Schutzverpflichtungen aus dem Infektionsschutzgesetz
Warum Landesregierungen und Gesundheitsämter bei Überschreitung der gesetzlichen Schwellenwerte die Corona-Bekämpfungsmaßnahmen verschärfen müssen
Trotz steigender Inzidenzen wollen Bund und Länder in der Hoffnung auf Schnelltests und Impfstoffe die Maßnahmen der Pandemiebekämpfung weiter schrittweise lockern. Ob dies nachhaltig einen Weg in die Normalität weist, ist ungewiss. Die wissenschaftliche Politikberatung hält auch andere Konzepte bereit. In der politischen Debatte diskutiert man die unterschiedlichsten 7-Tages-Inzidenzwerte – 50, 100 und sogar 200 –, die dem Infektionsschutzgesetz so nicht zu entnehmen sind. Vielmehr nennt § 28a III IfSchG die Schwellenwerte 50 und 35. Bei genauerem Hinsehen spricht viel dafür, dass diese Norm die zuständigen Behörden sogar dazu verpflichtet, Maßnahmen der Pandemiebekämpfung zu treffen und zu verschärfen, wenn diese Schwellenwerte überschritten sind.
Schutzpflichten aus dem Infektionsschutzgesetz?
§ 28a III IfSchG konkretisiert in unübersichtlicher Form in zwölf Sätzen die Ermächtigung des Infektionsschutzgesetzes zum Erlass von Maßnahmen und Rechtsverordnungen: Abhängig von der 7-Tages Inzidenz (S. 4, 12) „sind“ regional, soweit es kein regional übergreifendes Infektionsgeschehen gibt (S. 2), Maßnahmen „zu ergreifen“ (S. 5, 6), die eine „effektive Eindämmung“ (S. 6) oder „schnelle Abschwächung“ (S. 5) des Infektionsgeschehens „erwarten lassen“. Bei geringeren regionalen Inzidenzen „kommen“ Maßnahmen lediglich „in Betracht“ (S. 7), wenn nicht landes- oder bundesweite Maßnahmen „anzustreben“ (S. 9, 10) sind.
Am unmittelbar verständlichsten ist Satz 1: Schutzgüter der Maßnahmen sind „Leben und Gesundheit“ sowie die „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“. In den folgenden Sätzen ist hingegen eine ganze Menge unklar, z. B. die Rechtsfolge von Satz 2: Schutzmaßnahmen sollen regional nach S. 4–12 ausgerichtet werden, „soweit Infektionsgeschehen innerhalb eines Landes nicht regional übergreifend oder gleichgelagert sind“. Die in Bezug genommenen Sätze 9 und 10 betreffen aber gerade überregionale Infektionsgeschehen. Gelten gar die S. 4–12 nicht bei überregionalem Infektionsgeschehen? Das kann wohl kaum gemeint sein. An dieser Stelle sei nur an das Handbuch der Rechtsförmlichkeit und das verfassungsrechtliche Gebot der Normklarheit aus Art. 20 I, III GG erinnert. Verständliche Gesetzgebung sieht anders aus.
Recht konkret sind aber die S. 5 und S. 6 formuliert: Diesen zufolge „sind“ bei einer 7-Tages Inzidenz über 35 „breit angelegte“ (S. 6) und über 50 „umfassende“ (S. 5) regionale Maßnahmen „zu ergreifen“. In ihnen scheint damit nicht nur eine Begrenzung exekutiver Rechtsetzung enthalten zu sein. Der Wortlaut legt eine rechtliche Verpflichtung zum Erlass von Schutzmaßnahmen am Maßstab der Schwellenwerte „35“ und „50“ nahe.
Daraus ergeben aber sich mindestens vier Fragen:
1. An wen richtet sich § 28a III S. 5, 6 IfSchG?
2. Folgen konkrete Handlungspflichten aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG?
3. Ist eine Verpflichtung verfassungsrechtlich zulässig?
4. Resultieren aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG subjektive Rechte?
Wer wird von § 28a III S. 5, 6 IfSchG verpflichtet?
