Abschied von Adenauer oder weshalb die Wahlrechtsreform ein Verfassungsrechtsproblem ist
Der Bundestag hat die Grammatik der Macht umgeschrieben. Mit der Änderung des Bundeswahlrechts wollte das Parlament zur gesetzlichen Regelgröße zurückkehren und den „Grundcharakter“ der Verhältniswahl konsequent in der Praxis umsetzen (BT-Drs. 20/5370, 10). Dazu hatten die Regierungsfraktionen einen rechtswissenschaftlich inspirierten Entwurf vorgelegt, der tatsächlich die Normgröße von 598 Sitzen vorsah, deren paritätische Aufteilung zwischen Wahlkreis- und Listenmandaten beibehielt und politische Ergebnisneutralität versprach. Was die Reformfähigkeit der Politik belegen und für manche Beobachter ein endgültiger Abschied von der alten Bundesrepublik sein sollte, ist spätestens mit der beschlossenen Gesetzesfassung zu einem ernsten Verfassungsrechtsproblem geworden.
Die Wahlrechtsreform ist weder Reparatur noch Korrektur, sie ist ein Systemwechsel. Die zu Recht angestrebte „Rückkehr“ zur gesetzlich normierten Regelgröße von 598 Sitzen, die in der beschlossenen Fassung nun auf 630 Sitze erhöht wurde, geht nämlich einher mit der Entscheidung exklusiv für das Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl. Maßgeblich für die Sitzzuteilung im Parlament soll demnach allein die jeweilige Anzahl der Wählerstimmen für die Landeslisten sein, während die relative Stimmenmehrheit im Wahlkreis für die Mandatszuteilung auf die Parteien zukünftig keine Rolle mehr spielen wird.
Der Gesetzentwurf hat diese Strukturänderung benannt, indem er die bisherige Zweitstimme zur „Hauptstimme“ umtaufte – die in der beschlossenen Fassung allerdings wieder ihren alten Namen zurückerhalten hat. Mit der „Wahlkreisstimme“ – nunmehr wieder Erststimme – äußert der Wähler in Zukunft nur noch eine Personalpräferenz, weil erst nach der Stimmauszählung aller Wahlkreise entschieden sein wird, wer in den Bundestag einzieht.
Obwohl die Begründung des ursprünglichen Gesetzentwurfs diese Hinwendung zur Verhältniswahl offenlegt, sind weitere Formulierungen und Äußerungen geeignet, das Prinzipielle des Gesetzentwurfs zu kaschieren. So behaupten die Entwurfsverfasser, dass der „Grundcharakter“ der Verhältniswahl nunmehr konsequent umgesetzt werde. Mit anderen Worten, schon bislang werde der Deutsche Bundestag in einer Verhältniswahl gewählt. Zu diesem Eindruck trägt der zitierte Schlüsselbegriff des „Grundcharakters“ bei, der aus der älteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – nicht erst aus dem Urteil zu den Landessitzkontingenten von 2012 (BVerfGE 131, 316) – übernommen ist. Wenn durch diese Rahmung in der laufenden Debatte der Eindruck entstanden ist, über das Wahlsystem sei im Grunde bereits in Karlsruhe entschieden worden, dann hat man in Berlin diesen Irrtum nicht ungern auf sich beruhen lassen.
Doch diese Insinuation trifft nicht zu. Der Wahlgesetzgeber hatte „den Proporz nach Zweitstimmen nicht zum ausschließlichen Verteilungssystem erhoben“, wie das Bundesverfassungsgericht formulierte (BVerfGE 95, 335, 356). Das bislang geltende Wahlsystem vereint bekanntlich Elemente des Mehrheits- und des Verhältniswahlrechts. Der Gesetzgeber hat sich für die Personenwahl in den Wahlkreisen entschieden, die gleichzeitig neben der Verhältniswahl in Bezug auf die Landeslisten stattfinden soll. Das Bundeswahlgesetz spricht gerade nicht von der „personalisierten Verhältniswahl“, der Formel, die sich im allgemeinen Sprachgebrauch, aber auch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion findet. Es spricht bislang von „einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG). Ein Mischsystem ist entstanden, wofür die Bundesrepublik auch im europäischen Vergleich exemplarisch steht. Aus der Notwendigkeit, die beiden Teilwahlsysteme für die Sitzverteilung miteinander zu verbinden, die zu einem politisch stabilen, an lokale Wählerschaft rückgebundenen Parlament als Grundlage eines parlamentarischen Regierungssystems führen soll, folgen wahlrechtliche Kompromisse. Ein Beispiel sind die Überhangmandate, deren vom Bundesverfassungsgericht angeordneter Ausgleich maßgeblich das Größenwachstum des Bundestages herbeigeführt hat.
