Ganz so einfach ist es nicht
Zur Frage, ob die Bundesregierung die Pandemiemaßnahmen auch selbst erlassen kann
Im politischen Berlin steigt die Unzufriedenheit über die Pandemiebekämpfung der Länder. Die Koordination zwischen Bund und Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Konsultationen ist nicht transparent und wird als zunehmend dysfunktional wahrgenommen (Stichwort verlängerte Osterruhe). Zudem reagieren die Länder bislang eher zurückhaltend auf die Dritte Welle der Pandemie.
Eine einfache Lösung scheint nun auf der Hand zu liegen: Pandemiebekämpfung durch den Bund, Erlass von Rechtsverordnungen durch die Bundesregierung. Ein Blick in die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Grundlagen zeigt: ohne Zusammenwirken von Bundestag, Bundesregierung und Landesregierungen wird es auch in Zukunft nicht gehen.
Zuständigkeiten im Infektionsschutzgesetz
Die Schutzmaßnahmen schränken Grundrechte ein. Voraussetzung für die Einschränkung von Grundrechten ist im liberalen Rechtsstaat eine gesetzliche Ermächtigung: Nur wer von den Gesetzgebungsorganen ermächtigt wird, darf in Grundrechte eingreifen. Für die Pandemieverordnungen ist die zentrale Ermächtigungsnorm § 32 IfSchG. Satz 1 ermächtigt die Landesregierungen, durch Rechtsverordnungen „Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen“. Satz 2 erlaubt den Landesregierungen per Verordnung, die Ermächtigung „auf andere Stellen“ zu übertragen. So ermächtigt beispielsweise die Landesregierung Sachsen-Anhalt in § 13 der 11. SARS-CoV-2-EindV die Landkreise und kreisfreien Städte zum Erlass von Rechtsverordnungen.
Eine unmittelbare Ermächtigung der Bundesregierung ist in § 32 IfSchG nicht enthalten. Eine andere Norm, die die Bundesregierung zu entsprechenden Maßnahmen ermächtigt, fehlt. So bleiben nur zwei Wege: Erstens eine Übertragung der Zuständigkeiten durch die Landesregierungen gemäß § 32 S. 2 IfSchG an den Bund, zweitens eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Aufgrund der im Moment offensichtlichen politischen Differenzen zwischen Bund und Ländern ist der erste Weg einer Kompetenzübertragung politisch unwahrscheinlich. Eine Pandemiebekämpfung durch den Bund wäre darüber hinaus auf das Wohlwollen der Landesregierungen angewiesen: die Übertragung der Zuständigkeiten könnte von jeder Landesregierung jederzeit wieder zurückgenommen werden.
Es bleibt also zur Ermächtigung der Bundesregierung nur der zweite Weg, eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes.
Horizontale und vertikale Kompetenzverteilung der Verfassung
Das Infektionsschutzgesetz ist Bundesgesetz – der Bund hat gemäß Art. 70 I, 74 I Nr. 19 GG die Gesetzgebungszuständigkeit für „übertragbare Krankheiten“. Bundesgesetze erlässt gemäß Art. 77 I S. 1 GG der Bundestag. Die Bundesregierung hat lediglich gemäß Art. 76 I GG ein Initiativrecht. Für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes ist sie auf eine Mehrheit im Parlament angewiesen.
Die Frage, in welcher Form auch der Bundesrat und damit die Landesregierungen (Art. 51 I S. 1 GG), beteiligt werden müssen, führt in die Mitte der vertikalen (föderalen) und horizontalen (gewaltenteilenden) Kompetenzverteilung der Verfassung. Zu berücksichtigen sind neben den verfassungsrechtlichen Vorgaben an Gesetzgebungsverfahren die Anforderungen, die sich aus dem Inhalt der Änderung, also der Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen, ergeben: Das Grundgesetz erlaubt gemäß Art. 80 I GG den Gesetzgebungsorganen unter bestimmten Voraussetzungen, die Bundesregierung oder die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen zu ermächtigen. Den Exekutivorganen ist es dann gestattet, ausnahmsweise und unter strengen Vorgaben (Art. 80 I S. 2 f.) abstrakt-generelle Regelungen zu erlassen. Es bietet damit den Gesetzgebungsorganen die Möglichkeit, einen Teil ihrer Aufgaben zugunsten von Flexibilität und Schnelligkeit an die Exekutive abzugeben.
