25 May 2022

Abschied von der Verhältnismäßigkeit?

Überraschen konnte der Beschluss des BVerfG vom 27. April 2022 zur sog. „einrichtungs- und unternehmensbezogene[n] Nachweispflicht“ (Rn. 1) nicht: Die Pflicht, eine COVID-19-Schutzimpfung nachzuweisen, also die sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht, wie die Regelung des § 20a IfSG in der allgemeinen (Medien-)Öffentlichkeit meistens genannt wird, ist verfassungsgemäß. Schon der Eilantrag war erfolglos geblieben. Der Beschluss vom 27. April 2022 führt die Neuausrichtung der Verhältnismäßigkeitsprüfung fort, die bereits in den Entscheidungen „Bundesnotbremse I“ (dort Rn. 217) und „Bundesnotbremse II“ (dort Rn. 135) vorangetrieben wurde.

Ausgangspunkt für das BVerfG ist Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der nicht nur Integritäts-, sondern zugleich auch Selbstbestimmungsschutz gewährt (Rn. 111). Der Erste Senat stützt sich an dieser Stelle überwiegend auf Rechtsprechung des Zweiten Senats, die er m.E. nicht vollständig und nicht differenziert genug in Bezug nimmt. Der Zweite Senat stellt, wenn ich seine Judikatur richtig verstehe, neben Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Idealkonkurrenz das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Der Erste Senat (Rn. 111) zitiert BVerfGE 158, 131, Rn. 56, nicht aber BVerfGE 158, 131, Rn. 71, wo das allgemeine Persönlichkeitsrecht eine eigenständige Bedeutung in Gesundheitsfragen bekommt, und zwar nicht nur im Hinblick auf die medizinische Zwangsbehandlung psychisch beeinträchtigter Personen, die in der Judikatur beider Senate immer wieder eine Rolle spielt. Ein genauerer Blick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht hätte für den Ersten Senat nahe liegen müssen, weil er es in seiner eigenen Rechtsprechung bislang bei Gesundheitsfragen ebenfalls stark gemacht hat. So führt der Erste Senat zwar (Rn. 111 a.E.) auch seine Entscheidung BVerfGE 142, 313 Rn. 74, an, erwähnt aber das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das in der zitierten Randnummer hervorgehoben wird, nicht. Einer Auseinandersetzung mit der von Art. 1 Abs. 1 GG ausgehenden Geltungsverstärkung zugunsten der körperlichen Integrität, die Abwägungen tendenziell erschwert, geht aus dem Wege, wer das allgemeine Persönlichkeitsrecht als irrelevant ausblendet.

Dass es sich um einen Grundrechtseingriff handelt, wenn mich der Staat in eine Situation bringt, in der ich meine körperliche Integrität gegen den Arbeitsplatzerhalt eintauschen muss, sofern ich (wie die allermeisten Menschen) nicht Erbe, Lottogewinner oder bettelbereit bin, sollte auf der Hand liegen und bedarf eigentlich nicht vieler Worte. Freiheit wird hier, staatlich veranlasst, reduziert. Das BVerfG variiert demgegenüber wortreich (Leitsatz 1, Rn. 114) seine um die Formulierungen „funktionales Äquivalent“, nicht nur „bloßer Reflex“, „mittelbar faktische Wirkung“ und „gesetzgeberische Zielsetzung“ angelegten bekannten Begründungsbausteine, ohne sich die Frage zu stellen, ob es sich nicht um einen „klassischen“ Eingriff handelt. Das dem Gesetzgeber zuzurechnende Inaussichtstellen „nachteilige[r] Konsequenzen“ (Rn. 114), die typischerweise erwartbar vom Normadressaten nicht in Kauf genommen werden, bedingt das staatlich intendierte Verhalten, nämlich sich impfen zu lassen.

