Abnutzungskämpfe an der falschen Front: zur Widerspruchslösung bei der Organspende
Es gibt Probleme, aus denen man in Politik und Recht nicht mit heiler Haut herauskommt, weil sie alle tiefsitzenden Emotionen und weltanschaulichen Überzeugungen aufrufen, die einer rationalen Diskussion im Wege stehen. Etliche Fragen der Medizin- und Bioethik gehören in diesen Dunstkreis. Leider hat es sich der Bundestag angewöhnt, diese Debatten nicht im Sinne einer an originär politischen Kriterien orientierten Debatte zu versachlichen, sondern erst recht alle Dämme einzureißen, indem der „Fraktionszwang aufgehoben“ wird und die Abgeordneten in die Beliebigkeit ihrer subjektiven Gewissenanstrengungen entlassen werden: Aus einem politischen Problem wird ein Kulturkampf.
So geschieht es auch gerade wieder im Transplantationsrecht. Eine fraktionsübergreifende Gruppe von Abgeordneten, unter ihnen der Bundesgesundheitsminister, hat nun einen Gesetzentwurf zur Einführung der sog. Widerspruchslösung im Transplantationsrecht vorgelegt. Die Wellen schlagen hoch, verfassungsrechtliche und kulturkämpferische Geschütze werden in Stellung gebracht, ein Gegenentwurf („Erklärungslösung“) ist bereits angekündigt. Es ist aber sehr fraglich, ob sich – auf allen Seiten – die Aufregung lohnt.
Die Widerspruchslösung
Die Grundidee der Widerspruchslösung ist einfach: Umfragen zeigen eine weitgehende Zustimmung der Bevölkerung zur Organtransplantation; die Zahl der Bürger, die eine entsprechende Zustimmung zur Organentnahme in einem Organspendeausweis erklärt haben, bleibt aber weit dahinter zurück. Nun liegt die Vermutung nahe, dass diese fehlende Erklärung nicht auf mangelnder Spendebereitschaft beruht, sondern auf Nachlässigkeit, Faulheit, Scheu vor Beschäftigung mit dem Thema o.ä. Die Widerspruchslösung – jeder ist Spender, der nicht ausdrücklich seinen Widerspruch erklärt hat – hilft also nur dabei, dass die Bürger ihren „eigentlichen“ Willen handlungswirksam werden lassen. Jedenfalls ist diese Rekonstruktion der Logik der Widerspruchslösung verbreitet, seitdem sie Thaler und Sunstein in ihrem Bestseller über den „libertären Paternalismus“ als Paradebeispiel einer „nudgenden“ Veränderung der Default-Einstellung präsentiert haben – ohne übrigens darin irgendwelche ethischen Probleme zu sehen.
Ob das alles so stimmt, kann man durchaus bezweifeln. Eine abstrakte Zustimmung zur Organtransplantation ist leicht erklärt, die konkrete Entscheidung über die eigene Spendebereitschaft bildet das noch nicht ab. Aber letztlich kommt es darauf auch nicht an: Schließlich gab es das Modell der Widerspruchslösung schon, bevor uns die Verhaltensökonomen mit dem Nudging-Instrumentarium beglückt hatten. Und so mag man einfach auch sagen: Organe sind – gerade in Deutschland – knapp; es spricht nichts gegen eine Spende, wenn man tot ist; also wollen wir es als normal unterstellen, dass man spendet – und wer etwas dagegen hat, möge widersprechen.
Obliegenheit zum Widerspruch als verfassungswidriger Freiheitseingriff?
