Versammlungsfreiheit zwischen Theorie und Realität
Der Martinstor-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als nächstes Kapitel der Sitzblockaden-Rechtsprechung
Kurz bevor das Bündnis „Widersetzen“ auch mit Sitzblockaden gegen die geplante Neugründung einer AfD-Jugendorganisation in Gießen protestieren will, hat das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung zu zentralen Fragen dieser friedlichen Aktionsform veröffentlicht. Erfreulicherweise bestätigt der Erste Senat, dass Sitzblockaden grundsätzlich von der Versammlungsfreiheit umfasst sind. Zugleich bleibt der praktische Schutz Teilnehmender ungewiss ‒ und im Vorbeigehen verpasst Karlsruhe dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG eine neue Einschränkung.
Von Freiburg nach Karlsruhe
Am 10. April 2015 veranstaltete die erzreaktionäre Piusbruderschaft, eine unter anderem wegen ihrer queerfeindlichen Positionen in der Kritik stehende Priestervereinigung, in der Freiburger Innenstadt eine Versammlung zum Thema „Schutz des ungeborenen Lebens“. Aus Protest gegen den Aufmarsch setzten sich rund 70 Personen in die beiden Torbögen des Freiburger Martinstores. Sie hielten Plakate mit Aufschriften wie „Gegen reaktionäre Knetköpfe“ in den Händen und riefen Sprechchöre wie „Eure Priester sind so schwul wie wir“. Durch diese Sitzblockade wurde der Aufzug der Piusbruderschaft daran gehindert, sich auf der geplanten Route weiterzubewegen. Die Polizei löste die Versammlung der Gegendemonstrierenden schließlich auf und trug bzw. drängte sie von der Straße. Das Amtsgericht Freiburg verurteilte einen der Teilnehmer wegen seiner Beteiligung an der Sitzblockade – sowohl vor als auch nach der Versammlungsauflösung – gemäß § 21 VersG zu einer Geldstrafe. Diese wurde vom Oberlandesgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 1. September 2020 bestätigt. Mit seiner von der Gesellschaft für Freiheitsrechte unterstützten Verfassungsbeschwerde rügte er, dass die Verurteilung seine Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG verletze.
Sitzblockaden sind Versammlungen
Das Bundesverfassungsgericht nimmt zunächst Bezug auf den Brokdorf-Beschluss von 1985 und betont, dass die Versammlungsfreiheit für die freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend sei – auch in Zeiten einer zunehmend digitalisierten Welt (Rn. 70 f.). Gleich darauf wandte sich das BVerfG der Frage zu, ob die Versammlungsblockade durch die Gegendemonstrierenden vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasst war. Mit seinem Beschluss entwickelt es seine jahrzehntelange Sitzblockaden-Rechtsprechung weiter:
Nachdem das Gericht 1986 in einer Entscheidung zu Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluss geklärt hatte, dass Sitzblockaden friedlich i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG sein können, rückte Anfang der 2000er-Jahre die Frage in den Vordergrund, ob Blockadeaktionen überhaupt unter den Versammlungsbegriff des Grundgesetzes fallen. Dabei differenzierte das Gericht in seiner Leitentscheidung von 2001 danach, ob nach einer Gesamtschau der kommunikative Zweck oder das Verhinderungselement im Vordergrund steht. So kam das Gericht in dieser Entscheidung zu dem Schluss, dass das Blockieren der Zufahrt zur Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf durch Anti-AKW-Aktivist*innen von Art. 8 Abs. 1 GG geschützt sei, während es in derselben Entscheidung eine Autobahnblockade durch Sint*ezze und Rom*nja, um Gespräche über die drohende Abschiebung von Mitgliedern ihrer Community herbeizuführen, als unzulässige, selbsthilfeartige Verhinderungsblockade einordnete.1)
Im Hinblick auf Gegendemonstrationen zeigte sich das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 27.03.2024 (Rn. 50) zu den Blockadeaktionen gegen den AfD-Bundesparteitag 2016 bei der von Karlsruhe vorgegebenen Gesamtschau zurückhaltend: Der Versammlungscharakter einer Blockade könne nur dann verneint werden, wenn ihr kommunikatives Element offensichtlich einen bloßen Vorwand darstelle. Es sah die Blockade allerdings als von Anfang unfriedlich und deshalb nicht von Art. 8 Abs. 1 GG umfasst an. Mit seinem aktuellen Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht nun die Differenzierung nach dem Schwerpunkt einer „gemischten“ Blockadeaktion – jedenfalls für Gegenversammlungen – im Grundsatz aufgegeben:
„In – typischerweise auftretenden – Gemengelagen, in denen Elemente der Störung einer anderen Versammlung einerseits und Elemente der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung andererseits zusammentreffen, ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG jedenfalls dann eröffnet, wenn eine Zusammenkunft […] ein eigenständiges Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aufweist, ohne dass es auf dessen Gewichtung gegenüber dem Störungselement ankäme“ (Rn. 80).
