulieren, zeugt schon von einem bemerkenswerten Standesbewusstsein. Unter diesem Aspekt kann man sogar begrüßen, dass das BVerfG die Frage auf dem neutraleren Terrain der Gesetzgebungskompetenzen abgehandelt hat.
Das Ergebnis der Kompetenzprüfung ist allerdings ebenso kurios wie deprimierend: „Der Gesetzgeber“, der bereits im Tenor der Entscheidung Triage I zweimal benannt wurde (etwa Leitsatz 2: „Der Gesetzgeber ist gehalten, unverzüglich geeignete Vorkehrungen zu treffen.“) und dann unzählige Male in den Entscheidungsgründen, hat in den knapp vier Jahren zwischen den beiden Entscheidungen eine überraschende Zellteilung durchlaufen. Es gibt ihn nun 16-mal. § 5c IfSG ist nichtig, denn für die Regelung der Triage sollen nach Art. 70 Abs. 1 GG allein die Länder zuständig sein. „Der Gesetzgeber“ in der Triage I-Entscheidung war also eher generisch gemeint (m/w/d). Oder ist die Annahme zu verwegen, dass der 1. Senat Ende 2021 noch nicht wusste, wer eigentlich „Der Gesetzgeber“ ist, als er ihm (m/w/d) eine Schutzpflicht auferlegte? Nicht nur der Bundesgesetzgeber, der in der Annahme seiner eigenen Verpflichtung ein aufwändiges Gesetzgebungsverfahren durchgeführt hat, dürfte sich die Augen reiben, sondern auch die Länder: Von Kiel bis München und von Saarbrücken bis Dresden wird man bis Dienstag, den 4.11.2025, 10 Uhr, noch nicht einmal geahnt haben, dass man „Der Gesetzgeber“ für die Triage ist und seit Jahren eine Schutzpflicht für Menschen mit Behinderung verletzt.
Auch die Begründung für die Aufteilung des Gesetzgebers aus Triage I in 16 Akteure in Triage II wirft Fragen auf.
Der Kompetenztitel Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG („Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen“) soll nicht einschlägig sein, weil § 5c Abs. 1-3 IfSG „reine Pandemiefolgenregelungen“ enthalte und keine Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten (Rn. 91). Der Begriff „Pandemiefolgenregelung“ wird als Gegenbegriff zur „Pandemiebekämpfung“ (Rn. 104) erstmals eingeführt. Sonderlich glücklich ist diese Entgegensetzung nicht; man assoziiert „Pandemiefolgen“ eher mit Regelungen zum sozialen Ausgleich nach der Pandemie, zur finanziellen Kompensation von Betriebsschließungen oder zur Versicherung von Unternehmen gegen die zukünftigen wirtschaftlichen Auswirkungen einer Pandemie.2) Die Triage im Fall von knappen Intensivbetten oder Beatmungsgeräten ist hingegen nicht die Folge, sondern mittendrin in der Pandemie; man muss sogar sagen: Mehr „mittendrin“ geht eigentlich gar nicht. Zudem erzeugt das Begriffspaar „Pandemiefolge – Pandemiebekämpfung“ Abgrenzungsprobleme bei der Frage, wie denn die Behandlung infizierter Menschen generell kompetenzrechtlich einzuordnen sein soll: In der Logik des BVerfG wäre vorstellbar, dass sie noch so lange „Pandemiebekämpfung“ und daher Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG anwendbar ist, wie der Patient infiziert ist und daher das Virus weiter tragen kann; sobald er „negativ“ ist, würden nur noch die „Pandemiefolgen“ behandelt. Das BVerfG vermeidet diese Aufteilung des Behandlungsablaufs unter Hinweis darauf, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Var. 1 GG nur Maßnahmen gegen übertragbare Maßnahmen „bei“, aber nicht „von“ Menschen decke und daher generell keine Maßnahmen der Krankenbehandlung. Im Angesicht dieser feinsinnigen Arbeit mit den Worten fragt man sich unwillkürlich: War da nicht schon mal was? Ja: der später wieder aufgegebene Halbteilungsgrundsatz, der die verfassungsrechtlich zulässige Steuerlast auf 50% beschränken und angeblich allein aus dem Wort „zugleich“ in Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG folgen sollte. Wir lernen jedenfalls: Schon im Parlamentarischen Rat war man der Überzeugung, dass eine Pandemie zwar durch die Isolierung von Infizierten (= Kontaktbeschränkung), aber nicht durch deren Behandlung bekämpft wird. Sonderlich intuitiv ist das nicht, zumal das BVerfG anderenorts betont, dass selbst „mittelbar wirkende Maßnahmen zur Vorbeugung oder Bekämpfung“ vom Kompetenztitel erfasst sein könnten (Rn. 93). Wer infiziertes Pflegepersonal behandelt, bewältigt nicht nur Pandemiefolgen.
