24 March 2023

Abschied von Adenauer oder weshalb die Wahlrechtsreform ein Verfassungsrechtsproblem ist

Der Bundestag hat die Grammatik der Macht umgeschrieben. Mit der Änderung des Bundeswahlrechts wollte das Parlament zur gesetzlichen Regelgröße zurückkehren und den „Grundcharakter“ der Verhältniswahl konsequent in der Praxis umsetzen (BT-Drs. 20/5370, 10). Dazu hatten die Regierungsfraktionen einen rechtswissenschaftlich inspirierten Entwurf vorgelegt, der tatsächlich die Normgröße von 598 Sitzen vorsah, deren paritätische Aufteilung zwischen Wahlkreis- und Listenmandaten beibehielt und politische Ergebnisneutralität versprach. Was die Reformfähigkeit der Politik belegen und für manche Beobachter ein endgültiger Abschied von der alten Bundesrepublik sein sollte, ist spätestens mit der beschlossenen Gesetzesfassung zu einem ernsten Verfassungsrechtsproblem geworden.

Die Wahlrechtsreform ist weder Reparatur noch Korrektur, sie ist ein Systemwechsel. Die zu Recht angestrebte „Rückkehr“ zur gesetzlich normierten Regelgröße von 598 Sitzen, die in der beschlossenen Fassung nun auf 630 Sitze erhöht wurde, geht nämlich einher mit der Entscheidung exklusiv für das Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl. Maßgeblich für die Sitzzuteilung im Parlament soll demnach allein die jeweilige Anzahl der Wählerstimmen für die Landeslisten sein, während die relative Stimmenmehrheit im Wahlkreis für die Mandatszuteilung auf die Parteien zukünftig keine Rolle mehr spielen wird.

Der Gesetzentwurf hat diese Strukturänderung benannt, indem er die bisherige Zweitstimme zur „Hauptstimme“ umtaufte – die in der beschlossenen Fassung allerdings wieder ihren alten Namen zurückerhalten hat. Mit der „Wahlkreisstimme“ – nunmehr wieder Erststimme – äußert der Wähler in Zukunft nur noch eine Personalpräferenz, weil erst nach der Stimmauszählung aller Wahlkreise entschieden sein wird, wer in den Bundestag einzieht.

Obwohl die Begründung des ursprünglichen Gesetzentwurfs diese Hinwendung zur Verhältniswahl offenlegt, sind weitere Formulierungen und Äußerungen geeignet, das Prinzipielle des Gesetzentwurfs zu kaschieren. So behaupten die Entwurfsverfasser, dass der „Grundcharakter“ der Verhältniswahl nunmehr konsequent umgesetzt werde. Mit anderen Worten, schon bislang werde der Deutsche Bundestag in einer Verhältniswahl gewählt. Zu diesem Eindruck trägt der zitierte Schlüsselbegriff des „Grundcharakters“ bei, der aus der älteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – nicht erst aus dem Urteil zu den Landessitzkontingenten von 2012 (BVerfGE 131, 316) – übernommen ist. Wenn durch diese Rahmung in der laufenden Debatte der Eindruck entstanden ist, über das Wahlsystem sei im Grunde bereits in Karlsruhe entschieden worden, dann hat man in Berlin diesen Irrtum nicht ungern auf sich beruhen lassen.