Das ist zu begrüßen, denn eine Trennung wäre weder konzeptionell überzeugend noch praktisch handhabbar: Fälle, in denen eine Versammlung blockiert wird, ohne dass damit ein kommunikatives Anliegen verfolgt wird, sind kaum denkbar. Die Demonstration künstlich in die Blockade einerseits – also das Störungselement – und die inhaltlichen Stellungnahmen andererseits zu unterteilen, würde dem einheitlichen Lebenssachverhalt einer Blockadeaktion nicht gerecht. Aufgrund der vielfältigen Meinungsäußerungen durch Plakate und Demo-Sprüche auf der Freiburger Gegendemonstration musste das Bundesverfassungsgericht nicht entscheiden, ob auch (schwer vorstellbare) Blockadeaktionen, die sich in einer reinen Negation der gestörten Versammlung und ihrer Ziele erschöpfen, von der Versammlungsfreiheit geschützt sind (Rn. 79).
Das Gericht ist aber scheinbar nicht vollständig davon überzeugt, in Bezug auf Gegendemonstrationen keine Gewichtung vorzunehmen – so lässt es die Frage offen, „ob in Ausnahmefällen eine andere Bewertung angezeigt sein kann, wenn das jeweilige kommunikative Element von gänzlich untergeordneter Bedeutung ist“ (Rn. 83). Unklar bleibt, wie diese untergeordnete Bedeutung ermittelt werden kann, wenn das Gericht selbst eine entsprechende Gewichtung für „praktisch kaum möglich“ hält (Rn. 82).
Die Blockade des Zitiergebots
Obwohl das Bundesverfassungsgericht das Verhalten des Aktivisten also als von Art. 8 Abs. 1 GG geschützt ansah, hielt es dessen Verurteilung nach § 21 VersG für verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Diese Norm erfasst Fälle, in denen Personen Gewalttätigkeiten vornehmen bzw. androhen oder „grobe Störungen“ verursachen, wenn sie in der Absicht handeln, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln. Doch § 21 VersG stellte die Richter*innen vor ein ersichtliches Problem. Denn entgegen dem grundgesetzlichen Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG geht aus dem Versammlungsgesetz nicht hervor, dass auch mit dem Straftatbestand – und nicht nur mit den Vorschriften des dritten Abschnitts (vgl. § 20 VersG) – eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit verbunden sein kann.
Nachdem das Gericht zunächst alle gängigen Ausnahmen vom Zitiergebot prüfte und ablehnte, konstruierte es eine neue Ausnahme. Das Zitiergebot könne nur für solche Grundrechtseinschränkungen gelten, die der Gesetzgeber vorhergesehen hat oder die für ihn vorhersehbar waren (Rn. 120). Für den vorliegenden Fall kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, der Gesetzgeber habe die mit § 21 VersG potenziell verbundene Einschränkung der Versammlungsfreiheit bei Einführung der Norm im Jahr 1953 weder erkannt noch vorhersehen können.
Die Bundestagsdebatten zeigten, dass der Gesetzgeber, der mit § 21 VersG gerade den Schutz der Versammlungsfreiheit bezweckte, die Norm vor allem auf Störungen Einzelner – etwa durch „das Anstimmen von Löwengebrüll“ – beziehen wollte, nicht aber auf friedliche kollektive Protestformen, wie sie heute unter den Schutz des Art. 8 GG fallen (Rn. 151). Auch sei diese Entwicklung rechtlich nicht vorhersehbar gewesen, da es 1953 noch keine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gegeben habe (Rn. 154 ff.). Das Zitiergebot sei somit nicht verletzt.