Diese Verschiebung in der vertikalen Kompetenzverteilung hat das Potential, die Mitwirkungsrechte der Länder durch den Bundesrat bei der Normgebung auf Bundesebene leerlaufen zu lassen. Davor schützt Art. 80 II GG, demzufolge Rechtsverordnungen durch die Bundesregierung zustimmungspflichtig sind, soweit sie aufgrund von Gesetzen erlassen werden, die von den Ländern im Auftrage des Bundes als eigene Angelegenheit ausgeführt werden. Das trifft nach dem Grundsatz des Art. 83 GG auf das Infektionsschutzgesetz zu.
Die Zustimmungspflichtigkeit nach Art. 80 II GG betrifft aber ausdrücklich nur den Erlass von Rechtsverordnungen, nicht Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen durch Gesetz. Der Einschub „vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelungen“ in Art. 80 II GG zeigt aber, dass es gesetzlich angeordnete Ausnahmen von dieser Regel geben kann. Das Grundgesetz regelt keine darüberhinausgehenden Anforderungen an entsprechende Gesetze, jedenfalls nicht ausdrücklich.
Solche ergeben sich vielmehr indirekt aus Art. 80 II GG: Wenn der Bund ohne Zustimmung des Bundesrates per Gesetz bestimmen könnte, dass die Bundesregierung in Zukunft auch ohne Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen erlassen darf, liefe Art. 80 II GG vollkommen leer. Zum Schutz der Beteiligungsrechte des Bundesrates aus Art. 80 II GG kann eine Ausnahme von Art. 80 II GG nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen werden (Wallrabenstein, in: vMünch/Kunig, GG, 7. Aufl., Art. 80 GG, Rn. 61; BVerfGE 26, 66 [76] – Postgebühren [1970]).
Grundsätzlich ist eine Ermächtigung der Bundesregierung zum Erlass von Rechtsverordnungen durch Änderung des Infektionsschutzgesetz zwar möglich, allerdings nur über zwei Wege. Entweder wäre die Bundesregierung für jeden Verordnungserlass unmittelbar nach Art. 80 II GG auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen, oder sie benötigte für die Schaffung einer gesetzlichen Ermächtigung der Bundesregierung zum Verordnungserlass ohne Zustimmung des Bundesrates ebenfalls die vorherige Zustimmung des Bundesrates, nach der impliziten Regelung des Art. 80 II GG. Ohne den Bundesrat und damit die Landesregierungen funktioniert eine Ermächtigung der Bundesregierung zum Erlass von Rechtsverordnungen jedenfalls nicht.
Folgefragen
Ob eine Ermächtigung der Bundesregierung auch zweckmäßig ist, ist eine andere, politische Frage. Sie lässt sich nicht aus dem Grundgesetz ableiten. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive sei aber angemerkt, dass eine föderal organisierte Pandemiebekämpfung rechtlich flexibler auf lokale Vorbedingungen und Ausbruchsgeschehen reagieren kann. Folge können nicht nur effektivere, sondern auch zielgerichtetere Maßnahmen sein. Diese gebieten gerade die Grundrechte.
Auch weiterhin würde es auf die Landesregierungen und nachgeordneten Verwaltungen ankommen: für die Ausführung des Infektionsschutzgesetzes blieben nämlich nach Art. 83 GG weiterhin die Länder zuständig.
Aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive möchte ich die Frage in den Raum stellen, ob es sinnvoll ist, die Governance der Pandemiebekämpfung in einer Hochphase der Pandemie umzustellen: Ob das für Infektionsschutz zuständige Referat 614 im Bundesgesundheitsministerium innerhalb von Tagen das Personal, sowie rechtliche und epidemiologische Sachkompetenz mobilisieren kann, die sich in den sechzehn Gesundheitsministerien und sechzehn Staatskanzleien der Länder in den letzten zwölf Monaten entwickelt hat, scheint mir fraglich.
Eine rechtlich zu beantwortende Frage ist jene des Rechtschutzes. Dieser hat im letzten Jahr gegen die Rechtsverordnungen der Länder überwiegend vor den Oberverwaltungsgerichten in Form von Normenkontrollen gemäß § 47 I beziehungsweise § 47 VI VwGO stattgefunden. Vorteil dieser Verfahrensart: während eine Entscheidung nach dem deutschen Verwaltungsprinzip regelmäßig nur zwischen den Parteien („inter partes“) wirksam ist, wirkt ein Beschluss nach § 47 VI VwGO universal – das Gericht kann die Wirkung der Rechtsverordnung insgesamt aussetzen. Diese Rechtswirkung ist ausgesprochen grundrechtsfreundlich, den sie wirkt auch gegenüber Personen, die keine Rechtsmittel eingelegt haben – was normalerweise den Großteil der betroffenen Bevölkerung betrifft.