Doch diese Insinuation trifft nicht zu. Der Wahlgesetzgeber hatte „den Proporz nach Zweitstimmen nicht zum ausschließlichen Verteilungssystem erhoben“, wie das Bundesverfassungsgericht formulierte (BVerfGE 95, 335, 356). Das bislang geltende Wahlsystem vereint bekanntlich Elemente des Mehrheits- und des Verhältniswahlrechts. Der Gesetzgeber hat sich für die Personenwahl in den Wahlkreisen entschieden, die gleichzeitig neben der Verhältniswahl in Bezug auf die Landeslisten stattfinden soll. Das Bundeswahlgesetz spricht gerade nicht von der „personalisierten Verhältniswahl“, der Formel, die sich im allgemeinen Sprachgebrauch, aber auch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion findet. Es spricht bislang von „einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG). Ein Mischsystem ist entstanden, wofür die Bundesrepublik auch im europäischen Vergleich exemplarisch steht. Aus der Notwendigkeit, die beiden Teilwahlsysteme für die Sitzverteilung miteinander zu verbinden, die zu einem politisch stabilen, an lokale Wählerschaft rückgebundenen Parlament als Grundlage eines parlamentarischen Regierungssystems führen soll, folgen wahlrechtliche Kompromisse. Ein Beispiel sind die Überhangmandate, deren vom Bundesverfassungsgericht angeordneter Ausgleich maßgeblich das Größenwachstum des Bundestages herbeigeführt hat.

In diesem seit Jahrzehnten praktizierten und den Wählern vertrauten Wahlsystem wird mit der Erststimme ein Wahlkreisbewerber in den Bundestag „gewählt“, der die Mehrheit erhält. Nun wird sich bereits mit Blick auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht sagen lassen, dass dieses Mischsystem verfassungsrechtlich geboten ist. Immer wieder hat der Zweite Senat demonstrativ betont, dass die Einführung eines Grabenwahlsystems oder sogar einer Mehrheitswahl verfassungskonform möglich wäre – diese weitreichenden Gestaltungsvollmachten sind allerdings in Karlsruhe bislang nicht auf ihre Tragfähigkeit getestet worden.

Hingegen ist es ein verfassungsrechtliches Gebot, dass das Wahlrecht normenklar und verständlich ist und, so wird sich hinzufügen lassen, dass es das Vertrauen der Bürger nicht frustriert. Ist ein Wechsel des Wahlsystems, der selten ist und nun erstmals seit 1956 für die Bundesrepublik erfolgen wird, nicht ein Ereignis, das die Abkehr vom Vertrauten ausdrücklich und unmissverständlich markieren sollte? Das „Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes“ erfüllt diesen Test jedenfalls in der beschlossenen, modifizierten Fassung nicht.

Die begriffliche Kontinuität des Bundeswahlgesetzes und die Erhöhung der Regelgröße des Bundestages auf nunmehr 630 Sitze legen die Vermutung nahe, dass alles wie bisher ist – nur besser. Die Terminologie von „Erst- und Zweitstimme“ ist „über lange Zeit in der Bundesrepublik praktiziert“ – der latente Wählerirrtum über die Hierarchisierung der Stimmen wird weiterhin durch einen aufklärenden Hinweis direkt auf dem Stimmzettel adressiert werden. Mit der Aufgabe der bisherigen Regelgröße von 598 Sitzen und der erhöhten Zahl von Listenmandaten soll die Nichtzuteilung von Wahlkreismandaten lediglich unwahrscheinlicher werden.

Das ändert an der juristischen Konstruktion des neuen Wahlsystems jedoch nichts. Der Gesetzgeber hat mit dem neuen Wahlrecht das Wahlkreismandat nicht nur aus praktischen Gründen, also um eine gesetzliche Regelgröße strikt einzuhalten, umcodiert. In Zukunft wird mit der Erststimme auch deshalb kein Wahlkreisbewerber zwingend direkt in den Bundestag gewählt, weil der Mandatstypus „Direktmandat“ – entgegen der Diktion im Entwurf, die das Gegenteil behauptet – abgewertet werden soll. Die begleitenden Erläuterungen zum Gesetzentwurf lassen keinen Zweifel an der prinzipiellen Neubewertung dieses Mandatstypus.

