Abnutzungskämpfe an der falschen Front: zur Widerspruchslösung bei der Organspende
Es gibt Probleme, aus denen man in Politik und Recht nicht mit heiler Haut herauskommt, weil sie alle tiefsitzenden Emotionen und weltanschaulichen Überzeugungen aufrufen, die einer rationalen Diskussion im Wege stehen. Etliche Fragen der Medizin- und Bioethik gehören in diesen Dunstkreis. Leider hat es sich der Bundestag angewöhnt, diese Debatten nicht im Sinne einer an originär politischen Kriterien orientierten Debatte zu versachlichen, sondern erst recht alle Dämme einzureißen, indem der „Fraktionszwang aufgehoben“ wird und die Abgeordneten in die Beliebigkeit ihrer subjektiven Gewissenanstrengungen entlassen werden: Aus einem politischen Problem wird ein Kulturkampf.
So geschieht es auch gerade wieder im Transplantationsrecht. Eine fraktionsübergreifende Gruppe von Abgeordneten, unter ihnen der Bundesgesundheitsminister, hat nun einen Gesetzentwurf zur Einführung der sog. Widerspruchslösung im Transplantationsrecht vorgelegt. Die Wellen schlagen hoch, verfassungsrechtliche und kulturkämpferische Geschütze werden in Stellung gebracht, ein Gegenentwurf („Erklärungslösung“) ist bereits angekündigt. Es ist aber sehr fraglich, ob sich – auf allen Seiten – die Aufregung lohnt.
Die Widerspruchslösung
Die Grundidee der Widerspruchslösung ist einfach: Umfragen zeigen eine weitgehende Zustimmung der Bevölkerung zur Organtransplantation; die Zahl der Bürger, die eine entsprechende Zustimmung zur Organentnahme in einem Organspendeausweis erklärt haben, bleibt aber weit dahinter zurück. Nun liegt die Vermutung nahe, dass diese fehlende Erklärung nicht auf mangelnder Spendebereitschaft beruht, sondern auf Nachlässigkeit, Faulheit, Scheu vor Beschäftigung mit dem Thema o.ä. Die Widerspruchslösung – jeder ist Spender, der nicht ausdrücklich seinen Widerspruch erklärt hat – hilft also nur dabei, dass die Bürger ihren „eigentlichen“ Willen handlungswirksam werden lassen. Jedenfalls ist diese Rekonstruktion der Logik der Widerspruchslösung verbreitet, seitdem sie Thaler und Sunstein in ihrem Bestseller über den „libertären Paternalismus“ als Paradebeispiel einer „nudgenden“ Veränderung der Default-Einstellung präsentiert haben – ohne übrigens darin irgendwelche ethischen Probleme zu sehen.
Ob das alles so stimmt, kann man durchaus bezweifeln. Eine abstrakte Zustimmung zur Organtransplantation ist leicht erklärt, die konkrete Entscheidung über die eigene Spendebereitschaft bildet das noch nicht ab. Aber letztlich kommt es darauf auch nicht an: Schließlich gab es das Modell der Widerspruchslösung schon, bevor uns die Verhaltensökonomen mit dem Nudging-Instrumentarium beglückt hatten. Und so mag man einfach auch sagen: Organe sind – gerade in Deutschland – knapp; es spricht nichts gegen eine Spende, wenn man tot ist; also wollen wir es als normal unterstellen, dass man spendet – und wer etwas dagegen hat, möge widersprechen.
Obliegenheit zum Widerspruch als verfassungswidriger Freiheitseingriff?