Dass diese Zumutung, seinen Widerspruch erklären zu müssen, wenn man nicht spenden will, schlichtweg verfassungswidrig wäre, wird kaum mehr vertreten; es wäre angesichts des Umstandes, dass die Widerspruchslösung in vielen europäischen Ländern seit vielen Jahren geltendes Recht ist, auch überraschend. Man mag darüber streiten, ob diese Zumutung lediglich das (postmortale) Persönlichkeitsrecht oder bereits das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit betrifft, weil dieses auch die Möglichkeit schützt, über das eigene Sterben bzw. den Umgang mit dem eigenen Körper nach dem Tod – mehr zu dieser Unterscheidung sogleich – zu befinden. Jedenfalls drängt sich eine Unverhältnismäßigkeit dieser Beeinträchtigung nicht auf, wenn – in den Grenzen des Möglichen – die Information der Bürger über die neue Rechtslage und die Verbindlichkeit ihres Widerspruchs sichergestellt werden. Der Gesetzentwurf sieht insoweit umfassende Aufklärungsmaßnahmen und ein Register vor, in das die Widersprüche eingetragen werden und das vor der Organentnahme abgerufen werden muss. Zudem müssen noch die Angehörigen befragt werden, ob ihnen ein entgegenstehender Wille des Verstorbenen bekannt ist („doppelte Widerspruchslösung“). Niemand wird also genötigt, seine Organe herzugeben – er hat nur die Obliegenheit, seinen Widerspruch zu erklären. Angesichts der Misslichkeiten der jetzigen Rechtslage, in der eine Zustimmung des Verstorbenen oder – in einer schwierigen Lebenssituation – seiner Angehörigen erforderlich ist („erweiterte Zustimmungslösung“), und die auch durch Kettenbriefe der Krankenkassen, in der die Bürger regelmäßig zu einer Stellungnahme aufgefordert wurden („Entscheidungslösung“), nicht recht in Gang kam, kann man es dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verübeln, dass er einem solidarischeren Verhalten auf die Sprünge zu helfen versucht. Könnte dies aber nicht auch die konkurrierende „Erklärungslösung“ leisten, nach der die Bürger – z.B. bei der Ausstellung des Personalausweises – über ihre Spendebereitschaft zwangsbefragt werden sollen? Dies mag sein, aber es liegt gewiss im gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum, der Widerspruchslösung mehr zuzutrauen – zumal die Frage, ob eine derartige Zwangsbefragung tatsächlich (wie ihre Protagonisten jetzt behaupten) „grundrechtsschonender“ ist, durchaus offen ist: Bei der Widerspruchslösung muss man immerhin gar nichts tun, der Widerspruch bleibt eine reine Obliegenheit.
Das (tatsächliche oder vermeintliche) Hirntod-Problem
Letzteres kann aber natürlich nur dann als ein Vorteil angesehen werden, wenn man die Organspende grundsätzlich für unproblematisch hält – ähnlich wie die gesetzliche Erbfolge, die auch eintritt, wenn man kein Testament gemacht hat. Das hängt aber nun an einer anderen Baustelle des Transplantationswesens: dem Konzept des Hirntods. Wer daran zweifelt, dass der irreversible Ausfall der Hirnfunktionen mit dem Tod eines Menschen gleichzusetzen ist, wird einer Organspende ohne ausdrückliche Zustimmung und den mit der Organentnahme verbundenen protektiven Maßnahmen „bei einem Sterbenden“ sehr viel skeptischer gegenüberstehen. Nun kann man über den Todeszeitpunkt sehr unterschiedlicher Meinung sein. Zwar spricht viel für das Hirntodkonzept (wer einem Hirntoten ein Messer in das Herz rammt, wird schließlich auch nicht wegen Totschlags verurteilt), aber in einer pluralistischen Gesellschaft mag es Überzeugungen geben, nach denen ein – wenn auch nur aufgrund der künstlichen Beatmung – warmer Körper mit gewissen vegetativen Reaktionen noch keine Leiche ist. An sich wäre es daher vernünftig, den Hirntod nur als Entnahmekriterium zu betrachten – „tot genug“ für eine Organentnahme ist der Hirntote allemal, ansonsten wäre auch gar kein Raum mehr für die Transplantationsmedizin – und den Todeszeitpunkt im Übrigen der Vielfalt der weltanschaulichen Überzeugungen zu überlassen. Aber dann holt man sich andere Konsistenzprobleme ins Haus: Dass die Organspende „postmortal“ erfolgen muss („Dead-Donor-Rule“), stellt immerhin sicher, dass die Organentnahme nicht auch noch mit einem Euthanasie-Problemen befrachtet wird. Und wer Schwierigkeiten mit dem Hirntod-Konzept hat, mag eben widersprechen.
Kultur und Vertrauen
Unüberwindliche verfassungsrechtliche Hürden gibt es daher für die Widerspruchslösung nicht. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass ihre Einführung (zum jetzigen Zeitpunkt) klug wäre. Tatsächlich kann man hier Bedenken haben.