Zum einen wird auf ein vermeintliches Legitimationsproblem hingewiesen, dass Wahlkreismandate mit „nur“ relativer Mehrheit gewonnen werden können. Dabei übersieht man, dass das Mehrheitsprinzip nicht auf eine absolute Stimmenmehrzahl geeicht ist. Auch Listenmandate sind nicht mit absoluten Mehrheiten unterlegt, geschweige denn Koalitionsregierungen. Deren Mehrheit beruht auf einer Sitzmehrheit im Parlament, denen auch nur eine relative Mehrheit der Gesamtstimmen zugrunde liegen kann. Zum anderen wird der Nimbus des direkt gewählten Abgeordneten dekonstruiert, der in Wirklichkeit weder per se rebellisch sei noch besonders unabhängig auftrete. Im Gegenteil, ein Verhältniswahlrecht mit Parteilisten passe auch deshalb besser in die Zeit, wie einer der Gesetzesarchitekten zuletzt betonte, weil unter den aktuellen politischen und medialen Bedingungen ein „Mehrheitswahlrecht mit Wahlkreisen toxisch“ sein könne.

Das klingt nicht nach Rückkehr und Konsequenz, sondern nach einer – durchaus legitim angestrebten – Neuausrichtung des Wahlsystems aufgrund einer politischen Gesamtdiagnose. Der modifizierte Gesetzesbeschluss simuliert den Wahlberechtigten gleichwohl Kontinuität, wo sie Neues erwartet.

Mit der Erststimme wird in Zukunft nicht mehr im verfassungsrechtlichen Sinn „gewählt“, sondern eine Personalpräferenz geäußert. Das Listenmandat, nunmehr durch 31 zusätzliche Sitze auch quantitativ hervorgehoben, wird zum alleinigen Mandatstypus erklärt. Alle diese – und weitere – Änderungen treffen auf eine seit Jahrzehnten eingeübte und vertraute Demokratieerfahrung, ohne dass die anstehende Zäsur leicht erkennbar ist. Ist der verfassungsrechtliche Grundsatz der Normenklarheit und Verständlichkeit des Wahlrechts durch genügenden Abstand zwischen dem bisherigen und dem neuen Wahlsystem unter diesen Umständen wirklich gewahrt?

Noch ein zweiter Gedanke sollte für die verfassungsrechtliche Würdigung des neuen Wahlsystems einbezogen werden. Der Bundestag hat in der beschlossenen Gesetzesfassung überraschend die Grundmandatsklausel gestrichen. Bisher gilt: Erhalten die Landeslisten einer politischen Partei bundesweit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen, scheitert sie an der Sperrklausel und bekommt keine Listenmandate entsprechend ihrem Zweitstimmenanteil zugeteilt – es sei denn, eine Partei erringt mindestens drei Direktmandate (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG). Im ursprünglichen Gesetzentwurf war die Klausel beibehalten worden, um den Entwurf glaubwürdig auf das benannte Ziel – die Verkleinerung des Bundestages – auszurichten. Denn mit der Grundmandatsklausel war der Entwurf in seinen tatsächlichen Folgen im Wettbewerb der Parteien untereinander politisch neutral. Alle politischen Parteien hätten Sitze in mehr oder minder proportionalem Umfang eingebüßt, ohne ihre Präsenz im Bundestag prinzipiell zu bedrohen.

Im Gesetzgebungsverfahren hatten die von der Union benannten Sachverständigen die ursprünglich vorgesehene Beibehaltung der Grundmandatsklausel als inkonsequent kritisiert und zweifelten damit die Verfassungsmäßigkeit der Reform an – die Regierungsfraktionen nahmen sie beim Wort, was befürwortende Beobachter nicht ohne Übermut registrierten. Als Konsequenz müssen die CSU und Die Linke damit rechnen, nicht mehr im Bundestag vertreten zu sein, weil die Fünf-Prozent-Sperrklausel greift. Eine Zuteilung von Direktmandaten – die Folgen des neuen Wahlsystems werden hier fassbar – unterbleibt, wenn die Landesliste nicht eine entsprechende Zweitstimmendeckung über fünf Prozent aufweist.