Dass diese Zumutung, seinen Widerspruch erklären zu müssen, wenn man nicht spenden will, schlichtweg verfassungswidrig wäre, wird kaum mehr vertreten; es wäre angesichts des Umstandes, dass die Widerspruchslösung in vielen europäischen Ländern seit vielen Jahren geltendes Recht ist, auch überraschend. Man mag darüber streiten, ob diese Zumutung lediglich das (postmortale) Persönlichkeitsrecht oder bereits das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit betrifft, weil dieses auch die Möglichkeit schützt, über das eigene Sterben bzw. den Umgang mit dem eigenen Körper nach dem Tod – mehr zu dieser Unterscheidung sogleich – zu befinden. Jedenfalls drängt sich eine Unverhältnismäßigkeit dieser Beeinträchtigung nicht auf, wenn – in den Grenzen des Möglichen – die Information der Bürger über die neue Rechtslage und die Verbindlichkeit ihres Widerspruchs sichergestellt werden. Der Gesetzentwurf sieht insoweit umfassende Aufklärungsmaßnahmen und ein Register vor, in das die Widersprüche eingetragen werden und das vor der Organentnahme abgerufen werden muss. Zudem müssen noch die Angehörigen befragt werden, ob ihnen ein entgegenstehender Wille des Verstorbenen bekannt ist („doppelte Widerspruchslösung“). Niemand wird also genötigt, seine Organe herzugeben – er hat nur die Obliegenheit, seinen Widerspruch zu erklären. Angesichts der Misslichkeiten der jetzigen Rechtslage, in der eine Zustimmung des Verstorbenen oder – in einer schwierigen Lebenssituation – seiner Angehörigen erforderlich ist („erweiterte Zustimmungslösung“), und die auch durch Kettenbriefe der Krankenkassen, in der die Bürger regelmäßig zu einer Stellungnahme aufgefordert wurden („Entscheidungslösung“), nicht recht in Gang kam, kann man es dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verübeln, dass er einem solidarischeren Verhalten auf die Sprünge zu helfen versucht. Könnte dies aber nicht auch die konkurrierende „Erklärungslösung“ leisten, nach der die Bürger – z.B. bei der Ausstellung des Personalausweises – über ihre Spendebereitschaft zwangsbefragt werden sollen? Dies mag sein, aber es liegt gewiss im gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum, der Widerspruchslösung mehr zuzutrauen – zumal die Frage, ob eine derartige Zwangsbefragung tatsächlich (wie ihre Protagonisten jetzt behaupten) „grundrechtsschonender“ ist, durchaus offen ist: Bei der Widerspruchslösung muss man immerhin gar nichts tun, der Widerspruch bleibt eine reine Obliegenheit.
Das (tatsächliche oder vermeintliche) Hirntod-Problem
Letzteres kann aber natürlich nur dann als ein Vorteil angesehen werden, wenn man die Organspende grundsätzlich für unproblematisch hält – ähnlich wie die gesetzliche Erbfolge, die auch eintritt, wenn man kein Testament gemacht hat. Das hängt aber nun an einer anderen Baustelle des Transplantationswesens: dem Konzept des Hirntods. Wer daran zweifelt, dass der irreversible Ausfall der Hirnfunktionen mit dem Tod eines Menschen gleichzusetzen ist, wird einer Organspende ohne ausdrückliche Zustimmung und den mit der Organentnahme verbundenen protektiven Maßnahmen „bei einem Sterbenden“ sehr viel skeptischer gegenüberstehen. Nun kann man über den Todeszeitpunkt sehr unterschiedlicher Meinung sein. Zwar spricht viel für das Hirntodkonzept (wer einem Hirntoten ein Messer in das Herz rammt, wird schließlich auch nicht wegen Totschlags verurteilt), aber in einer pluralistischen Gesellschaft mag es Überzeugungen geben, nach denen ein – wenn auch nur aufgrund der künstlichen Beatmung – warmer Körper mit gewissen vegetativen Reaktionen noch keine Leiche ist. An sich wäre es daher vernünftig, den Hirntod nur als Entnahmekriterium zu betrachten – „tot genug“ für eine Organentnahme ist der Hirntote allemal, ansonsten wäre auch gar kein Raum mehr für die Transplantationsmedizin – und den Todeszeitpunkt im Übrigen der Vielfalt der weltanschaulichen Überzeugungen zu überlassen. Aber dann holt man sich andere Konsistenzprobleme ins Haus: Dass die Organspende „postmortal“ erfolgen muss („Dead-Donor-Rule“), stellt immerhin sicher, dass die Organentnahme nicht auch noch mit einem Euthanasie-Problemen befrachtet wird. Und wer Schwierigkeiten mit dem Hirntod-Konzept hat, mag eben widersprechen.
Kultur und Vertrauen
Unüberwindliche verfassungsrechtliche Hürden gibt es daher für die Widerspruchslösung nicht. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass ihre Einführung (zum jetzigen Zeitpunkt) klug wäre. Tatsächlich kann man hier Bedenken haben.
Zum einen wird ihre Einführung voraussichtlich nur einen begrenzten Einfluss auf die Anzahl der Spenderorgane haben. Die Probleme in Deutschland – permanentes Schlusslicht im internationalen Vergleich – haben eher mit der Organisation in den Krankenhäusern und der Finanzierung zu tun als mit dem Entnahmekriterium. Insoweit mag das zum 1.4.2019 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende (GZSO) hilfreich sein. Die Widerspruchslösung allein wird unmittelbar wenig bewegen, zumal man den Angehörigen – auch wenn der Gesetzentwurf von Spahn u.a. nun betont, dass ihnen kein eigenes Entscheidungsrecht (mehr) zusteht – den Verstorbenen nicht gegen ihren Willen entreißen und seine Organe entnehmen wird; das geschieht auch in anderen Ländern nicht, die die Widerspruchslösung kennen. Man muss daher schon hoffen, dass die Widerspruchslösung mittel- und langfristig zu einem Kulturwandel im Sinne einer gesellschaftlichen Normalität der Organspendebereitschaft führen wird.