Eine rechtliche Verpflichtung kann sich aus § 28a III IfSchG aber nur ergeben, sofern auch die verpflichtete Behörde dem Gesetz zu entnehmen ist. Ausdrücklich steht in § 28a III IfSchG kein Adressat, sodass ein Blick in den systematischen Zusammenhang notwendig ist. Gem. §§ 54, 32 S. 2 IfSchG bestimmen die Länder, wer für die Ausführung der §§ 28–32 IfSchG zuständig ist. Für Einzelmaßnahmen sind dies in der Praxis die kommunalen Öffentlichen Gesundheitsdienste1). Verordnungen erlassen die Landesregierungen (§ 1 I IfSGErmÜV SH). Rechtsgrundlage für den Erlass der Einzelmaßnahmen ist §§ 28 I S. 1, 2, 28a I IfSchG2), für den Erlass der Verordnungen §§ 32 S. 1, 28 I S. 1, 2, 28a I IfSchG3).
Die Regelung in § 28a III IfSchG steht im Zusammenhang zur Einzelermächtigung der Gesundheitsdienste nach §§ 28a I, 28 I S. 1, 2 IfSchG. Auch der Umfang der Verordnungsermächtigung gem. § 32 S. 1 IfSchG richtet sich der nach den „Voraussetzungen“ der §§ 28–31 IfSchG. Der Erlass von Einzelmaßnahmen durch die Öffentlichen Gesundheitsdienste sowie Verordnungen durch die Landesregierungen wird durch § 28a III IfSchG beschränkt.
Gilt dies auch für eine Verpflichtung? § 28a III S. 2 IfSchG konkretisiert die Reichweite der Maßnahmen, die „regional […] ausgerichtet werden“ sollen. Dass dies sich auf die regionalen Gesundheitsdienste beschränkt, lässt sich daraus nicht ableiten: auch die Landesregierungen können die Geltung von Verordnungen regional differenzieren und entsprechend der S. 5 und 6 ausgestalten. § 28a III IfSchG ist ein Verpflichtungsadressat nicht ausdrücklich zu entnehmen. Im Gesetz ist kein Grund angelegt, wieso Gesundheitsdienste und Landesregierungen im Hinblick auf eine Ermächtigung gleich, im Hinblick auf eine Verpflichtung ungleich behandelt werden sollten. § 28a III S. 5 und 6 IfSchG richten sich daher an die Landesregierungen und die öffentlichen Gesundheitsdienste.
Inhalt der Verpflichtungen aus § 28a III S. 5, 6 IfSchG
Gem. § 28a III S. 5 IfSchG sind bei der Überschreitung einer 7-Tages Inzidenz von 50 „umfassende Schutzmaßnahmen“ zu erlassen, die eine „effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“. Bei der Überschreitung einer 7-Tages Inzidenz von 35 sind nach S. 6 „breit angelegte Schutzmaßnahmen“ zu treffen, die eine „schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehens erwarten lassen.“
Das IfSchG konkretisiert keinen der Begriffe4). Zwar listet § 28a I IfSchG Standardmaßnahmen auf, aber § 28a III S. 5, 6 IfSchG knüpfen daran nicht an. Die Gesetzesbegründung (S. 34 f.) differenziert zwischen „schwerwiegenden“ und „starken“ Einschränkungen des öffentlichen Lebens, was die Auslegung kaum weiterbringt. Einen Maßstab zur Bestimmung der Unterschiede fehlt. In der Eingriffsintensität ist er nicht zu finden – ob eine Betriebsschließung (§ 28a I Nr. 14 IfSchG) oder ein Gottesdienstverbot (§ 28a I Nr. 10 Var. 5 IfSchG) intensiver in Grundrechte eingreift, lässt sich nicht pauschal beantworten. Das notwendige Zusammenwirken mehrerer Maßnahmen in einem Gesamtkonzept verkompliziert die Bestimmung5).
Die Rechtsbegriffe der § 28a III S. 5, 6 IfSchG bleiben unbestimmt. Nach herkömmlichem Verständnis müssen sie durch Normsetzung konkretisiert werden. Es fehlen rechtliche Maßstäbe, die eine effektive gerichtliche Kontrolle der Maßnahmen am gesetzlichen Untermaß ermöglichen.
Dies gilt, besonders in verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren, auch in freiheitsrechtlichen Konstellationen: Ob eine Landesregierung die Ermächtigung zum Verordnungserlass überschreitet, lässt sich aufgrund der Unbestimmtheit über eine grobe Willkürkontrolle hinaus kaum gerichtlich feststellen6).
Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Verpflichtung
Wenn sie Kommunen als Träger der öffentlichen Gesundheitsdienste zum Erlass von Schutzmaßnahmen verpflichten, müssen sich Bund und Länder an Art. 28 II S. 1 GG bzw. entsprechendem Landesverfassungsrecht messen lassen. Dies ist unproblematisch, soweit die finanziellen Belastungen ausgeglichen werden. Die eigentliche Aufgabenübertragung an die Kommunen erfolgt durch die Länder (s. o.), sodass auch Art. 84 I S. 7 GG der Verpflichtung nicht entgegensteht.
Anders liegt der Fall, wenn ein Bundesgesetz Landesregierungen verpflichtet: Zwar erlaubt Art. 80 I S. 1 GG, die Landesregierungendiese zum Verordnungserlass zu ermächtigen. Eine Aussage, ob der Bund auch bestimmen darf, unter welchen Umständen eine Landesregierung eine Verordnung erlassen muss, ergibt sich aus Art. 80 I GG nicht. Aufgrund der Eigenstaatlichkeit der Länder (Art. 20 I, 30 GG) ist eine einseitige Verpflichtung der Länder durch den Bund nicht selbstverständlich. Auch die in der Gewaltenteilung angelegte Frage, ob ein Parlament eine Regierung unter bestimmten Voraussetzungen zum Normerlass verpflichten darf, ist nicht trivial7).
Subjektive Rechte aus § 28a III S. 5 und 6 IfSchG?
Schließlich stellt sich die Frage nach subjektiven Rechten aus § 28a III S. 5 und 6 IfSchG: Sind einzelne Personen berechtigt, von den Landesregierungen die Erfüllung der Verpflichtung zu verlangen? Dies hängt zentral von der Bestimmbarkeit der Verpflichtungen ab (s. o.). Zweite Voraussetzung ist ein bestimmbares Individualinteresse8). Schutzzweck der Maßnahmen ist gem. § 28a III S. 1 IfSchG gerade der „Schutz von Leben und Gesundheit“, was sich klar auf individuelle Interessen einzelner Personen bezieht. Dies wird auch in der Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses deutlich (S. 73), wonach die Maßnahmen der „Umsetzung“ der Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit aus Art. 2 II S. 1 GG dienen.
Soweit die offenen Rechtsbegriffe bestimmbar sind, lassen sich § 28a III S. 5 und 6 IfSchG auch individuelle Ansprüche auf staatlichen Schutz durch Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ausgerichtet an den gesetzlichen Schwellenwerten entnehmen. Diese Rechte unterscheiden sich von Ansprüchen aus grundrechtlichen Schutzpflichten9) grundlegend. Während bei grundrechtlichen Schutzpflichten aufgrund der Gewaltenteilung eine gerichtliche Zurückhaltung geboten ist, bestimmt hier der demokratisch legitimierte Gesetzgeber den Anspruch durch Gesetz. Der Anspruch ist dann verwaltungsgerichtlich im Wege einer allgemeinen Leistungsklage durchsetzbar.
Ein Absatz mit 12 – bald 13 – Sätzen und vielen Rätseln: § 28a III IfSchG
Die am 4.3.2021 beschlossenen, aber noch nicht im Bundesgesetzblatt verkündeten Änderungen des § 28a III IfSchG zielen darauf ab, Virusmutationen in der Pandemiebekämpfung zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist nach dem zukünftigen S. 12 für die „Aufhebung oder Einschränkung“ der Schutzmaßnahmen nach den S. 9–11 (wonach Maßnahmen „anzustreben“ sind) die Durchimpfung der Bevölkerung „zu berücksichtigen“. § 28a III IfSchG wird dann aus 13 unstrukturierten Sätzen bestehen. Verständlicher wird das Gesetz durch diese Änderungen nicht.
Schlussendlich lässt sich hier zweierlei festhalten: Erstens haben § 28a III S. 5, 6 IfSchG eine rechtstaatlich-liberale Funktion. Sie bestimmen Bedingungen für Eingriffe in Freiheitsrechte. Zweitens sprechen Wortlaut und Gesetzgebungsgeschichte der Norm für eine rechtliche Verpflichtung von Landesregierungen und Öffentlichen Gesundheitsdiensten zu Schutzmaßnahmen, mit korrespondierenden subjektiven Rechten Einzelner.