Nun lässt sich in der Tat kein verfassungsrechtliches Gebot für eine abstrakte Grundmandatsklausel konstruieren, die vom Bundesverfassungsgericht vielmehr zur rechtfertigungsbedürftigen Ausnahme erklärt wurde (BVerfGE 95, 408, 420). Zugleich ist sie kein historisches Artefakt der Adenauer-Zeit, unterstreichen ihre Existenz und Anwendung doch die Bedeutung, die der Gesetzgeber dem Wahlkreismandat für die Repräsentation zugewiesen hat. Regionaler politischer Erfolg soll unter bestimmten Bedingungen im Parlament vertreten sein und zwar nicht begrenzt auf den erfolgreichen Wahlkreisbewerber, sondern proportional zur bundesweiten politischen Resonanz. Die Grundmandatsklausel korrigiert insoweit auch die erheblichen Folgen der Repräsentationslücken, die die Sperrklausel verursachen kann. In der Debatte ist seit dem Gesetzesbeschluss des Bundestages denn auch ein Unwohlsein selbst auf Seiten der Reformbefürworter wahrnehmbar; ein Sachverständiger distanzierte sich sogar von seiner Aussage, die gegen den ursprünglichen Gesetzentwurf erhobenen Einwände schlügen nicht durch – allerdings ohne sein Störgefühl an einem konkreten Verfassungssatz festmachen zu können.

Das Unwohlsein ist verständlich, denn mit der Grundmandatsklausel verliert das neue Wahlrecht auch seine politische Ergebnisneutralität. Die Regierungsfraktionen müssen sich deshalb jetzt den Vorwurf gefallen lassen, mit einfacher Mehrheit parteipolitische Interessen in dem für die parlamentarische Demokratie bedeutendsten Sachgebiet zu verfolgen. Gibt es aber ein verfassungsrechtliches Argument gegen die Streichung der Grundmandatsklausel?

Auf den Gesetzesbeschluss hat die Oppositionsseite umgehend mit dem Hinweis geantwortet, bei einem Machtwechsel das Wahlrecht erneut zu ändern. Unabhängig davon, wie wahrscheinlich diese Ankündigung ist, deutet sie doch auf eine weitere Politisierung des Wahlrechts hin. Eine solche Politisierung zeichnet sich seit längerem ab. Denn über eine Reform des Bundeswahlrechts wird seit mindestens einer Dekade hinter den Kulissen kontrovers gesprochen – im Grunde waren bereits die älteren Verfahren gegen die Überhangmandate parteipolitisch motiviert. Aussagen, wie die zitierten Hinweise auf die Widerstandsfähigkeit des Wahlrechts und die Zeitgemäßheit des Verhältniswahlrechts, deuten auf einen verfassungspolitischen Dissens der beteiligten Kreise hin, was das Wahlrecht über die formale Übersetzung des Wahlergebnisses in Parlamentssitze hinaus leisten, welche Bedeutung etwa regionale politische Repräsentation haben soll.

Könnte diese Politisierung des Wahlrechts, die durch den Gesetzesbeschluss manifest wird, einen Grundsatz der Stabilität des Wahlrechts verletzen? Auf eine Wahlrechtsänderung mit einfacher Mehrheit folgt nach einem Machtwechsel die nächste Änderung wieder mit einfacher Mehrheit.

Die Venedig-Kommission des Europarats sieht in ihrem Verhaltenskodex für Wahlen in der „Stabilität des Rechts […] ein wichtiges Element für die Glaubwürdigkeit des Wahlprozesses und selbst von wesentlicher Bedeutung für die Konsolidierung der Demokratie“ (CoE, CDL-AD (2002) 23, Ziff. 63). Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich 2019 im Eilverfahren zum Wahlrechtsausschluss bei der Europawahl (BVerfGE 151, 152, 171) zurückhaltend und aufgeschlossen zugleich über diesen vergleichenden Seitenblick geäußert. Jener europäische Verhaltenskodex enthält auch die Empfehlung, Entscheidungen über das Wahlrecht mit qualifizierter Mehrheit zu treffen. Es sei ratsamer, einen Konsens zu erzielen (CoE, Ziff. 80). Können wir Empfehlungen, die wir an andere Nationen selbstgewiss herantragen, ignorieren, weil diese juristisch unverbindlich sind?