In diesem seit Jahrzehnten praktizierten und den Wählern vertrauten Wahlsystem wird mit der Erststimme ein Wahlkreisbewerber in den Bundestag „gewählt“, der die Mehrheit erhält. Nun wird sich bereits mit Blick auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht sagen lassen, dass dieses Mischsystem verfassungsrechtlich geboten ist. Immer wieder hat der Zweite Senat demonstrativ betont, dass die Einführung eines Grabenwahlsystems oder sogar einer Mehrheitswahl verfassungskonform möglich wäre – diese weitreichenden Gestaltungsvollmachten sind allerdings in Karlsruhe bislang nicht auf ihre Tragfähigkeit getestet worden.
Hingegen ist es ein verfassungsrechtliches Gebot, dass das Wahlrecht normenklar und verständlich ist und, so wird sich hinzufügen lassen, dass es das Vertrauen der Bürger nicht frustriert. Ist ein Wechsel des Wahlsystems, der selten ist und nun erstmals seit 1956 für die Bundesrepublik erfolgen wird, nicht ein Ereignis, das die Abkehr vom Vertrauten ausdrücklich und unmissverständlich markieren sollte? Das „Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes“ erfüllt diesen Test jedenfalls in der beschlossenen, modifizierten Fassung nicht.
Die begriffliche Kontinuität des Bundeswahlgesetzes und die Erhöhung der Regelgröße des Bundestages auf nunmehr 630 Sitze legen die Vermutung nahe, dass alles wie bisher ist – nur besser. Die Terminologie von „Erst- und Zweitstimme“ ist „über lange Zeit in der Bundesrepublik praktiziert“ – der latente Wählerirrtum über die Hierarchisierung der Stimmen wird weiterhin durch einen aufklärenden Hinweis direkt auf dem Stimmzettel adressiert werden. Mit der Aufgabe der bisherigen Regelgröße von 598 Sitzen und der erhöhten Zahl von Listenmandaten soll die Nichtzuteilung von Wahlkreismandaten lediglich unwahrscheinlicher werden.
Das ändert an der juristischen Konstruktion des neuen Wahlsystems jedoch nichts. Der Gesetzgeber hat mit dem neuen Wahlrecht das Wahlkreismandat nicht nur aus praktischen Gründen, also um eine gesetzliche Regelgröße strikt einzuhalten, umcodiert. In Zukunft wird mit der Erststimme auch deshalb kein Wahlkreisbewerber zwingend direkt in den Bundestag gewählt, weil der Mandatstypus „Direktmandat“ – entgegen der Diktion im Entwurf, die das Gegenteil behauptet – abgewertet werden soll. Die begleitenden Erläuterungen zum Gesetzentwurf lassen keinen Zweifel an der prinzipiellen Neubewertung dieses Mandatstypus.
Zum einen wird auf ein vermeintliches Legitimationsproblem hingewiesen, dass Wahlkreismandate mit „nur“ relativer Mehrheit gewonnen werden können. Dabei übersieht man, dass das Mehrheitsprinzip nicht auf eine absolute Stimmenmehrzahl geeicht ist. Auch Listenmandate sind nicht mit absoluten Mehrheiten unterlegt, geschweige denn Koalitionsregierungen. Deren Mehrheit beruht auf einer Sitzmehrheit im Parlament, denen auch nur eine relative Mehrheit der Gesamtstimmen zugrunde liegen kann. Zum anderen wird der Nimbus des direkt gewählten Abgeordneten dekonstruiert, der in Wirklichkeit weder per se rebellisch sei noch besonders unabhängig auftrete. Im Gegenteil, ein Verhältniswahlrecht mit Parteilisten passe auch deshalb besser in die Zeit, wie einer der Gesetzesarchitekten zuletzt betonte, weil unter den aktuellen politischen und medialen Bedingungen ein „Mehrheitswahlrecht mit Wahlkreisen toxisch“ sein könne.
Das klingt nicht nach Rückkehr und Konsequenz, sondern nach einer – durchaus legitim angestrebten – Neuausrichtung des Wahlsystems aufgrund einer politischen Gesamtdiagnose. Der modifizierte Gesetzesbeschluss simuliert den Wahlberechtigten gleichwohl Kontinuität, wo sie Neues erwartet.