Zum einen wird ihre Einführung voraussichtlich nur einen begrenzten Einfluss auf die Anzahl der Spenderorgane haben. Die Probleme in Deutschland – permanentes Schlusslicht im internationalen Vergleich – haben eher mit der Organisation in den Krankenhäusern und der Finanzierung zu tun als mit dem Entnahmekriterium. Insoweit mag das zum 1.4.2019 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende (GZSO) hilfreich sein. Die Widerspruchslösung allein wird unmittelbar wenig bewegen, zumal man den Angehörigen – auch wenn der Gesetzentwurf von Spahn u.a. nun betont, dass ihnen kein eigenes Entscheidungsrecht (mehr) zusteht – den Verstorbenen nicht gegen ihren Willen entreißen und seine Organe entnehmen wird; das geschieht auch in anderen Ländern nicht, die die Widerspruchslösung kennen. Man muss daher schon hoffen, dass die Widerspruchslösung mittel- und langfristig zu einem Kulturwandel im Sinne einer gesellschaftlichen Normalität der Organspendebereitschaft führen wird.
Zum anderen ist damit ein Faktor angesprochen, der für das Transplantationswesen von zentraler Bedeutung ist: das Vertrauen der Bürger, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht. Insoweit haben sich alle Beteiligten lange Zeit nicht mit Ruhm bekleckert, auch wenn sich inzwischen viel geändert hat: Manipulationen auf der Warteliste, undurchsichtige Entscheidungsstrukturen, fragwürdige Allokationsentscheidungen. Auch manche Debattenbeiträge zur angeblichen Empfindungsfähigkeit von Hirntoten oder vorzeitigen Behandlungsabbrüchen zur Organgewinnung, die sich mindestens hart am Rande zur Demagogie bewegen, tragen zur Verunsicherung bei. Und schließlich haben die Bürger vielleicht generell den Verdacht, dass sie nun in allen möglichen Lebensbereichen zu sozialverträglichen Entscheidungen „angestupst“ werden sollen. Es kann daher gut sein, dass die Diskussion über die Widerspruchslösung – so viel an sich für sie sprechen mag und so etabliert sie international auch ist – gerade zur Unzeit kommt.
Ausblick
Wenn man nicht wildesten Verschwörungstheorien gegen die moderne Medizin anhängt, kann man das Siechtum des Transplantationwesens in Deutschland nicht begrüßen. Zwar werden wir nie die Spenderzahlen der führenden Nationen erreichen, wenn wir uns nicht dazu durchringen, Organe auch beim Herz- und Kreislaufstillstand zu entnehmen – ein Verfahren, das sicherlich noch ganz andere Fragen als der Hirntod aufwirft. Es ist aber kein Zustand, dass Menschen hierzulande jahrelang an der Dialyse hängen oder auf der Warteliste sterben – in einem Umfang, der vergleichsweise einmalig ist. Auf die Lebendorganspende zu setzen, die nur begrenzt einsatzfähig ist und für den Spender nicht unerhebliche Risiken mit sich bringt, oder auf den medizinischen Fortschritt zu vertrauen, der uns schon mit im Labor gezüchteten oder Tierorganen versorgen wird, ist auch Augenwischerei. Vielleicht müssen wir doch noch einmal die Frage diskutieren, wie respektabel es eigentlich ist, Organe nicht spenden, aber im Bedarfsfall in Anspruch nehmen zu wollen. Dass die Organspende eine „Spende“ im engsten Wortsinne bleiben muss und von keinerlei Reziprozitätsprinzipien verunreinigt werden darf, ist jedenfalls auch kein Verfassungsgebot.
„Zum anderen ist damit ein Faktor angesprochen, der für das Transplantationswesen von zentraler Bedeutung ist: das Vertrauen der Bürger, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht.“
Das Vertrauen ist auch durch die diversen Organspendeskandale erschüttert worden: https://de.wikipedia.org/wiki/Organspendeskandal_in_Deutschland . Soweit ich weiß, wurde gegen keinen der beteiligten Mediziner ein Berufsverbot verhängt und der Gesetzgeber hat die BGH-Entscheidung (Az.: 5 StR 20/16) nicht zum Anlass genommen, Verstöße gegen die Transplantationsrichtlinien angemessen zu sanktionieren. Mein Vertrauensschwund betrifft nicht irgendwelche Koryphäen in weißen Kitteln mit hypertrophem Selbstbewusstsein (Knallknöpfe dürfte es in jedem Beruf geben). Durch seine Untätigkeit hat der Gesetzgeber bei mir verbrannte Erde hinterlassen. Um Ferdinand Piëch zu paraphrasieren:“Ich bin auf Distanz zu einem solchen Gesetzgeber im Transplantationswesen“. Von einem solchen Gesetzgeber möchte ich nicht mit Erklärungs- oder Widerspruchslösungen behelligt werden. Und eine durch konkrete Tatsachen und Umstände nachvollziehbare Befindlichkeit sollte verfassungsrechtlich nicht berücksichtigt werden?