Aufgrund der miserablen Gesetzgebung sind Inhalte von Übermaß und Untermaß sowie der subjektiven Rechte nur schwer zu bestimmen. Deutlich bestimmt sind jedoch die gesetzlichen Schwellenwerte von 35 und 50, die überraschend und wohl rechtswidrig gar nicht mehr Ausgangspunkt politischer Entscheidungen zu sein scheinen. Die Rechtsprechung steht damit nun vor der Herausforderung, die Norm zu konkretisieren und die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen am Untermaß des § 28a III S. 1 IfSchG zu überprüfen – bis hin zu einer Verpflichtung von Öffentlichen Gesundheitsdiensten und Landesregierungen, die Maßnahmen an den gesetzlich vorgeschriebenen Schwellenwerten auszurichten.
References
↑1 | z. B. § 10 GDG SH |
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↑2 | z. B. Allgemeinverfügung der Stadt Flensburg vom 12.03.2020 |
↑3 | z. B. Corona-BekämpfVO SH |
↑4 | kritisch im Gesetzgebungsverfahren schon Kießling, S. 7 und Klafki, S. 5 |
↑5 | Gerhardt, IfSchG, 5. Aufl. 2021, § 28a Rn. 102 |
↑6 | kritisch im Gesetzgebungsverfahren im November 2020 schon Kießling und die anderen Sachverständigen |
↑7 | bejahend in anderer Konstellation BVerfGE 78, 249 [272 f.] – 1988 |
↑8 | vgl. Maurer/Waldhoff, VerwR, 20. Aufl. 2020, § 8 Rn. 8 |
↑9 | zu diesen bereits im November knapp hier |
Schöner Beitrag, vielen Dank für die zutreffenden Anregungen. Ich stelle mir die Frage, ob die von Dir in den Blick genommenen Sätze 5 und 6 bei einer etwas anderen Betrachtungsweise abgesehen von der gesetzgebungstechnischen Misere einen Mehrwert haben können. Du konzentrierst Dich mit der aus praktischer Sicht sicherlich bedeutsamen Bindung der Landesregierungen als Verordnungsgeber. Die Bindungswirkung der Sätze 5 und 6 könnte ihre Wirkung doch – bitte korrigiere mich falls ich falsch liegen sollte – auch für die kommunalen Gesundheitsdienste adressieren. Mit §§ 28, 28a besitzen sie die notwendige Ermächtigungsgrundlage, um (punktuell und regional) auf das Überschreiten der normierten Inzidenzwerte zu reagieren, oder? Bei wohlwollender Deutung könnte man die Regelung unabhängig von der Qualifizierung als subjektiv-öffentliches Recht und obwohl dies womöglich nicht einmal beabsichtigt war, m.E. so verstehen. Die Folgeprobleme liegen natürlich auf der Hand und sind nicht neu: Wie ist das Verhältnis von regionaler Allgemeinverfügung zu überregionaler Rechtsverordnung? Können sich die Kreise und kreisfreien Städte über die materiellen Gesetze „hinwegsetzen“ und anlassbezogen strengere Maßnahmen erlassen? Ich weiß es nicht. Es wäre aber zumindest ein interessantes Gedankenspiel. Liebe Grüße!
Wenn die entsprechende Landesverordnung eine Bestimmung enthält, dass diese lokalen Verordnungen/Allgemeinverfügungen vorgeht, wohl kaum.
Was mich aber interessieren würde:
Wie ist das Verhältnis IfSchG zur Bildunghoheit der Länder?
Könnte die Schulministerin einer Stadt, aktuelles Bsp. Duisburg, zwingen Schulen offenzuhalten, selbst wenn die Corona-Schutzverordnung kein Verbot weitergehender Regulierung enthält?
Vielen Dank für die Anmerkungen und den Hinweis!
M. E. ist die kommunale Ebene aus den S. 5 und S. 6 in gleicher Weise verpflichtet wie die Landesregierungen. Das hätte ich noch deutlicher herausarbeiten können.