Mit der Erststimme wird in Zukunft nicht mehr im verfassungsrechtlichen Sinn „gewählt“, sondern eine Personalpräferenz geäußert. Das Listenmandat, nunmehr durch 31 zusätzliche Sitze auch quantitativ hervorgehoben, wird zum alleinigen Mandatstypus erklärt. Alle diese – und weitere – Änderungen treffen auf eine seit Jahrzehnten eingeübte und vertraute Demokratieerfahrung, ohne dass die anstehende Zäsur leicht erkennbar ist. Ist der verfassungsrechtliche Grundsatz der Normenklarheit und Verständlichkeit des Wahlrechts durch genügenden Abstand zwischen dem bisherigen und dem neuen Wahlsystem unter diesen Umständen wirklich gewahrt?
Noch ein zweiter Gedanke sollte für die verfassungsrechtliche Würdigung des neuen Wahlsystems einbezogen werden. Der Bundestag hat in der beschlossenen Gesetzesfassung überraschend die Grundmandatsklausel gestrichen. Bisher gilt: Erhalten die Landeslisten einer politischen Partei bundesweit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen, scheitert sie an der Sperrklausel und bekommt keine Listenmandate entsprechend ihrem Zweitstimmenanteil zugeteilt – es sei denn, eine Partei erringt mindestens drei Direktmandate (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG). Im ursprünglichen Gesetzentwurf war die Klausel beibehalten worden, um den Entwurf glaubwürdig auf das benannte Ziel – die Verkleinerung des Bundestages – auszurichten. Denn mit der Grundmandatsklausel war der Entwurf in seinen tatsächlichen Folgen im Wettbewerb der Parteien untereinander politisch neutral. Alle politischen Parteien hätten Sitze in mehr oder minder proportionalem Umfang eingebüßt, ohne ihre Präsenz im Bundestag prinzipiell zu bedrohen.
Im Gesetzgebungsverfahren hatten die von der Union benannten Sachverständigen die ursprünglich vorgesehene Beibehaltung der Grundmandatsklausel als inkonsequent kritisiert und zweifelten damit die Verfassungsmäßigkeit der Reform an – die Regierungsfraktionen nahmen sie beim Wort, was befürwortende Beobachter nicht ohne Übermut registrierten. Als Konsequenz müssen die CSU und Die Linke damit rechnen, nicht mehr im Bundestag vertreten zu sein, weil die Fünf-Prozent-Sperrklausel greift. Eine Zuteilung von Direktmandaten – die Folgen des neuen Wahlsystems werden hier fassbar – unterbleibt, wenn die Landesliste nicht eine entsprechende Zweitstimmendeckung über fünf Prozent aufweist.
Nun lässt sich in der Tat kein verfassungsrechtliches Gebot für eine abstrakte Grundmandatsklausel konstruieren, die vom Bundesverfassungsgericht vielmehr zur rechtfertigungsbedürftigen Ausnahme erklärt wurde (BVerfGE 95, 408, 420). Zugleich ist sie kein historisches Artefakt der Adenauer-Zeit, unterstreichen ihre Existenz und Anwendung doch die Bedeutung, die der Gesetzgeber dem Wahlkreismandat für die Repräsentation zugewiesen hat. Regionaler politischer Erfolg soll unter bestimmten Bedingungen im Parlament vertreten sein und zwar nicht begrenzt auf den erfolgreichen Wahlkreisbewerber, sondern proportional zur bundesweiten politischen Resonanz. Die Grundmandatsklausel korrigiert insoweit auch die erheblichen Folgen der Repräsentationslücken, die die Sperrklausel verursachen kann. In der Debatte ist seit dem Gesetzesbeschluss des Bundestages denn auch ein Unwohlsein selbst auf Seiten der Reformbefürworter wahrnehmbar; ein Sachverständiger distanzierte sich sogar von seiner Aussage, die gegen den ursprünglichen Gesetzentwurf erhobenen Einwände schlügen nicht durch – allerdings ohne sein Störgefühl an einem konkreten Verfassungssatz festmachen zu können.
Das Unwohlsein ist verständlich, denn mit der Grundmandatsklausel verliert das neue Wahlrecht auch seine politische Ergebnisneutralität. Die Regierungsfraktionen müssen sich deshalb jetzt den Vorwurf gefallen lassen, mit einfacher Mehrheit parteipolitische Interessen in dem für die parlamentarische Demokratie bedeutendsten Sachgebiet zu verfolgen. Gibt es aber ein verfassungsrechtliches Argument gegen die Streichung der Grundmandatsklausel?
