Schutzverpflichtungen aus dem Infektionsschutzgesetz
Warum Landesregierungen und Gesundheitsämter bei Überschreitung der gesetzlichen Schwellenwerte die Corona-Bekämpfungsmaßnahmen verschärfen müssen
Trotz steigender Inzidenzen wollen Bund und Länder in der Hoffnung auf Schnelltests und Impfstoffe die Maßnahmen der Pandemiebekämpfung weiter schrittweise lockern. Ob dies nachhaltig einen Weg in die Normalität weist, ist ungewiss. Die wissenschaftliche Politikberatung hält auch andere Konzepte bereit. In der politischen Debatte diskutiert man die unterschiedlichsten 7-Tages-Inzidenzwerte – 50, 100 und sogar 200 –, die dem Infektionsschutzgesetz so nicht zu entnehmen sind. Vielmehr nennt § 28a III IfSchG die Schwellenwerte 50 und 35. Bei genauerem Hinsehen spricht viel dafür, dass diese Norm die zuständigen Behörden sogar dazu verpflichtet, Maßnahmen der Pandemiebekämpfung zu treffen und zu verschärfen, wenn diese Schwellenwerte überschritten sind.
Schutzpflichten aus dem Infektionsschutzgesetz?
§ 28a III IfSchG konkretisiert in unübersichtlicher Form in zwölf Sätzen die Ermächtigung des Infektionsschutzgesetzes zum Erlass von Maßnahmen und Rechtsverordnungen: Abhängig von der 7-Tages Inzidenz (S. 4, 12) „sind“ regional, soweit es kein regional übergreifendes Infektionsgeschehen gibt (S. 2), Maßnahmen „zu ergreifen“ (S. 5, 6), die eine „effektive Eindämmung“ (S. 6) oder „schnelle Abschwächung“ (S. 5) des Infektionsgeschehens „erwarten lassen“. Bei geringeren regionalen Inzidenzen „kommen“ Maßnahmen lediglich „in Betracht“ (S. 7), wenn nicht landes- oder bundesweite Maßnahmen „anzustreben“ (S. 9, 10) sind.
Am unmittelbar verständlichsten ist Satz 1: Schutzgüter der Maßnahmen sind „Leben und Gesundheit“ sowie die „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“. In den folgenden Sätzen ist hingegen eine ganze Menge unklar, z. B. die Rechtsfolge von Satz 2: Schutzmaßnahmen sollen regional nach S. 4–12 ausgerichtet werden, „soweit Infektionsgeschehen innerhalb eines Landes nicht regional übergreifend oder gleichgelagert sind“. Die in Bezug genommenen Sätze 9 und 10 betreffen aber gerade überregionale Infektionsgeschehen. Gelten gar die S. 4–12 nicht bei überregionalem Infektionsgeschehen? Das kann wohl kaum gemeint sein. An dieser Stelle sei nur an das Handbuch der Rechtsförmlichkeit und das verfassungsrechtliche Gebot der Normklarheit aus Art. 20 I, III GG erinnert. Verständliche Gesetzgebung sieht anders aus.
Recht konkret sind aber die S. 5 und S. 6 formuliert: Diesen zufolge „sind“ bei einer 7-Tages Inzidenz über 35 „breit angelegte“ (S. 6) und über 50 „umfassende“ (S. 5) regionale Maßnahmen „zu ergreifen“. In ihnen scheint damit nicht nur eine Begrenzung exekutiver Rechtsetzung enthalten zu sein. Der Wortlaut legt eine rechtliche Verpflichtung zum Erlass von Schutzmaßnahmen am Maßstab der Schwellenwerte „35“ und „50“ nahe.
Daraus ergeben aber sich mindestens vier Fragen:
1. An wen richtet sich § 28a III S. 5, 6 IfSchG?
2. Folgen konkrete Handlungspflichten aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG?
3. Ist eine Verpflichtung verfassungsrechtlich zulässig?
4. Resultieren aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG subjektive Rechte?
Wer wird von § 28a III S. 5, 6 IfSchG verpflichtet?
Eine rechtliche Verpflichtung kann sich aus § 28a III IfSchG aber nur ergeben, sofern auch die verpflichtete Behörde dem Gesetz zu entnehmen ist. Ausdrücklich steht in § 28a III IfSchG kein Adressat, sodass ein Blick in den systematischen Zusammenhang notwendig ist. Gem. §§ 54, 32 S. 2 IfSchG bestimmen die Länder, wer für die Ausführung der §§ 28–32 IfSchG zuständig ist. Für Einzelmaßnahmen sind dies in der Praxis die kommunalen Öffentlichen Gesundheitsdienste1). Verordnungen erlassen die Landesregierungen (§ 1 I IfSGErmÜV SH). Rechtsgrundlage für den Erlass der Einzelmaßnahmen ist §§ 28 I S. 1, 2, 28a I IfSchG2), für den Erlass der Verordnungen §§ 32 S. 1, 28 I S. 1, 2, 28a I IfSchG3).