Auf den ersten Blick wirkt diese neue Ausnahme vom Zitiergebot schlüssig: Wie kann der Gesetzgeber zu etwas Unmöglichem verpflichtet sein? Bei genauerer Betrachtung weist sie jedoch Widersprüchlichkeiten auf: Zum einen widerspricht diese Auslegung in gewisser Hinsicht der Ratio der vom Bundesverfassungsgericht etablierten Ausnahme vom Zitiergebot bei vorbehaltlosen Grundrechten (vgl. BVerfGE 64, 72, 79 f.). Dies begründet das Gericht damit, dass dem Gesetzgeber bei Eingriffen in vorbehaltlose Grundrechte bewusst sei, dass er sich im grundrechtsrelevanten Terrain bewege (und abwägen muss) (Rn. 115). Hier wird also ein entsprechendes Bewusstsein des Gesetzgebers unterstellt und nicht genauer geprüft, inwieweit dieses tatsächlich vorliegt (Rn. 116). Ganz anders ist es nun bei der neu eingeführten Fallgruppe, in der hinreichende Anhaltspunkte für ein entsprechendes Bewusstsein des Gesetzgebers verlangt werden (Rn. 121).
Mit der Anerkennung dieser Ausnahme geht das Gericht implizit davon aus, dass der Gesetzgeber, wäre ihm die Konsequenz bewusst gewesen, das Grundrecht dann auch tatsächlich hätte einschränken wollen – und es dementsprechend zitiert hätte. Dabei kann es aber auch genau andersherum sein: Möglicherweise hätte der Gesetzgeber von einer bestimmten Ausgestaltung einer Norm abgesehen bzw. eine Ausnahme eingefügt, wenn ihm die mit dieser Norm später bewirkten Grundrechtseinschränkungen vorhersehbar gewesen wären. Zwar lässt sich hiergegen einwenden, dass dem Gesetzgeber eine Nachbesserung nachträglich, z.B. nachdem er erkannt hatte, dass auch Sitzblockaden von Art. 8 GG umfasst sein können, immer noch möglich sei. Allerdings lässt sich dieses Argument genauso gut in die andere Richtung wenden: Wenn der Gesetzgeber später erkennt, dass § 21 VersG wegen einer fehlenden Zitierung nicht auf von Art. 8 Abs. 1 GG erfasstes Verhalten Anwendung finden kann (zitiergebotskonforme Auslegung, vgl. Rn. 188), er dies aber möchte, kann er die Norm immer noch erweitern bzw. in ihr eine Zitation von Art. 8 GG vornehmen. Im Ergebnis erfährt das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 GG durch den neuen Beschluss eine deutliche Schwächung.
(Keine) weitere(n) Bedenken?
Auch in materieller Hinsicht begegne § 21 VersG nach Ansicht des Senats „keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“ (Rn. 160). Insbesondere sei der mit der Norm verbundene Eingriff in die Versammlungsfreiheit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar: Zwar greife das Verbot „grober Störungen“ erheblich in die Versammlungsfreiheit der Teilnehmenden störender Gegenversammlungen ein. Diese Einschränkung bleibe jedoch punktuell, da vielfältige andere Ausdrucksformen zulässig blieben (Rn. 175 f.). Das Schutzinteresse der gestörten Versammlungsteilnehmenden wiege demgegenüber schwerer, da ihr Recht auf (ungestörte) Durchführung ihrer Versammlung durch die von § 21 VersG erfassten Verhaltensweisen insgesamt gefährdet sei (Rn. 178 f.).