Sicherlich ist (noch) verfassungsrechtliche Spekulation, ob dieses Argument vor Gericht gehört werden wird. Dass bislang jedoch kein konkreter Verfassungssatz existierte, der sich auf die Wahlrechtsänderung beziehen ließe, weil nichts geboten und vieles möglich sei, ist beinahe „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“. Es gibt durchaus Ansatzpunkte, das Verfassungsrechtsproblem der beschlossenen Wahlrechtsänderung auf einen Maßstab des Grundgesetzes zu beziehen. Eine mutige Prozessstrategie sollte das berücksichtigen.

Damit es so weit nicht kommt, wird augenscheinlich an Kompromisslösungen gearbeitet. Im Gespräch sind eine Absenkung der Sperrklausel, eine verfassungsrechtssichere Listenverbindung, eine Föderalisierung des Zweitstimmenerfordernisses oder eine Mindestzahl von Erstplatzierten in Wahlkreisen eines Landes, so dass bei entsprechenden regionalen Erfolgen eine Sitzzuteilung möglich wird. Ob dies ein Verfahren in Karlsruhe verhindern kann, ist offen. Vielleicht sollten die betroffenen politischen Parteien auch im Blick haben, dass der Zweite Senat eine Gelegenheit erhält, seine angestammten Obersätze – wie auch die eigenen Beiträge zur Einführung des Verhältniswahlsystems – zu überdenken und zu korrigieren. Der kürzliche Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf einen „Grundsatz der zeitlichen Stabilität des Wahlsystems“ in der Verhandlungsgliederung des anstehenden Normenkontrollverfahrens zur Wahlrechtsänderung von 2020 (2 BvF 1/21) ist ein konkreter Ansatzpunkt, möglicherweise auch ein Wink. Die Grammatik der Macht kann ihre Funktion nicht erfüllen, wenn sie fortlaufend umgeschrieben wird.


SUGGESTED CITATION  Schorkopf, Frank: Abschied von Adenauer oder weshalb die Wahlrechtsreform ein Verfassungsrechtsproblem ist, VerfBlog, 2023/3/24, https://verfassungsblog.de/abschied-von-adenauer-oder-weshalb-die-wahlrechtsreform-ein-verfassungsrechtsproblem-ist/, DOI: 10.17176/20230324-185228-0.

9 Comments

  1. Frank Brennecke Fri 24 Mar 2023 at 10:30 - Reply

    Ich halte die im Kommentar genannten Bedenken für wenig stichhaltig. Das BVerfG hat zuletzt die Ausgleichsmandate genau deshalb eingeführt, weil es das deutsche Wahlrecht in seinem Wesen als Verhältniswahlrecht einstuft. Eine Änderung, die diesen Charakter noch stärkt, dürfte nach meiner Einschätzung eher die Zustimmung der Richter finden – auch wenn natürlich Graben- oder Mehrheitswahlrecht nach Artikel 38 ebenfalls möglich wären.

    Dass nun neben der Linken auch die CSU (und auch die FDP) von der 5%-Hürde betroffen sein könnte, ist Sache der Parteien, nicht des Gesetzes. Es ist die ganz eigene Entscheidung der CSU, die nötigen 5% allein in Bayern zu erzielen. Ich sehe allerdings die Möglichkeit einer Absenkung der 5%-Hürde – insbesondere dann, wenn im schlechtesten falle ansonsten alle drei Parteien aus dem Bundestag fielen und zusammen mit den Sonstigen fast 20% der gültigen Stimmen nicht im Bundestag vertreten wären. 3% wären wohl auch genug.

    Zuletzt die Diskussion um die “umgehende Änderung des Wahlrechts” nach einem Machtwechsel. Derzeit sieht es nicht nach absoluten Mehrheiten einer einzigen Partei aus. In der nächsten regierung sitzt damit mindestens eine der drei Parteien, die auch jetzt regieren. Ich halte daher eine parlamentarische Mehrheit für eine Änderung allein aus Oppositions-Rache für nicht gegeben.