Die Regelung in § 28a III IfSchG steht im Zusammenhang zur Einzelermächtigung der Gesundheitsdienste nach §§ 28a I, 28 I S. 1, 2 IfSchG. Auch der Umfang der Verordnungsermächtigung gem. § 32 S. 1 IfSchG richtet sich der nach den „Voraussetzungen“ der §§ 28–31 IfSchG. Der Erlass von Einzelmaßnahmen durch die Öffentlichen Gesundheitsdienste sowie Verordnungen durch die Landesregierungen wird durch § 28a III IfSchG beschränkt.
Gilt dies auch für eine Verpflichtung? § 28a III S. 2 IfSchG konkretisiert die Reichweite der Maßnahmen, die „regional […] ausgerichtet werden“ sollen. Dass dies sich auf die regionalen Gesundheitsdienste beschränkt, lässt sich daraus nicht ableiten: auch die Landesregierungen können die Geltung von Verordnungen regional differenzieren und entsprechend der S. 5 und 6 ausgestalten. § 28a III IfSchG ist ein Verpflichtungsadressat nicht ausdrücklich zu entnehmen. Im Gesetz ist kein Grund angelegt, wieso Gesundheitsdienste und Landesregierungen im Hinblick auf eine Ermächtigung gleich, im Hinblick auf eine Verpflichtung ungleich behandelt werden sollten. § 28a III S. 5 und 6 IfSchG richten sich daher an die Landesregierungen und die öffentlichen Gesundheitsdienste.
Inhalt der Verpflichtungen aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG
Gem. § 28a III S. 5 IfSchG sind bei der Überschreitung einer 7-Tages Inzidenz von 50 „umfassende Schutzmaßnahmen“ zu erlassen, die eine „effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“. Bei der Überschreitung einer 7-Tages Inzidenz von 35 sind nach S. 6 „breit angelegte Schutzmaßnahmen“ zu treffen, die eine „schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehens erwarten lassen.“
Das IfSchG konkretisiert keinen der Begriffe4). Zwar listet § 28a I IfSchG Standardmaßnahmen auf, aber § 28a III S. 5, 6 IfSchG knüpfen daran nicht an. Die Gesetzesbegründung (S. 34 f.) differenziert zwischen „schwerwiegenden“ und „starken“ Einschränkungen des öffentlichen Lebens, was die Auslegung kaum weiterbringt. Einen Maßstab zur Bestimmung der Unterschiede fehlt. In der Eingriffsintensität ist er nicht zu finden – ob eine Betriebsschließung (§ 28a I Nr. 14 IfSchG) oder ein Gottesdienstverbot (§ 28a I Nr. 10 Var. 5 IfSchG) intensiver in Grundrechte eingreift, lässt sich nicht pauschal beantworten. Das notwendige Zusammenwirken mehrerer Maßnahmen in einem Gesamtkonzept verkompliziert die Bestimmung5).
Die Rechtsbegriffe der § 28a III S. 5, 6 IfSchG bleiben unbestimmt. Nach herkömmlichem Verständnis müssen sie durch Normsetzung konkretisiert werden. Es fehlen rechtliche Maßstäbe, die eine effektive gerichtliche Kontrolle der Maßnahmen am gesetzlichen Untermaß ermöglichen.
Dies gilt, besonders in verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren, auch in freiheitsrechtlichen Konstellationen: Ob eine Landesregierung die Ermächtigung zum Verordnungserlass überschreitet, lässt sich aufgrund der Unbestimmtheit über eine grobe Willkürkontrolle hinaus kaum gerichtlich feststellen6).
Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Verpflichtung
Wenn sie Kommunen als Träger der öffentlichen Gesundheitsdienste zum Erlass von Schutzmaßnahmen verpflichten, müssen sich Bund und Länder an Art. 28 II S. 1 GG bzw. entsprechendem Landesverfassungsrecht messen lassen. Dies ist unproblematisch, soweit die finanziellen Belastungen ausgeglichen werden. Die eigentliche Aufgabenübertragung an die Kommunen erfolgt durch die Länder (s. o.), sodass auch Art. 84 I S. 7 GG der Verpflichtung nicht entgegensteht.
Anders liegt der Fall, wenn ein Bundesgesetz Landesregierungen verpflichtet: Zwar erlaubt Art. 80 I S. 1 GG, die Landesregierungendiese zum Verordnungserlass zu ermächtigen. Eine Aussage, ob der Bund auch bestimmen darf, unter welchen Umständen eine Landesregierung eine Verordnung erlassen muss, ergibt sich aus Art. 80 I GG nicht. Aufgrund der Eigenstaatlichkeit der Länder (Art. 20 I, 30 GG) ist eine einseitige Verpflichtung der Länder durch den Bund nicht selbstverständlich. Auch die in der Gewaltenteilung angelegte Frage, ob ein Parlament eine Regierung unter bestimmten Voraussetzungen zum Normerlass verpflichten darf, ist nicht trivial7).
Subjektive Rechte aus § 28a III S. 5 und 6 IfSchG?
Schließlich stellt sich die Frage nach subjektiven Rechten aus § 28a III S. 5 und 6 IfSchG: Sind einzelne Personen berechtigt, von den Landesregierungen die Erfüllung der Verpflichtung zu verlangen? Dies hängt zentral von der Bestimmbarkeit der Verpflichtungen ab (s. o.). Zweite Voraussetzung ist ein bestimmbares Individu