Jeder schweigt für sich allein
Silencing effect und die gleichheitsrechtliche Leerstelle in der Beleidigungsdogmatik
Am 3. April ist endlich das Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität in Kraft getreten. Vorausgegangen war ein übereiltes Gesetzgebungsverfahren, ignorierte verfassungsrechtliche Mängel, eine verweigerte Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten sowie mehrere Reparaturversuche. Ob die Wiederauferstehung des Gesetzes am Osterwochenende ein Grund zum Feiern ist, weil es tatsächlich eine effektivere strafrechtliche Verfolgung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität ermöglicht, darüber wurde schon viel geschrieben (etwa hier, hier und hier); die Regulierungsdebatte geht mit dem Digital Services Act in die nächste Runde. Vor allem die Meldepflicht für Plattformbetreiber, die ab dem 1.2.2022 gelten soll, ist kontrovers. Für Beleidigungsdelikte gilt diese Meldepflicht jedenfalls nicht, obwohl § 185 StGB die Mehrheit der angezeigten Hassdelikte ausmacht; hierfür wurden lediglich Strafschärfungen beschlossen.
Vorfrage und Grundlage dieser rechtlichen Regelung ist die verfassungsrechtliche Abwägung, die es überhaupt erst erlaubt, eine Meinungsäußerung unter Strafe zu stellen – oder gar, noch weitergehend, eine Pflicht zu etablieren, Meinungsäußerungen an die Strafverfolgungsbehörden zu melden. In dieser Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und würdebasiertem Persönlichkeitsrecht bildet jedoch die Gleichheit, die bei der beleidigenden Hassrede eine große Rolle spielt, eine seltsame Leerstelle. Dabei bietet die Rechtsprechung des BVerfG bereits zahlreiche Hinweise, wie sie die demokratiebezogenen Gehalte der beiden kollidierenden Grundrechte aktivieren und so den Besonderheiten gerade der digitalen Hassrede differenziert Rechnung tragen kann.
Im Zweifel für die Meinungsfreiheit?
Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Abwägung von Meinungsfreiheit einerseits und Persönlichkeitsrecht andererseits bei Beleidigungsdelikten hat das Bundesverfassungsgericht in jahrzehntelanger Rechtsprechung entwickelt und mit vier parallelen Kammerbeschlüssen vor knapp einem Jahr klargestellt. Die Botschaft: Mit den fachgerichtlichen Irrwegen (Künast!) haben diese Maßstäbe nichts zu tun.
Ausgangspunkt der Abwägung ist die Meinungsfreiheit, der nach Lüth eine Doppelfunktion zukommt: In ihrer individuell-subjektiven Funktion ist sie „unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit“, in ihrer kollektiv-demokratischen Funktion „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend“. Die Funktion des Persönlichkeitsrechts bleibt in den Beleidigungsfällen dagegen unausgesprochen.
Aus der kollektiv-demokratischen Funktion der Meinungsfreiheit leitet das Gericht die bekannte Vorzugsregel ab: Der Ehrschutz müsse umso mehr zurücktreten, je mehr es sich um einen „Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage“ handelt, „hier spricht die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede“. Denn dann kollidieren nicht mehr nur grundsätzlich gleichrangige Individualinteressen, sondern es geht um mehr: den freien Austausch von Meinungen als Grundlage der Demokratie.
Hier scheint ein Motiv auf, das auch für Hassrede relevant ist: Es würde die Grundfesten der Demokratie gefährden, wenn Bürger:innen aus Angst vor strafrechtlichen Sanktionen nicht mehr am Diskurs teilnehmen. Dies ist auch bekannt als sogenannter „chilling effect“.
Wen trifft der Hass?
Inzwischen wird gesamtgesellschaftliche Meinungsfreiheit jedoch nicht mehr allein durch staatliche Regulierung bedroht, sondern vor allem durch private Einschüchterung. In sozialen Medien eskaliert Rede zu Hassrede, und Hassrede zu Hasskriminalität.