Nachdem sich die ersten 47 Seiten des Beschlusses wie ein Musterbeispiel transparenter Rechtsprechung lesen, fällt die Überprüfung der verfassungsmäßigen Anwendung der Strafnorm erstaunlich knapp aus. Das Gericht prüft mit keinem Wort, ob die Strafgerichte die Bedeutung des Art. 8 GG hinreichend gewürdigt haben. Auch finden sich keine Ausführungen zu der vom Bundesverfassungsgericht üblicherweise praktizierten einschränkenden Auslegung der die Versammlungsfreiheit einschränkenden Normen im Sinne der Bedeutung des Grundrechts (vgl. hier, Rn. 36 und hier, Rn. 38, sog. Wechselwirkungslehre). Dabei bietet der unbestimmte Rechtsbegriff der „groben Störung“ genug Auslegungsspielraum, um die verfassungsrechtlichen Wertungen und insbesondere die besondere Bedeutung des Art. 8 GG in die Auslegung einfließen zu lassen. Dort hätte berücksichtigt werden können, dass der Aufzug der Piusbrüderschaft nur um dreißig Minuten verzögert wurde. Zudem stellt die Blockade nicht das „Ob“ der eigentlichen Versammlung in Frage, sondern beschränkt diese nur in ihren Modalitäten (der Fortführung ihres Zuges). Dagegen zeigen die Ausführungen des Senats an anderer Stelle im Beschluss, dass es von der Norm nur solche sog. „Elementarstörungen“ als erfasst ansehen will, welche die Durchführbarkeit der Ausgangsversammlung insgesamt infrage stellen (Rn. 178 f.), was hier durchaus zweifelhaft erscheint. Dass das Verhalten des Beschwerdeführers von der eingangs vom Bundesverfassungsgericht so hochgehaltenen Versammlungsfreiheit umfasst war, nützt ihm somit im Ergebnis wenig: Seine Verurteilung bleibt bestehen.
„Grobe Störung“ der Rechtssicherheit
Im Ergebnis führt die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts dazu, dass Teilnehmende – ebenso wie die Behörden – bei Gegendemonstrationen, insbesondere in Form von Sitzblockaden, kaum verlässlich einschätzen können, wie lange ihr Protest noch als legitim gilt und ab wann er als strafbare „grobe Störung“ einer anderen Versammlung zu werten ist. Dies erzeugt erhebliche Rechtsunsicherheit und kann Teilnehmende faktisch davon abhalten, an Sitzblockaden oder vergleichbaren Aktionen teilzunehmen (sog. chilling effect) – ein Phänomen, das das Bundesverfassungsgericht in anderen Zusammenhängen selbst kritisch bewertet (hier, Rn. 11 und hier, Rn. 131).
Der Rechtssicherheit aller Beteiligten wie auch der hohen Bedeutung der Versammlungsfreiheit wäre eher gedient, wenn § 21 VersG verfassungskonform dahingehend ausgelegt würde, dass von Art. 8 GG geschützte Verhaltensweisen nicht unter den Straftatbestand fallen. § 21 VersG wäre danach erst bei Unfriedlichkeit und/oder nach rechtmäßiger Auflösung auf Gegendemonstrationen anwendbar. Eine Lösung in diesem Sinne, die der Versammlungsfreiheit beider Seiten und der Rechtssicherheit dient, schafft der Landesgesetzgeber von Schleswig-Holstein. Unter Strafe gestellt ist dort nur, wenn Personen Gewalttätigkeiten vornehmen oder androhen (§ 23 Abs. 1 VersFG SH), während die Verursachung grober Störungen nur bußgeldbewehrt ist, wenn zuvor angeordnet wurde, die Störung zu unterlassen (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 VersFG SH).
Der Beschluss könnte angesichts der für das kommende Wochenende angekündigten Massenproteste in Gießen aktueller kaum sein – der dort geltende § 25 Abs. 1 Nr. 1 HessVersFG entspricht § 21 VersG weitgehend. Trotz der bestehenden Unsicherheiten werden in Gießen zehntausende Demonstrierende von ihrem in der Theorie gebilligten Grundrecht auf friedlichen Protest in der Praxis Gebrauch machen. Dass die Demonstrierenden, welche die potenziellen Mitglieder einer noch zu gründenden politischen Jugendorganisation blockieren, dadurch als Private unmittelbar „in die durch Art. 21 Abs. 1 GG garantierte Betätigungsfreiheit politischer Parteien ein[greifen]“, erscheint höchst fragwürdig. Nach dem Martinstor-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist jedenfalls klar: Die Versammlungsfreiheit streitet auch für diejenigen, die dabei zum Mittel der Sitzblockaden greifen.
References
| ↑1 | Siehe ausführlich: Rusteberg, NJW 2011, 2999. |
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