Ach ja: § 19 Abs. 2a TPG finde ich jetzt nicht so richtig beeindruckend: “Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer absichtlich entgegen § 10 Absatz 3 Satz 2 den Gesundheitszustand eines Patienten erhebt, dokumentiert oder übermittelt.”
Guter und gut geschriebener Beitrag, vielen Dank! Unter sachlichen Gesichtspunkten ist die Aufregung auch deshalb nicht verständlich, weil nach beiden Modellen letztlich (mit eher geringfügigen Unterschieden) die Angehörigen entscheiden.
Mein Kommentar zu https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kommentar-zur-organspende-spahns-widersprueche-16119713.html:
“Nachdem 80 % der Bevölkerung grundsätzlich zur Organspende nach dem (Hirn-)Tod bereit sind, entspricht die Widerspruchslösung der Lebenswirklichkeit vordergründig besser als die Zustimmungslösung..
Es sprechen dennoch gute Gründe gegen den Vorschlag von Spahn & Co. Über den wichtigsten wird kaum geredet: Bereits jetzt entscheiden die nahen Angehörigen über eine nachgefragte Spende, wenn keine ausdrückliche Entscheidung des Toten vorliegt. Das hat das BVerfG auch bereits abgesegnet. Genauso ist es nach der Spahn’schen Lösung, nur mit umgekehrten Vorzeichen. D.h. im Zweifel entscheiden ohnehin die Angehörigen.
Es muss also an etwas anderem liegen, wenn das Organspendewesen in Deutschland krankt. Punktuelle Änderungen des Transplantationsgesetzes werden daran wenig ändern. Das gesamte Gesetz gilt (wie viele andere Gesetze leider auch) als in sich unstimmig und grundlegend reformbedürftig (vgl. Höfling, ZRP 2019, 2)”
GG Artikel 1 & 2
Ganz so einfach ist es eben doch nicht. Nachdem ich sowohl den Artikel als auch das Statement der vorherigen Kommentatorin gelesen habe, fällt mir – gleichwohl ich mich im Allgemeinnenn nicht für hoffnungslos begriffsstutzig halte – schwer, ad hoc eine qualifizierte Meinung zu den überaus KOMPLEXEN Fragestellungen zu bilden, die mit der Thematik zusammenhängen. Ich weiß eben als medizinischer Laie derzeit (noch) nicht, ob ich Schwierigkeiten mit dem Hirntod Konzept habe und ich weiß auch nicht, wie ich das ohne eine (Tage? Monate? Jahre-lange?) Recherche in der mir unbekannten und im Übrigen zumeist englischsprachigen medizinischen Fachliteratur (die es auch nicht mal eben in der Stadtbücherei um die Ecke gibt und in Datenbanken oft nur kostenpflichtig) herausfinden soll. Ist mir das zumutbar? Ist es einem 50 Stunden die Woche arbeitenden Familien-vater/mutter zumutbar? Und wie wollen Sie sicherstellen das Menschen geringer Intelligenz nicht durch das „Widerspruchsraster“ fallen (auch dazu bereits meine Vorrednerin)? Ich kann all diese Fragen spontan nicht beantworten. Das einzige, was ich spontan sagen kann Lieber Prof. Huster: Sie machen es sich/uns etwas zu einfach….
Nachtrag: Mein Kommentar bezieht sich vor allem auf den Absatz über das Hirntod-Problem, insbes. die Aussagen „tot genug für eine Organentnahme ist der Hirntote allemal“ und, „wer Schwierigkeiten mit dem Hirntod-Konzept hat, mag eben widersprechen“
R. Osterkamp:
6 : 3 für die Widerspruchslösung: Widerspruch, Zustimmung und Bonus im Vergleich
Zunächst die Ergebnisse des Vergleichs im Überblick:
3 verschiedene Regelungen
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Zwei mögliche Reformen der Organspende werden aktuell in Deutschland diskutiert: die Einführung einer Widerspruchslösung (WSL, Gruppe um Gesundheitsminister Spahn und Karl Lauterbach) und eine Verbesserung der geltenden Zustimmungslösung (ZL, Gruppe um Annalena Baerbock). Zusätzlich soll hier auch die Bonus-Lösung (BL) in den Vergleich einbezogen werden.