Dass (vgl. § 20a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 22a Abs. 1 und 2 IfSG) „fast alle im Gesetz geregelten Anforderungen an einen Impf- und Genesenennachweis durch den Verordnungsgeber abweichend geregelt werden“ können (Rn. 132), ist, so das BVerfG, mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG als Ausprägung des Wesentlichkeitsgrundsatzes (Rn. 126) vereinbar. Der Sachbereich ist komplex, unterliegt dynamischer Veränderung und ist von spezifischer Fachkompetenz abhängig (Rn. 133 ff.), über die das Robert Koch-Institut (RKI), das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und die Ständige Impfkommission (STIKO) als gesetzlich anerkannte Wirklichkeitslieferanten verfügen (Rn. 138 f., Rn. 159 f.). Dem Gesetz könnten hinreichend bestimmte „Leitlinien“ (Rn. 129; s. auch Rn. 132) entnommen werden. Ist das überzeugend, wenn „fast alle im Gesetz geregelten Anforderungen“ durch den Verordnungsgeber abweichend geregelt werden können?

Ob das Gesetz verhältnismäßig ist, setzt einen legitimen Zweck voraus. Besteht er darin, eine Gefahrenlage abzuwenden, dann erstreckt sich die Prüfung des BVerfG „auch darauf, ob die dahingehende Annahme des Gesetzgebers hinreichend tragfähige Grundlagen hat“ (Rn. 151), wobei bei unwägbarer wissenschaftlicher Erkenntnislage eine vertretbare Beurteilung der verfügbaren Informationen ausreicht (Rn. 152). Dreh- und Angelpunkt ist die Einschätzung, dass vulnerable, vor allem ältere, insbesondere aber immunsupprimierte Personen (Rn. 12, Rn. 154, Rn. 162) aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Schutzpflicht, Rn. 155) eines besonderen Schutzes bedürfen (Rn. 154, 161 ff.). Dass mit der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht, also der sog. einrichtungsbezogenen Impfpflicht, dieses Ziel erreicht werden könne (Rn. 166), sei jedenfalls eine vertretbare Annahme (Rn. 168). Die bloß potentielle Wirksamkeit wird mithilfe eines nicht regelhaft engen Einschätzungs- und Bewertungsspielraums ermittelt (Rn. 166). D.h., die Geeignetheit (das BVerfG spricht von Eignung, z.B. Rn. 166) steht dem Gesetzgeber auch hier wie meistens nicht im Wege. Veränderungen des Wissenstands, die den gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum nachträglich beschränken könnten, lägen nicht vor (Rn. 170; ebenso mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Rn. 235 f.). Der Gesetzgeber habe es nicht versäumt, „für eine Verbesserung der Erkenntnislage zu sorgen“ (Rn. 170). Wie lange und wie intensiv er sich darum bemühen muss, etwa indem er Forschung gezielt initiiert (s. auch Rn. 235), bleibt offen.

Interessanterweise geht das BVerfG unter dem Aspekt der „Eignung“ (Geeignetheit) auf das Problem ein, es sei zu erwarten, dass „jedenfalls ein Teil“ (Rn. 182) der in den Einrichtungen und Unternehmen tätigen Personen trotz der Nachweispflicht ungeimpft bleiben werde. Zwar könne das Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit haben, aber gesicherte Erkenntnisse über „systemgefährdende Auswirkungen“ (Rn. 182) fehlten zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses. „Kein Verband“, gemeint sind die im Gesetzgebungsverfahren angehörten Berufs- und Sozialverbände, „hat […] die Befürchtung geäußert, wonach eine systemrelevante Zahl von Personen […] ihre Tätigkeit zur Vermeidung einer Impfung beenden könnte oder wegen fehlender Impfung beenden müsste“ (Rn. 182). Lag das vielleicht daran, dass es sozial- und berufspolitische Gründe gab, die mutmaßlich mangelnde Impfbereitschaft bestimmter Berufsgruppen klein zu reden, die das Gericht an anderer Stelle durchaus wahrnimmt (Rn. 176 a.E.)? Wenn sich das nicht ausschließen lässt, wie plausibel ist es dann, von gesicherten Erkenntnissen auszugehen?

Die wohl wichtigsten Aussagen zur Geeignetheit („Eignung“) finden sich in der Passage des Beschlusses, der den Wirkungszusammenhang zwischen einem Impfstoff und einer noch unbekannten Virusvariante thematisiert. Das Gericht verweist u.a. auf das Paul-Ehrlich-Institut, das im Hinblick auf die Omikron-Variante nach zwei Impfdosen von einer Impfwirksamkeit von 42,8% ausgeht (Rn. 184). Wer eine „allgemeine“ Impfpflicht einführen will, sollte diese Passage besonders intensiv auswerten.