Das Rechtsmittel der Normenkontrolle gemäß §§ 47 I, VI VwGO ist aber gegen Rechtsverordnungen des Bundes nicht eröffnet. Gegen eine Rechtsverordnung des Bundes kann nur Feststellungsklage gemäß § 43 I VwGO auf Nichtbestehen der Verpflichtungen aus der Rechtsverordnung erhoben werden (BVerfG, B. v. 17.0.2006 – 1 BvR 541/02, 542/02, Rn. 40–54). Die Rechtswirkung bezieht sich dann immer nur auf die klagenden Parteien. Für sämtliche auf dem Bundesgebiet anfallende Verfahren wäre dann gemäß § 52 Nr. 5 VwGO das Verwaltungsgericht Berlin zuständig. Dort wird man sich freuen. Da schnelle Entscheidungen notwendig sind, das Gericht aber nicht in kürzester Zeit mit kompetenten Verwaltungsrichter*innen aufgestockt werden kann, wird sich eine entsprechende Überlastung in gröberer Kontrolle im Eilrechtsschutz ausdrücken, was der Freiheitsentfaltung nicht dienlich sein dürfte.
Alternativen: Änderung des § 28a III IfSchG
Aus rechtlicher Perspektive bleibt vorerst festzuhalten, dass ein Erlass von Rechtsverordnungen zur Pandemiebekämpfung durch Änderung des § 32 IfSchG rechtlich möglich ist. Sie würde aber sowohl die Bundesregierung und Bundesministerialverwaltung als auch das Verwaltungsgericht Berlin vor enorme logistische Herausforderungen stellen. Diese könnten nur durch Entdifferenzierung der Regelungen beziehungsweise der rechtlichen Kontrolle aufgefangen werden und wären so weder der Pandemiebekämpfung noch dem Grundrechtsschutz dienlich. Welche Alternativen bleiben?
Auf rechtlichere Ebene kommt eine Änderung des § 28a III IfSchG und eine Entflechtung, Verdeutlichung und Konkretisierung der dort enthaltenen Handlungsverpflichtungen und Eingriffsbefugnisse in Betracht. Der Bund kann sehr weitreichende Regelungen im Infektionsschutzgesetz festschreiben. Aber auch hier ginge es nicht ohne die Länder: gegen eine einfache Änderung des Infektionsschutzgesetzes kann der Bundesrat binnen drei Wochen nach Entscheidung des Bundestages den Vermittlungsausschuss anrufen (Art. 77 II S. 1 GG) und gegebenenfalls zwei Wochen nach Abschluss des Verfahrens im Vermittlungsausschuss Einspruch erheben (Art. 77 III GG), der dann vom Bundestag zurückgewiesen werden kann (Art. 77 IV GG). Kurz: eine Änderung gegen den Mehrheitswillen der Ministerpräsident*innen könnte Monate an Verzögerung bedeuten. Vor Ablauf dieser Frist kommt das Gesetz nicht zustande (Art. 78 GG) und kann nicht ausgefertigt und verkündet werden (Art. 82 I GG), was Voraussetzung für das Inkrafttreten (Art. 82 II GG) ist. Bundestag, Bundesregierung und Landesregierungen müssen sich wohl in jedem Fall der Rechtsänderung auch in Zukunft untereinander abstimmen.
Vielleicht findet sich die Lösung daher auch auf vorrechtlicher Ebene, wie es auch die Rechtsprechung zunehmend anmahnt: In der Entwicklung eines politischen Konzepts zur Pandemiebewältigung, welches fortschreitendes Wissen über das Virus und die Mutationen, Impfungen und Testungen, sowie grundrechtliche Freiheit berücksichtigt.
Kurzer Zwischenruf zur örtlichen Zuständigkeit beim Rechtsschutz gegen Rechtsverordnungen des Bundes: Sofern das BMG Rechtsverordnungen erlässt, dürfte das VG Köln zuständig sein. Denn das BMG hat seinen ersten Dienstsitz in Bonn.