Die Minderung der Zahl der Toten auf der Organ-Warteliste, also die Wirksamkeit der Regelung, dürfte bei der WSL stärker ausfallen als bei der ZL, selbst wenn die Hinterbliebenen bei der WSL noch mitreden dürfen. Das ergibt sich eindeutig aus systematischen empirischen Studien mit vielen Ländern, vielen Jahren und vielen Einflussfaktoren. Nur die BL dürfte noch besser sein: Wer ein Spenderorgan benötigt und früher einen Spendeausweis unterschrieben hat, erhält einen Bonus in Form eines (ein wenig) besseren Platzes auf der Warteliste. Wie das Beispiel Israel zeigt: sehr wirksam.
Der Schutz der Nein-Sager gegen eine von ihnen nicht gewollte Organentnahme nach dem Tod ist in der aktuellen Form der Zustimmungslösung schwach, weil es für das Nein keine sichere (z.B. eine elektronische) Registrierung gibt, und die Hinterbliebenen oft nicht wissen, was der Wunsch des Verstorbenen war. Die diskutierte Verbesserung der ZL im Baerbock-Vorschlag besteht nun darin – und im Grunde nur darin, denn von der behaupteten Entscheidungs-“Pflicht“ kann ja keine Rede sein –, eine elektronische Registrierung einzuführen. (Diese hätte man längst haben können, denn das Transplantationsgesetz sieht ein solches Register ausdrücklich vor. Aber es bleibt bis heute bei den Zetteln und Plastikkärtchen des „Spendeausweises“.) Dagegen gehört zu einer WSL (ebenso wie zur BL) zwingend eine sichere Registrierung der getroffenen Entscheidung, und das heißt: eine elektronische Registrierung wie in allen Ländern mit WSL. Wenn die geltende ZL um eine elektronische Registrierung ergänzt wird, ist der Schutz der Nein-Sager ähnlich sicher wie bei der WSL und der BL.
Die Autonomie der Entscheidung für oder gegen die postmortale Organspende werde durch die WSL eingeschränkt, sagen manche. Ein bekannter akademischer Fach-Ethiker versteigt sich sogar zu der Behauptung, die WSL würde auf eine „Zwangssozialisierung der Organe“ hinauslaufen. Leider ohne Begründung. Wie ist es bei nüchterner Betrachtung? Dazu muss man ein paar Fälle unterscheiden.
• Wer sich gegen eine Organspende nach dem Tod entschieden hat, muss im Rahmen der ZL nichts weiter tun. Bei einer WSL hingegen muss er oder sie einen kleinen Schritt gehen, nämlich die getroffene Entscheidung der Ablehnung in geeigneter Form bekunden, zumindest den Verwandten mitteilen.
• Wer sich für eine Organspende nach dem Tod entschieden hat, braucht im Rahmen einer WSL nichts zu tun, muss aber bei der ZL den kleinen Schritt unternehmen und seine Zustimmung registrieren lassen. Die beiden Fälle sind also ganz symmetrisch. Je nach getroffener Entscheidung und je nach geltender Regelung ist entweder kein weiterer Schritt erforderlich oder ein kleiner. Stellt die Notwendigkeit, in bestimmten Konstellationen eine getroffene Entscheidung zu bekunden, eine Einschränkung der Autonomie dieser Entscheidung dar? Eher ist das Gegenteil der Fall: Die Bekundung unterstreicht die Autonomie der Entscheidung.
• Es mag auch jemand noch um eine Entscheidung ringen. Wenn diese zukünftig getroffen sein wird, wird – je nach der dann geltenden Regelung – entweder kein weiterer Schritt notwendig sein oder ein kleiner. Die Autonomie der Entscheidung selbst ist davon wiederum unberührt.
• Es mag auch jemand entschieden haben, sich mit der Frage nicht beschäftigen zu wollen. Das Recht zu einer solchen Entscheidung steht jedem zu. Es wird durch keine der beiden möglichen Regelungen eingeschränkt. Allerdings: wie bei jeder autonomen Entscheidung muss man die eventuellen Konsequenzen tragen.
Wie ist es bei der BL, die den Inhaber eines Spendeausweises mit einem besseren Wartelistenplatz belohnt? Wie die allgemeine Lebenserfahrung und das Beispiel Israels zeigen, dürfte die BL dazu führen, dass sich mehr Menschen für den Spendeausweis entscheiden. Hätte die BL in diesem Fall die Autonomie der Entscheidung beeinträchtigt? Darüber kann man vielleicht streiten. Aber sicher ist: der Tod auf der Organ-Warteliste würde eingeschränkt.