Auf den Gesetzesbeschluss hat die Oppositionsseite umgehend mit dem Hinweis geantwortet, bei einem Machtwechsel das Wahlrecht erneut zu ändern. Unabhängig davon, wie wahrscheinlich diese Ankündigung ist, deutet sie doch auf eine weitere Politisierung des Wahlrechts hin. Eine solche Politisierung zeichnet sich seit längerem ab. Denn über eine Reform des Bundeswahlrechts wird seit mindestens einer Dekade hinter den Kulissen kontrovers gesprochen – im Grunde waren bereits die älteren Verfahren gegen die Überhangmandate parteipolitisch motiviert. Aussagen, wie die zitierten Hinweise auf die Widerstandsfähigkeit des Wahlrechts und die Zeitgemäßheit des Verhältniswahlrechts, deuten auf einen verfassungspolitischen Dissens der beteiligten Kreise hin, was das Wahlrecht über die formale Übersetzung des Wahlergebnisses in Parlamentssitze hinaus leisten, welche Bedeutung etwa regionale politische Repräsentation haben soll.
Könnte diese Politisierung des Wahlrechts, die durch den Gesetzesbeschluss manifest wird, einen Grundsatz der Stabilität des Wahlrechts verletzen? Auf eine Wahlrechtsänderung mit einfacher Mehrheit folgt nach einem Machtwechsel die nächste Änderung wieder mit einfacher Mehrheit.
Die Venedig-Kommission des Europarats sieht in ihrem Verhaltenskodex für Wahlen in der „Stabilität des Rechts […] ein wichtiges Element für die Glaubwürdigkeit des Wahlprozesses und selbst von wesentlicher Bedeutung für die Konsolidierung der Demokratie“ (CoE, CDL-AD (2002) 23, Ziff. 63). Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich 2019 im Eilverfahren zum Wahlrechtsausschluss bei der Europawahl (BVerfGE 151, 152, 171) zurückhaltend und aufgeschlossen zugleich über diesen vergleichenden Seitenblick geäußert. Jener europäische Verhaltenskodex enthält auch die Empfehlung, Entscheidungen über das Wahlrecht mit qualifizierter Mehrheit zu treffen. Es sei ratsamer, einen Konsens zu erzielen (CoE, Ziff. 80). Können wir Empfehlungen, die wir an andere Nationen selbstgewiss herantragen, ignorieren, weil diese juristisch unverbindlich sind?
Sicherlich ist (noch) verfassungsrechtliche Spekulation, ob dieses Argument vor Gericht gehört werden wird. Dass bislang jedoch kein konkreter Verfassungssatz existierte, der sich auf die Wahlrechtsänderung beziehen ließe, weil nichts geboten und vieles möglich sei, ist beinahe „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“. Es gibt durchaus Ansatzpunkte, das Verfassungsrechtsproblem der beschlossenen Wahlrechtsänderung auf einen Maßstab des Grundgesetzes zu beziehen. Eine mutige Prozessstrategie sollte das berücksichtigen.
Damit es so weit nicht kommt, wird augenscheinlich an Kompromisslösungen gearbeitet. Im Gespräch sind eine Absenkung der Sperrklausel, eine verfassungsrechtssichere Listenverbindung, eine Föderalisierung des Zweitstimmenerfordernisses oder eine Mindestzahl von Erstplatzierten in Wahlkreisen eines Landes, so dass bei entsprechenden regionalen Erfolgen eine Sitzzuteilung möglich wird. Ob dies ein Verfahren in Karlsruhe verhindern kann, ist offen. Vielleicht sollten die betroffenen politischen Parteien auch im Blick haben, dass der Zweite Senat eine Gelegenheit erhält, seine angestammten Obersätze – wie auch die eigenen Beiträge zur Einführung des Verhältniswahlsystems – zu überdenken und zu korrigieren. Der kürzliche Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf einen „Grundsatz der zeitlichen Stabilität des Wahlsystems“ in der Verhandlungsgliederung des anstehenden Normenkontrollverfahrens zur Wahlrechtsänderung von 2020 (2 BvF 1/21) ist ein konkreter Ansatzpunkt, möglicherweise auch ein Wink. Die Grammatik der Macht kann ihre Funktion nicht erfüllen, wenn sie fortlaufend umgeschrieben wird.