    • Jendrik Wüstenberg Mon 27 Mar 2023 at 19:03 - Reply

      Verbinden Sie doch ein paar Punkte Ihrer Gedanken, dann ergibt sich relativ schnell, dass wenn die FDP und die Linke mit z.B. 4,9 % jeweils aus dem Parlament fliegen und die Sonstigen bei ihrem bisherigen Ergebnis bleiben (die Tendenz geht ja immer mehr dahin, dass solche Parteien vermehrt gewählt werden, aber eben nicht einziehen) und somit insgesamt 18,5 % der abgegebenen Wählerstimmen keine Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments haben, die Hürde zum Gewinn der absoluten Mehrheit vergleichweise niedrig ist. Das hieße umgerechnet, der Union reichten bereits 40,76 % für die absolute Mehrheit; das Ergebnis ist erst 2013 das letzte Mal übertroffen worden. Dass das auf absehbare Zeit und bei der aktuellen politischen Lage, in der dem Wähler als nichtextreme Alternative zur Ampel nur die Union bleibt, völlig unrealistisch sei, halte ich für etwas optimistisch gedacht.

  2. Pyrrhon von Elis Fri 24 Mar 2023 at 14:00 - Reply

    “Dass nun neben der Linken auch die CSU (und auch die FDP) von der 5%-Hürde betroffen sein könnte, ist Sache der Parteien, nicht des Gesetzes. Es ist die ganz eigene Entscheidung der CSU, die nötigen 5% allein in Bayern zu erzielen”

    Dass das nicht jedem einleuchtet, ist eine sehr peinliche Pointe dieser ganzen Diskussion, die leider zeigt, wie parteinah manche Juristen hier um den durch Recht zementierten Erhalt ihrer immer mehr marginalisierten Denkrichtungen streiten. Dass diese einfach den Interessen der Wählern folgen und ihr Programm dahingehend ändern sollten, fällt merkwürdigerweise flach.

    • Tobias Mon 27 Mar 2023 at 12:36 - Reply

      Zustimmung. Ob eine nur regional relevante Partei in den Bundestag einziehen sollte, ist eine vorrangig politische Frage, und nur sehr nachrangig nach den Vorgaben der Verfassung zu beurteilen (die solches gerade nicht vorschreibt). Letztlich bieten schon die Landtage eine politische Bühne für Parteien, die sich nur auf Landesebenbe betätigen (wollen); mit dem Bundesrat als weiterer Ländervertretung auf Bundesebene.

  3. Mittelwert Fri 24 Mar 2023 at 20:31 - Reply

    Die beschlossene Wahlrechtsreform stellt einen kleinen Systemwechsel dar – das Direktmandat im Wortsinn wird dabei tatsächlich nicht “abgewertet”, sondern einfach abgeschafft. Der Grundcharakter einer Verhältniswahl im Hinblick auf die Sitzverteilung zwischen den Parteien (und ihren Landesverbänden) bleibt dabei aber erhalten.
    Wie ich an anderer Stelle schon einmal angemerkt hatte, werden die Listen mitnichten gestärkt, da bei der Kappung der Wahlkreismandate die jeweilige Landesliste irrelevant bleibt. Für die in einzelnen Bundesländern starken Landesparteien werden die genauen Wahlkreis-(Erststimmen-)ergebnisse dadurch sogar noch wichtiger als bisher.