Die Landesregierungen werden in § 32 I IfSchG ermächtigt, Maßnahmen nach den §§ 28 und 28a IfSchG zu treffen, nicht aber zu regeln, wann welcher Kreis tätig werden darf. Das müsste aus meiner Sicht dann per Gesetz geschehen. Die Verschärfung von Maßnahmen durch die öffentlichen Gesundheitsdienste ist aus meiner Sicht rechtlich kein Problem.
Die Folge werden dann aber noch unübersichtliche Regelungszusammenhänge sein, die eher aus Verwaltungswissenschaftlicher Sinn problematisch sind.
Vielen Dank für den Beitrag.
Es zeigt sich in praxi nun die bereits im Gesetzgebungsverfahren und nach Einführung des § 28a IfSG auch unmittelbar in der Lit. vorgetragene Schwäche der einfachgesetzlichen Positivierung eines Inzidenzwerts als Leitfigur der Pandemiebekämpfung.
Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, dass § 28a Abs. 3 S. 1 IfSG eine Ausrichtung der Eindämmungsmaßnahmen zu Recht (auch) an der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems verlangt, die Vorschrift allerdings im Ergebnis bloß eine starre Orientierung am Inzidenzwert einfordert (§ 28a Abs. 3 S. 4 IfSG spricht zwar von „insbesondere“; das wird durch den eindeutigen Wortlaut des § 28a Abs. 3 S. 5 IfSG – wie Sie zutreffend herausstellten – aber postwendend konterkariert). In ihrer Relevanz stetig zunehmende Parameter wie Teststrategie, Immunisierung in der Bevölkerung, Intensivbettenkapazitäten, Krankheitsverläufe etc. müssen sich dem starren Inzidenzschema des § 28a Abs. 3 unterordnen. Die von Ihnen zu Recht angesprochene Problematik einer Handlungspflicht der Länder bei Überschreitung eines Schwellenwertes macht das vor diesem Hintergrund nicht besser.
Sehr geehrter Herr Eibenstein,
vielen Dank für Ihren Kommentar.
Was die Gesetzgebungsorgane als Maßstab gewählt haben ist meines Erachtens juristisch hier nicht erheblich, eher dass sie die Inzidenzwerte als Maßstab gewählt haben (und damit immerhin einen faktisch zu ermittelnden Wert). Solange der Wert nicht vollkommen wilkürlich gewählt wird, wird er sich verfassungsrechtlich kaum kritisieren lassen.
Ob der Maßstab klug (nicht wilkürlich!) gewählt ist, ist eine andere Frage die außerhalb meiner Expertise liegt.
Für augenfällig intensive flächendeckende Grundrechtsbeschränkungen genügt Ihnen (auch bei zunehmend verändertem äußerlichen Umständen) das Bestehen eines nicht willkürlichen Inzidenzwertes?
Sehr geehrter Herr Eibenstein,
mein Beitrag bezog sich nur auf die Wahl des Maßstabes „Inzidenzwert“. Dass die Maßnahmen in Grundrechte eingreifen und daher die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffes erfüllt sein müssen, versteht sich von selbst.
Schade, dass Sie offenbar derart polemisch auf – wie ich finde – interessante Folgefragen reagieren. Dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausnahmslos Geltung beansprucht, wird wohl kaum
Hier irgendwo ernsthaft bezweifelt.
Ich halte den Inzidenzwert als „Leitfigur“, wie zuvor geschrieben wurde, aber auch zu kurz gedacht. Interessant wäre jedenfalls auch, ob sich nicht eine Verfassungswidrigkeit des § 28a III, 5 IfSG daraus ergeben kann, dass ungeachtet der vänderung der pandemischen Parameter weiterhin bei bestimmter Inzidenz bestimmte Handlungsgebote an die Exekutive bestehen. Was, wenn zwar eine Inzidenz in einem Landkreis bei 51 liegt, in dem Landkreis aber nahezu jeder Einwohner geimpft oder immun ist?
„ Was die Gesetzgebungsorgane als Maßstab gewählt haben ist meines Erachtens juristisch hier nicht erheblich“
Warum nicht? Warum interessiert Sie der Maßstab, nach dem infektionsschutzrechtliche Ge-/Verbote verfügt werden nicht? Das ist doch geradezu der entscheidende Punkt (bei dem ich iÜ. meinem Vorredner zustimmen möchte).