Ob viele oder wenige Menschen durch die geltenden Regeln zu der moralisch fragwürdigen Haltung Nehmen Ja – Geben Nein verleitet werden – das macht den Unterschied in der Fairness des Regelsystems aus. Die BL würde nicht nur dem Tod auf der Organ-Warteliste wirksam begegnen sondern auch die Fairness des Systems der Organspende erhöhen.
Wie fair wäre eine WSL (ohne Bonus) in Deutschland? Legt man die Zahlen aus Österreich (dort WSL ohne Bonus) zugrunde, ergibt sich, dass bei einem Übergang von der ZL zur WSL die Zahl der Menschen, die die Haltung Nehmen Ja – Geben Nein einnehmen, erheblich zurückgehen würde. Diesen Effekt hätte die um ein elektronisches Register ergänzte ZL nicht, die unter den drei verglichenen Regelungen also am Unfairsten ist.
Die politische Realisierbarkeit der BL ist nicht nur am geringsten von den drei Alternativen, sondern in Deutschland wohl auch gleich Null. Dagegen scheinen die WSL und die Reform der ZL in etwa gleich gute Chancen zu haben.
Die meisten anderen Länder haben sich längst für die WSL entschieden. Eine ZL gilt nur noch in wenigen Ländern. Eine BL haben bis heute aber nur zwei Länder eingeführt: Israel und Singapur.
Fazit: Wenn man nur die WSL mit der (verbesserten) ZL vergleicht, wird man sagen können: 6 : 3 für die WSL.
Dr. Rigmar Osterkamp
Eine Stellungnahme von Gegen den Tod auf der Organ-Warteliste e.V.
https://gegen-den-tod-auf-der-organ-warteliste.de
Gerne lernen wir aus Ihrer Antwort auf diese Stellungnahme.
Wenn Sie diese Stellungnahme abdrucken wollen: nur mit Quellenangabe und Information an Dr. Rigmar Osterkamp, Bachstr. 34b, 83673 Bichl.
Sollten Sie keine weiteren Stellungnahmen von uns wünschen, genügt ein kurzes Email an Rigmar.osterkamp@gmx.de
Unsere früheren Stellungnahmen finden Sie auf unserer Homepage.
#1: 5. 1. 2019: Ein Weihnachts-„Geschenk“ von Annalena Baerbock an die Patienten auf der Organ-Warteliste
#2: 21. 1. 2019: Pro Widerspruchslösung – auch im Sinne von Gerechtigkeit und Fairness!
#3: 5. 2. 2019: Pro Widerspruchslösung: 3 Gründe
#4: 20. 2. 2019: Der Skandal der Zettelwirtschaft
#5: 5.3. 2019: Die fragwürdige Duldung des Schwarzfahrens
#6: 20. 3. 2019: Widerspruchslösung: Nun auch auf der britischen Insel und in den Niederlanden
#7: 5. 4. 2019: Überkreuzspende: In vielen Ländern praktiziert, in Deutschland nicht
Unglaublich! Mittwoch, 28. November 2018 und jetzt wieder keine Organspende- Regelung? Warum nicht einfach die Eltern bei der Geburt Entscheiden lassen (Eintrag Kinderpass) und erneute persönliche Frage ja/nein bei der Beantragung des Personalausweises (inkl. Vermerk auf eben diesem)…
Nicht diskutieren liebe Politiker, umsetzen! Handeln! Leben retten!!!
MfG R.Jansen Kevelaer
Ihr Zitat: “Auch manche Debattenbeiträge zur angeblichen Empfindungsfähigkeit von Hirntoten oder vorzeitigen Behandlungsabbrüchen zur Organgewinnung, die sich mindestens hart am Rande zur Demagogie bewegen, tragen zur Verunsicherung bei.”
Viele (blutige) Laien schreiben beispielsweise auf YouTube, Hirntote seien nicht tot, sie würden durch die Organentnahme ermordet (das würde u.a. dadurch ein sich-wehren von Hirntote sichtbar – dass es sich dabei um Reflexe handelt, wissen viele nicht).
Die Tote-Spender-Regel schließt eine Tötung aus – Hirntote sind schon tot und können damit nicht mehr getötet werden.
Des Weiteren ist der Hintod die bestdefinierte medizinische Diagnose (ICD-10: G93.8).
Durch zuvor genannte Falschinformationen/Fake-News werden unsichere Gemüter durch einen Schneeballeffekt weiter verunsichert. Wie soll man damit in sozialen Netzwerken umgehen? Aufklärung mit medizinischer Fachliteratur scheint mir hier die beste und notwendige Lösung zu sein.