Da vulnerable Personen im Sinne eines Rundumschutzes effektiv gegen Infektionen abgeschirmt werden, scheiden mildere Maßnahmen, insbesondere Testungen (Rn. 192), aber auch die noch entwicklungsbedürftigen Anti-COVID-19-Medikamente (Rn. 198) als weniger effektiv aus. Auch die Pflicht vulnerabler Personen, sich selbst durch eine Impfung zu schützen, sei kein milderes Mittel; ihr Allgemeinzustand nehme der Impfung die bei nicht-vulnerablen Personen bestehende Schutzwirkung (Rn. 199). Wer wie etwa einige Mitglieder des Deutschen Ethikrates eine altersabhängige Impfpflicht für vulnerable Personen als Minus zu einer „allgemeinen“ Impfpflicht fordert, muss einsehen, dass sich diese Forderung beim derzeitigen Wissens- und Diskussionsstand mit der umfassenden Schutzpflicht zugunsten aller vulnerablen Personen (Rn. 155) kaum vereinbaren lässt.

Die Nachweispflicht ist laut BVerfG auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Entscheidend ist dieser Satz: „Auch bei der Prüfung der Angemessenheit besteht grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers“ (Rn. 204). Diese in den Beschlüssen „Bundesnotbremse I“ (dort Rn. 217) und „Bundesnotbremse II“ (dort Rn. 135) beiläufig daherkommende Neuausrichtung wird in der verfassungsrechtswissenschaftlichen Debatte noch zu wenig wahrgenommen. Dass die Prüfungsstufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne eine abschließende Stimmigkeitsprüfung aus Sicht des BVerfG darstelle, bei der – anders als bei der Geeignetheit und der Erforderlichkeit – der gesetzgeberische Einschätzungsspielraum keine Rolle spiele,1) trifft nicht mehr zu. Am Ende muss der Gesetzgeber nur darlegen, dass seine Gewichtung der Belange (Rn. 205 ff.) vertretbar ist (Rn. 204) und nicht zu evidenten Maßlosigkeiten führt. So wird es leichter, gesetzgeberische Zumutungen als verfassungsgemäß ausweisen.

Der Umstand, „dass eine Impfung im ganz extremen Ausnahmefall auch tödlich sein kann“ (Rn. 208), hat unter dem Aspekt der Zumutbarkeit nachrangige Bedeutung. Dass der ganz extreme Ausnahmefall nach probabilistischen Grundsätzen, also statistisch betrachtet, regelmäßig extrem selten eintritt, sagt nichts über den Eintritt im Einzelfall. Das individuelle Todesrisiko wird in eine statistische Unwahrscheinlichkeit umdefiniert (Rn. 223 ff.), und jedem, der ein Unbehagen bis hin zur Todesangst empfindet, wird signalisiert, er oder sie solle sich mal nicht so haben.

Zumutbar sei die Nachweispflicht auch, weil sie nicht mit „gegebenenfalls hoheitlich durchsetzbare[m] Impfzwang“ (Rn. 209) verbunden sei. Durch genaue Gesetzesauslegung könnten zudem übermäßige Inpflichtnahmen bestimmter Personalgruppen vermieden werden (Rn. 214; mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG Rn. 259 ff.). Auch medizinische Kontraindikationen (§ 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG) seien zu beachten (Rn. 220). Überdies trete das Tätigkeitverbot nicht zwingend ein, sondern erst nach einer Ermessensentscheidung, die auf ein Tätigkeitsverbot verzichten könne (Rn. 215; s. auch Rn. 262). Vielleicht komme ja Home-Office in Betracht (Rn. 215, Rn. 259). Für die allermeisten Berufe, die (der im Übrigen bis 31. Dezember 2022 befristete, vgl. Rn. 154) § 20a IfSG im Auge hat, erscheint das wenig lebensnah. Zwar müsse jede von der Nachweispflicht betroffene Person letztlich auch mit einer Kündigung rechnen (Rn. 259) – das BVerfG spricht klar aus, was der Gesetzgeber nicht klar aussprechen wollte2) –, und doch bleibe ihr die Wahl, „entweder ihre bisherige Tätigkeit aufzugeben oder aber in die Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität einzuwilligen“ (Rn. 209). Dies sei mit Blick auf das Ziel, „vulnerable Personen vor einer schwerwiegenden oder sogar tödlichen COVID-19-Erkrankung zu schützen“ (Rn. 263), zumutbar.