    Die Grundmandatsklausel, die schon vorher fragwürdig erscheinen konnte, passt noch schlechter zur jetzt reineren Verhältniswahl, die schließlich das Prinzip hat, dass die Stärke einer Partei im Parlament eben nicht von der regionalen Verteilung oder Konzentration ihrer Wählerschaft abhängen sollte. Um den Wegfall der Grundmandatsklausel abzumildern, kommt deshalb aus meiner Sicht eher eine nominelle oder effektive Senkung der Prozenthürde in Betracht.
    (Mir ist beispielsweise die Idee gekommen, dass man die Prozentzahl statt auf die Zweitstimmen auch auf die Mandate beziehen könnte. Bei einem höheren Stimmenanteil der sehr kleinen Parteien läge die Hürde in Prozent der Zweitstimmen dann automatisch etwas niedriger. Unter Beibehaltung der aktuellen Prozentgrenzen wären Parteien auch stets in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten …)

  4. Chris A Sat 25 Mar 2023 at 09:48 - Reply

    Inzwischen wird es mit den angeblichen “juristischen” Meinungen zur Wahlrechtsreform grotesk. Es wird dabei ja zunehmend weniger juristische Argumentation, und zunehmend mehr gefühlsbasiertes und nicht textbasiertes Geraune kund getan, dass es doch nicht vassungsrechtlich in Ordnung sein könnte, wenn plötzlich Jahrzehnte der BVerfG-Rechtsprechung beim Wort genommen und Dinge mal grundlegend geändert werden. Mehrwert in dieser unsubstantiierten Bedenkenraunerei zu erkennen, fällt mir mehr und mehr Schwer.
    (Der Punkt der “Normaneklarheit” gibt allerdings Bonuspunkte für juristische Kreatitivät. Weitergedacht würde das aber im Ergebnis bedeuten, dass verfassungsrechtlich kein Gesetz mehr grundlegend revidiert/reformiert werden könnte, ohne die Terminologie fundamental zu ändern, weil dann ja für Bürger*innen nicht mehr klar wäre, dass jetzt etwas anderes gemeint ist, als vor der Reform. Das erscheint mir eine fundamental neue Lesart des Grundsatzes der Normenklarheit zu sein – die nach dem hier geäußerten Grundsatz der Normenklarheit so nicht mehr heißen dürfte, weil er ja nun etwas anderes meint?)

    Vielleicht sollten die Kolleg*innen Jurist*innen, die bei dieser Änderung offenbar unspezifizierbare strukturkonservative Störgefühle verfassungsrechtlich verbrähmen wollen, ihre Überlegungen vom Gesetz auf das Grundgesetz verlagern und die Frage stellen und diskutieren, ob wir wirklich wollen können und sollen, dass das Wahlsystem auch in seinen Grundzügen mit einer einfachen Mehrheit geändert werden kann.
    Ich habe den Eindruck, dass in diesem Land, in dem gefühlt sogar Ausführungsvorschriften zum Emissionsschutzrecht verfassungsrechtlich überlagert und geprägt sind und faktisch alles Recht zunehmend dichter aus Karlsruhe mitgeschrieben wird, die Vorstellung, dass eine wesentliche Säule der demokratischen Ordnung einfach ohne die Mitwirkung des BVerfG von einer Regierungsmehrheit in Berlin reformiert werden kann, unheimlich wirkt. Dann wäre aber die zielführendere Diskussion, ob wir dies wollen, wollen können und wollen sollen – oder ob man das Wahlrecht nicht im Grundgesetz stärker verankern sollte, um die Mehrheitserfordernisse zu erhöhen.
    Ich für meinen Teil hätte damit für die “Vergrundgesetzlichung” eines so fundamentalen Bestandteils unserer demokratischen Ordnung kein grundsätzliches Problem, denn auch wenn ich diese Reform befürworte, ist klar, dass sich mit einfacher Mehrheit auch viel Unsinn in Gesetzesform gießen lässt. Womit ich aber ein Problem habe, sind die gegenwärtigen Versuche, das einfachrechtliche Wahlrecht mit verfassungsrechtlichen Ideen nun so Änderungsfest machen zu wollen, dass es aus argumentativ auch recht schwer spezifizierbaren Gründen nur konsensual (oder, logischer, gar nicht mehr) geändert werden kann – denn ich für meinen Teil bleibe ein Anhänger der Idee, dass der Gesetzgeber im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben die einfachen Gesetze machen kann.