Selbst wenn man dieser Kompetenznormrabulistik irgendetwas abgewinnen wollte, müsste man zumindest die Kontrollfrage stellen, wie denn die Kompetenzprüfung ausgefallen wäre, wenn der Regelungsinhalt des § 5c IfSG etwa in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) oder das Sozialgesetzbuch IX oder V (SGB IX bzw. V) übernommen worden wäre. Müsste nicht der Kompetenztitel „Bürgerliches Recht“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) einschlägig sein, wenn man in das AGG nach Abschnitt 3 einen Abschnitt „Schutz vor Benachteiligungen bei der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen“ eingeführt hätte oder wäre an Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zu denken, wenn § 5c IfSG nicht als „gesundheitspolitische Regelung [..] mit starkem berufsausübungsrechtlichem Einschlag“ (Rn. 126), sondern als leistungsrechtliche Norm für Menschen mit Behinderung ausgeformt worden wäre? Und wäre nicht ohne Zweifel Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG („Sozialversicherung“) einschlägig, wenn der Gesetzgeber in den Allgemeinen Teil des Leistungsrechts (§§ 11 ff. SGB V) eine allgemeine Bestimmung zur Verteilung von knappen Gesundheitsgütern aufnehmen und insoweit die Leistungspflicht der Krankenkassen beschränken würde? Umgekehrt formuliert: Soll es tatsächlich von einzelnen Formulierungen oder gar vom Standort einer Regelung abhängen, wohin sie kompetenzrechtlich gehört?
Zurück zum Urzustand
Zwei Mitglieder des Senats haben die Entscheidung ohne Begründung nicht mitgetragen. Vielleicht sind sie zu der weisen Einsicht gelangt, dass das BVerfG die Weichen schon in der ersten Entscheidung falsch gestellt hat und es sich mit der nun getroffenen Entscheidung in den Kreis der Verlierer einreihen wird, weil es das Problem, das es selbst erzeugt hat, nicht löst.
Verloren hat jedenfalls der Bund, der durch die Triage I-Entscheidung auf eine falsche Fährte gesetzt wurde und jetzt allenfalls noch prüfen könnte, ob er auf der Grundlage anderer Kompetenztitel einen neuen Versuch startet, der die Triage aus dem arztrechtlichen Kontext löst. Auf einem anderen Konfliktfeld muss er zudem fürchten, dass die kleinteiligen und eben nur vermeintlich klaren Kompetenzabgrenzungen in der Triage II-Entscheidung Schule machen. Dann würde es als Nächstes nämlich die Krankenhausreform erwischen, weil das BVerfG in ihr natürlich Regelungen aufspüren wird, die sich ungeachtet des Fokus auf das dem Bund zustehende Recht der Krankenhausfinanzierung und der Qualitätssicherung irgendwie auch auf das den Ländern zustehende Recht der Krankenhausplanung auswirken.
Auch der Föderalismus und speziell die Länder werden durch die Triage II-Entscheidung nicht gestärkt, weil diese ihre Kompetenzen angesichts der länderübergreifenden Problematik nur als „gegenseitig abgestimmte Gesetzgebung“ (Rn. 137) werden wahrnehmen können. Das BVerfG drängt ihnen eine Kompetenz auf, an der sie zu Recht ein bislang überschaubares Interesse hatten. Der Föderalismus braucht Luft zum Atmen und bleibt immer auch politischer Prozess, dem kleinteilige verfassungsgerichtliche Determinierung wenig hilft.
Schließlich haben neben den Menschen mit Behinderung auch die nunmehr Beschwerde führenden Ärzte nichts gewonnen, denn im Zweifel bekommen sie den Regelungsinhalt des für nichtig erklärten § 5c IfSG demnächst in 16-facher Ausfertigung zurück. Ihre einzige Hoffnung ist, dass die Koordination der Länder ähnlich erratisch verläuft wie ehedem die Ministerpräsidentenkonferenz in der Pandemie und das Vorhaben scheitert. Eine Frist hat das BVerfG den Ländern ja nicht gesetzt, und konnte das auch schwerlich, weil die Länder ja am Verfahren nicht unmittelbar beteiligt waren.
Einstweilen verbleibt es also bei den ärztlichen Leitlinien als einzigem Entscheidungsmaßstab, womit wir nach dem Besuch einiger Sackgassen wieder in den Urzustand vor der ersten Triage-Entscheidung des BVerfG zurückgekehrt wären. Welcome to Germany!




In Fachkreisen wird wohl teils für länderübergreifende Katastrophenfälle eine Zuständigkeit des Bundes nach Artikel 35 Absatz 2, 3 Grundgesetz kraft Natur der Sache erwogen.
Eine länderübergreifende schwere Pandemie könnte eventuell entsprechend als eine Art gesundheitlicher, länderübergreifender Katastrophenfall aufgefasst werden, für welchen dies in Betracht kommen könnte.
So völlig klar abwegig, dass dies nicht noch etwas näher hätte erwogen werden können, sollte dies nicht ohne Weiteres erscheinen.
Im jetzigen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist dies und ist Artikel 35 Absatz 2, 3 Grundgesetz wohl nicht entfernt in einer Weise näher erwähnt.