Für Grundfragen, die das dogmatische Puzzlespiel irritieren könnten, ist in dem Beschluss kein Raum. Dazu gehört die Problematik des „Gesundheitspräventionsstaats“, die das stillschweigend mitlaufende Großthema der Pandemie ist; die Bedeutung des Körpers, der nicht beliebig manipulierbare res extensa ist, sondern Ausdrucksfeld der eigenen Persönlichkeit, deren Selbstverständnis vom vorgeblich „kleinen Piks“ der Impfspritze durchaus betroffen sein kann; die Marginalisierung der von gezielten Negativanreizen möglichst freien Einwilligung (Rn. 114, Rn. 207), die zum menschenrechtlichen Kern des modernen Gesundheitsrechts gehört. Um vor diesem Hintergrund Maßlosigkeiten zu vermeiden, ist es, wie schon erwähnt, wichtig zu wissen, wie lange und wie sehr sich der Gesetzgeber bemühen muss, die relevanten Fakten wissenschaftlich fundiert aufzuklären (Rn. 170, Rn. 235). Ansonsten bleibt die der Verhältnismäßigkeit dienende nachträgliche Korrektur eines Gesetzes nur eine abstrakte Option, mit der der Gesetzgeber gut leben kann.

Gegen die Logik des „Wir werden alle sterben, wenn es keine Impfpflicht gibt“ hat Differenzierung keine Chance. Wer auf verlässlichen gesundheitsbezogenen Minderheitenschutz hofft – Ute Sacksofsky hat diese Problemdimension zu Recht thematisiert –, wird sich pathologisieren lassen müssen (medizinische Kontraindikation, § 20a Abs. 1 Satz 2 IfSG). Ansonsten gilt der Impf(pflicht)verweigerer als lebensgefährdender „Störer“, und wie könnte, wer Leben gefährdet, irgendeinen rechtlich geschützten Respekt erwarten, selbst wenn es sich um hunderttausende, vielleicht Millionen „Störer“ handelt? Jede abweichende Wirklichkeitskonstruktion gerät unter Verdacht. Sie ist nie Ausweis schutzwürdiger epistemischer Diversität, sondern immer Zeichen lebensgefährlichen Realitätsverlusts, der rechtlich bekämpft werden muss. Die Pflicht, vulnerable Personen effektiv zu schützen – ein Synonym für maximalistischen Lebensschutz – lässt keine Alternative. Im Gegenteil: Dass in der Pandemie trotz vieler Schutzmaßnahmen zahlreiche vulnerable Personen verstorben sind, belegt in diesem Weltbild nur, dass die Grundrechtseingriffe, die Schutz verheißen, intensiviert werden müssen.

Der Beschluss vom 27. April 2022 räumt mit perfekter dogmatischer Artistik nahezu alles ab, was dem Gesetzgeber das Leben schwer machen könnte. Daher bleibt die Frage berechtigt, wieso das BVerfG „die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Leerlauf gestellt“ hat. Wer die Frage für unsachlich hält oder gar eine Art Majestätsbeleidigung vermutet, sollte sich an die Worte der früheren Präsidentin des BVerfG, Jutta Limbach, erinnern:3) „[A]lle öffentlichen Institutionen [müssen sich] kritische Gegenfragen gefallen lassen und sich mit diesen auseinandersetzen. Das gilt für das Bundesverfassungsgericht umso mehr, als seine Mitglieder – im Gegensatz zu den Politikern – nicht in periodisch wiederkehrenden Wahlen zur Verantwortung gezogen werden können. Das Gericht ist zu seinem Vorteil nie von Kritik verschont geblieben.“ Das BVerfG wird, so ist zu hoffen, bald einsehen, wie wichtig es ist, dass seine Pandemie- und Impfpflicht-Rechtsprechung nicht von (Selbst-)Kritik verschont bleibt.

References

References
1 zur Kritik Kingreen/Poscher, Grundrechte – Staatsrecht II, 37. Aufl. 2021, Rn. 407, Rn. 415
2 BT-Drucks. 20/188, S. 41
3 Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2. Aufl. 2010, S. 75