    • mq86mq Mon 27 Mar 2023 at 16:33 - Reply

      Immerhin gibts seit 1986 diesen Standardspruch des BVerfG:

      »Wenn die öffentliche Gewalt in den Bereich der politischen Willensbildung in einer Weise eingreift, dass dadurch die Chancengleichheit der politischen Parteien betroffen wird, sind ihrem Ermessen besonders enge Grenzen gezogen. Insbesondere darf der Gesetzgeber die vorgefundene Wettbewerbslage nicht verfälschen.«

      Worauf Achenbach wiederholt hingewiesen hat. Bisher ist er stets im Kontext von Parteienfinanzierung o.Ä. aufgetaucht (zuletzt bei der Desiderius-Erasmus-Stiftung), war aber nicht spezifisch darauf eingeschränkt. Eingriffe sind möglich, aber genauso zu rechtfertigen wie etwa die Sperrklausel selber.

    • Gertrude Lübbe-Wolff Mon 27 Mar 2023 at 17:51 - Reply

      Die “Idee, dass der Gesetzgeber im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben die einfachen Gesetze machen kann”, bestreitet niemand. Die Frage ist nur, wo die verfassungsrechtlichen Grenzen verlaufen. Dass Anliegen des Kommentars, dass diese die nicht im Wege gerichtlicher Verfassungsinterpretation (zu) eng gesteckt werden sollten, verdient volle Unterstützung. Aber beim Wahlrecht hat man es mit einer Entscheidung der jeweiligen Parlamentsmehrheit in (auch) eigener Sache zu tun, und bei solchen Entscheidungen muss genauer hingeschaut werden als bei Entscheidungen anderer Art, ob es für Änderungen gute sachliche Gründe gibt, wenn nicht Tür und Tor für Selbstbefestigung der jeweils regierenden Mehrheit im legalen Machtbesitz geöffnet werden sollen.

  5. SO Mon 27 Mar 2023 at 13:10 - Reply

    “Könnte diese Politisierung des Wahlrechts, die durch den Gesetzesbeschluss manifest wird, einen Grundsatz der Stabilität des Wahlrechts verletzen? Auf eine Wahlrechtsänderung mit einfacher Mehrheit folgt nach einem Machtwechsel die nächste Änderung wieder mit einfacher Mehrheit.”

    Schorkopf stellt hier die Stabilität des Wahlrechts durch die oppositionelle Drohung einer erneuten Änderung in Frage. Ich finde das aus zwei Gründen heraus wenig überzeugend: zum einen fragt sich, wo auf der Welt unpolitisches Wahlrecht existiert? – in der Arena der Wahlrechtsgesetzgebung wimmelt es nur so von politischen Sprengstoff, wobei nicht selten selbst die Verfassungsgerichte Akteure des Tauziehens sind. Wahlrechtsgesetzgebung ohne politisierende Diskussion und durch entsprechende Verlustängste ist unvorstellbar.
    Auf der anderen Seite würde eine potentielle Unzufriedenheit der nicht zustimmenden fraktionellen Kräfte verbunden mit einer Drohung auf Umkehrung der Reformgesetzgebung permanent zu einer Aushöhlung der Gestaltungsfreiheit des Wahlrechts durch den Gesetzgeber führen. Materielle Demokratisierungsprozesse werden so durch Angst präformiert.
    Der Autor bietet darüber hinaus keinen validen Maßstab, an dem man die “Stabilität” von Wahlsystemen messen könnte. Mittels unverbindlicher Empfehlungen Mehrheitsanforderungen umzuschreiben, um Idenitätspolitiken nachgelagert den parlamentarischen Anglitz zu verleihen, würde Schorkopf auch sonst nicht in Erwägung ziehen.
    Um es in seinen eigene Worten zu sagen: für (wahlrechtliche) Idenitätspolitik einer Minderheit gibt es Grenzen und diese liegen nicht in Papieren der Venedig-Kommission oder einem nebulösen Stabilitätsbegriff, sondern im Grundgesetz selbst.

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