Sehr geehrte RA. C. Mueller und Dr. P. Stuermer,
vielen Dank für Ihr Nachfassen!
Eine rechtswissenschaftliche Diskussion um § 28a III IfSchG muss aus meiner Sicht in erster Linie berücksichtigen, dass es sich dabei um eine gesetzgeberische Entscheidung handelt. Daraus ergeben sich die Anforderungen an eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Entscheidung.
Der juristische Maßstab ist dabei einer der Rechtmäßigkeit, nicht der Zweckmäßigkeit.
§ 28a III S. 5, 6 IfSchG dient in jedem Fall der Rechtfertigung von Eingriffen. So muss sich nicht nur die Einzelmaßnahme, sondern auch abstrakt-generell die Norm an der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Im Rahmen der Geeignetheit muss sich fragen lassen, ob das Mittel (Maßnahmen an Inzidenzwerte) zu koppeln, den Zweck (Schutz des Gesundheitssystem, Schutz der Gesundheit) verfolgen kann. Im Rahmen der Erforderlichkeit, ist die Frage ob es ein milderes, aber gleich geeingetes Mittel gibt. Die Kopplung an Inzidenzwerte scheint mit dabei eher eine Frage der Geeignetheit zu sein, als der Erforderlichkeit (die Kopplung an andere Faktoren ist nicht unbedingt milder). In beiden Punkten aber, wird sich festhalten müssen, dass die Judikative der Exekutive mit einem judical-self-restraint begegenen muss, selbst kaum Maßstäbe über die Wilkürkontrolle hinaus hat, die unterschiedliche Eignung von Faktoren zu ermitteln.
Daraus ergeben sich für mich zwei Ergebnisse: 1. im Moment ist die Kopplung an Inzidenzwerte nicht verfassungswidrig (nochmal: das ist eine Perspektive der Rechtmäßigkeit, nicht der Zweckmäßigkeit). 2.: es kann Situationen geben (wie die von der vorrednen Person beschriebene), in der die Norm sich nicht mehr im verfassungswidrigen Rahmen hält. Allerdings muss sich dies nicht aus aus dem Anknüpfen an Inzidenzwerte ergeben, sondern ergibt sich dann ggf. aus der Höhe. Dies scheint mir in der aktuellen Situation aber recht spekulativ.
Es stellt sich die Frage wieso die Werte 35/50 gewählt wurden. Zu dem Zeitpunkt war es wegen Überlastung von Krankenhäusern und Nachvollziehbarkeit bei Gesundheitsämtern.
Das Thema Überlastung dürfte sich durch Impfung der älteren Bevölkerung erledigt haben.
Gesundheitsämter mag ich nicht beurteilen.
Das Parlament sollte vielleicht doch diskutieren
Habe ich richtig gelesen? Das IschG ist nur bis 31.03.2021 festgeschrieben. ..Das heisst dann ist es nicht mehr gültig? Was dann? Ist der Lockdown dann gesetzwidrig?
Sehr geehrter Herr Kollege Gallon,
vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, wenn ich diesmal ein Beispiel aus der Gerichtsbarkeit bringen darf, dass in der Begründung zur Eilentscheidung des OVG Saarbrücken §§ 32, 28a IFSG so kurz angesprochen worden ist. Das Gericht nimmt wohl an, dass dort keine taugliche Rechtsgrundlage konstituiert wird. Nach der Begründung dürfte es aber auch § 28a IFSG als nicht mit dem Übermaßverbot vereinbar ansehen.
1. Wenn das Gericht der Auffassung ist, dass die Norm gegen das Übermaßverbot verstößt, müsste es eigentlich dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, darf aber nicht so tun, als gäbe es die Norm nicht.
2. Ob man dann eine Willkür- oder Vertretbarkeitskontrolle anlegt, wäre eine andere Frage; man muss jedenfalls dem Gesetz- oder Verordnungsgeber eine Einschätzungsprärogative zugestehen und es vermeiden, die Epidemie auf der faktischen, also der epidemiologischen Seite besser verstehen zu wollen, als es der Mainstream der Epidemiologen tut.