Zum anderen ist damit ein Faktor angesprochen, der für das Transplantationswesen von zentraler Bedeutung ist: das Vertrauen der Bürger, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht. Insoweit haben sich alle Beteiligten lange Zeit nicht mit Ruhm bekleckert, auch wenn sich inzwischen viel geändert hat: Manipulationen auf der Warteliste, undurchsichtige Entscheidungsstrukturen, fragwürdige Allokationsentscheidungen. Auch manche Debattenbeiträge zur angeblichen Empfindungsfähigkeit von Hirntoten oder vorzeitigen Behandlungsabbrüchen zur Organgewinnung, die sich mindestens hart am Rande zur Demagogie bewegen, tragen zur Verunsicherung bei. Und schließlich haben die Bürger vielleicht generell den Verdacht, dass sie nun in allen möglichen Lebensbereichen zu sozialverträglichen Entscheidungen „angestupst“ werden sollen. Es kann daher gut sein, dass die Diskussion über die Widerspruchslösung – so viel an sich für sie sprechen mag und so etabliert sie international auch ist – gerade zur Unzeit kommt.
Ausblick
Wenn man nicht wildesten Verschwörungstheorien gegen die moderne Medizin anhängt, kann man das Siechtum des Transplantationwesens in Deutschland nicht begrüßen. Zwar werden wir nie die Spenderzahlen der führenden Nationen erreichen, wenn wir uns nicht dazu durchringen, Organe auch beim Herz- und Kreislaufstillstand zu entnehmen – ein Verfahren, das sicherlich noch ganz andere Fragen als der Hirntod aufwirft. Es ist aber kein Zustand, dass Menschen hierzulande jahrelang an der Dialyse hängen oder auf der Warteliste sterben – in einem Umfang, der vergleichsweise einmalig ist. Auf die Lebendorganspende zu setzen, die nur begrenzt einsatzfähig ist und für den Spender nicht unerhebliche Risiken mit sich bringt, oder auf den medizinischen Fortschritt zu vertrauen, der uns schon mit im Labor gezüchteten oder Tierorganen versorgen wird, ist auch Augenwischerei. Vielleicht müssen wir doch noch einmal die Frage diskutieren, wie respektabel es eigentlich ist, Organe nicht spenden, aber im Bedarfsfall in Anspruch nehmen zu wollen. Dass die Organspende eine „Spende“ im engsten Wortsinne bleiben muss und von keinerlei Reziprozitätsprinzipien verunreinigt werden darf, ist jedenfalls auch kein Verfassungsgebot.
„Zum anderen ist damit ein Faktor angesprochen, der für das Transplantationswesen von zentraler Bedeutung ist: das Vertrauen der Bürger, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht.“
Das Vertrauen ist auch durch die diversen Organspendeskandale erschüttert worden: https://de.wikipedia.org/wiki/Organspendeskandal_in_Deutschland . Soweit ich weiß, wurde gegen keinen der beteiligten Mediziner ein Berufsverbot verhängt und der Gesetzgeber hat die BGH-Entscheidung (Az.: 5 StR 20/16) nicht zum Anlass genommen, Verstöße gegen die Transplantationsrichtlinien angemessen zu sanktionieren. Mein Vertrauensschwund betrifft nicht irgendwelche Koryphäen in weißen Kitteln mit hypertrophem Selbstbewusstsein (Knallknöpfe dürfte es in jedem Beruf geben). Durch seine Untätigkeit hat der Gesetzgeber bei mir verbrannte Erde hinterlassen. Um Ferdinand Piëch zu paraphrasieren:“Ich bin auf Distanz zu einem solchen Gesetzgeber im Transplantationswesen“. Von einem solchen Gesetzgeber möchte ich nicht mit Erklärungs- oder Widerspruchslösungen behelligt werden. Und eine durch konkrete Tatsachen und Umstände nachvollziehbare Befindlichkeit sollte verfassungsrechtlich nicht berücksichtigt werden?
Ach ja: § 19 Abs. 2a TPG finde ich jetzt nicht so richtig beeindruckend: “Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer absichtlich entgegen § 10 Absatz 3 Satz 2 den Gesundheitszustand eines Patienten erhebt, dokumentiert oder übermittelt.”
Guter und gut geschriebener Beitrag, vielen Dank! Unter sachlichen Gesichtspunkten ist die Aufregung auch deshalb nicht verständlich, weil nach beiden Modellen letztlich (mit eher geringfügigen Unterschiede