3. Unter anderem bei der Entscheidungsbegründung des OVG hatte ich nicht das Gefühl, dass es sich mit den (mathematisch-epidemiologischen) Modellen, die das Regierungshandeln anleiten, richtig eingehend beschäftigt hat.
a. In qualitativen Begriffen wird vom Gericht an einer Begründungsstelle über ein im Wesentlichen vor allem quantitatives oder jedenfalls weitgehend quantifizierbares Problem gesprochen: Zum Beispiel spricht es davon, dass die Öffnung des Einzelhandels nur einen „niedrigen“ Anteil am Pandemiegeschehen, also wohl nur niedrigen Einfluss auf den R-Wert hat. Aber was heißt „niedrig“ und wie genau wirken sich viele nebeneinander bestehende, jeweils als Einflussfaktoren mit für sich „niedrigem“ Anteil am Infektionsgeschehen kumulativ bei welcher Inzidenzzahl auf den R-Wert aus? Ohne Schutzmaßnahmen liegt der R-Wert über 2 (aber das klingt eigentlich zu viel, weil innerhalb von 26 Tagen bei einem Ansteckungsfall Deutschland in der Folge komplett durchseucht würde; vielleicht verwechsle ich da was – im November 2020 lag der R-Wert aber zeitweise bei 1,2). Man könnte daher meinen, dass eine Absenkung um bloß 0,01 keinen nennenswerten Effekt hätte. Das stimmt aber nicht: Derzeit liegt der R-Wert bei 1,06. In 45 Tagen würden aus aktuell 17.500 Neuinfektionen bei Einfrierung dieses R-Werts daraus fast 241.000 tägliche Neuinfektionen; bei 1,05 dagegen „bloß“ 157.000; also um die 85.000 pro Tag weniger. Ein kleiner Zahlenwert kann in einer Exponentialfunktion über die Zeit einen großen Unterschied machen. Um in 45 Tagen bei um die 20.000 (= Inzidenz ~ 100) zu bleiben, müsste man unter einen R-Wert von 1,005 kommen. Bei 1,01 lägen wir schon bei 27.384.
b. Bei Annahme einer IFR von 0,5 % und Stabilisierung um 20.000 täglichen Infektionen resultierten daraus 4.500 Todesfälle, was ungefähr den Todesfällen bei umgebremsten Verlauf einer schweren Grippewelle im selben Zeitintervall entspricht. Würde man jetzt den Effekt der Impfungen vulnerabler Gruppen einstellen, müsste man gegenrechnen, wie sich eine möglicherweise erhöhte Sterblichkeit aufgrund der neuen Variante des Virus auswirkt. Ich finde es aber schwer, den „richtigen“ IFR zu ermitteln: Anders als oben gibt das RKI den IFR für 2020 auf Basis einer Münchener Studie mit 0,86 %; bei einer um 60 % erhöhten Sterblichkeit aufgrund der Mutation wären wir bei einer IFR von 1,376 %. Wenn es gelingt, durch Verschärfung der Schutzmaßnahmen den R-Wert im Durchschnitt der nächsten 45 Tage auf 1,005 abzusenken, läge – eine Durchimpfung unberücksichtigt – die Anzahl der Todesfälle in diesem Zeitraum dann bei sogar 12.485.
c. Man müsste in die Abwägung auch das Risiko einstellen, dass bei einer höheren Anzahl der Neuinfektionen auch das Risiko einer Mutation gesteigert ist, die infektiöser oder letaler und/oder immun gegen Impfstoffe sein könnte.
d. Es wird u. a. von Herrn Professor Murswiek implizit, aber vielleicht missinterpretiere ich ihn da, unterstellt, dass die Einführung von Schutzmaßnahmen im Falle einer schweren Grippewelle unangemessen wäre. Ist das denn so sicher? Dürfen die Verantwortlichen nicht, wenn sie frühzeitig bemerken, dass die Grippe diesmal besonders tödlich ist, etwa über den Winter in Altersheimen für Besucher eine Maskenpflicht anordnen? Dass es faktisch noch nicht gemacht und nicht zu dieser Frage entschieden wurde, sagt doch noch nichts über die rechtliche Zulässigkeit aus? Mit der angedeuteten Begründungslinie von Herrn Professor Murswiek – also der Perpetuierung eines vormaligen Schutzniveaus â