Dieser Hass trifft nicht alle in gleicher Weise. Gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse setzen sich auch online fort; analoger wie digitaler Hass richtet sich überwiegend gegen Minderheiten. Anders als in der liberalen Theorie des „Markts der Meinungen“ ist die Folge solcher Rede aber häufig nicht Gegenrede, sondern Schweigen; die Betroffenen klinken sich zum Selbstschutz aus, werden also faktisch aus dem Diskurs gedrängt. Auch Angehörige marginalisierter Gruppen, die selbst nicht von Hassrede betroffen sind, spüren diesen Einschüchterungseffekt. So gaben in einer Studie der Universität Leipzig 42 Prozent der Befragten an, aus Angst vor Hassrede eigene Beiträge vorsichtiger zu formulieren oder gar nicht erst zu posten.
Wo staatliche Sanktionen einen „chilling effect“ erzeugen, führt Hassrede zu einem „silencing effect“. Auch dieser Effekt raubt dem öffentlichen Diskurs Stimmen – Stimmen, die unentbehrlich sind, damit der demokratische Diskurs nicht zur Diktatur der Mehrheit verkommt.
Das ist nicht nur ein demokratiepraktisches Problem, sondern auch ein strukturelles, ein Gleichheitsproblem. Bereits in der Lüth-Entscheidung heißt es, „Lebenselement“ unserer Grundordnung seien gerade die „in gleicher Freiheit“ vorgetragenen Meinungen. Umso mehr erstaunt es, dass die Gleichheit in der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht überhaupt nicht auftaucht.
Gleichheitsrechtliche Aktivierung
Freilich können in formaler Hinsicht alle am freien Meinungsaustausch teilnehmen. Doch ein rein formales Gleichheitsverständnis, das auf die formell gleichen Partizipationsmöglichkeiten aller Bürger:innen verweist, führt hier nicht weiter. Hassrede trifft faktisch überwiegend Minderheiten; die freie Rede der Mehrheit wird zum Schweigen der Minderheit. Soll die Meinungsfreiheit kein bloßes Versprechen bleiben, sondern für alle gleich wirksam werden können, bedarf es eines materiellen Gleichheitsverständnisses, das diese faktisch ungleichen Teilhabemöglichkeiten mit einbezieht. (In dieser Weise kann ein materielles Gleichheitsverständnis beispielsweise auch die mittelbare Diskriminierungswirkung formal neutraler Regelungen erfassen.)
Doch wie kann eine solche gleichheitsrechtliche Perspektive in die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht einfließen? Das zentrale methodische Einfallstor hat das BVerfG schon längst eingebaut: die bekannte Vorzugsregel, die die kollektiv-demokratische Funktion als überindividuelles Interesse an der Meinungsfreiheit in die Abwägung mit einstellt. Das BVerfG zaubert dabei keineswegs ein neues Verfassungsgut aus dem Hut, sondern aktiviert lediglich einen demokratischen Gehalt, der in der Meinungsfreiheit bereits angelegt ist. Voraussetzung dieser kollektiv-demokratischen Funktion der Meinungsfreiheit sind aber die „in gleicher Freiheit“ vorgetragenen Meinungen. Konsequent sind hier daher auch negative Folgen einer Äußerung für die gleiche Teilhabe am „geistigen Meinungskampf“ zu berücksichtigen.
Auf Seiten des Persönlichkeitsrechts leuchtet eine gleichheitsrechtliche Perspektive die strukturelle Dimension des individuellen Vorfalls aus. Bislang wird in der Abwägung nur auf die individuelle Würdeverletzung geschaut. So erscheint Hate Speech nicht als gesamtgesellschaftliche Verantwortung, sondern wird als Problem der individuellen Opfer privatisiert. Ein gleichheitsrechtlich aktiviertes Persönlichkeitsrecht berücksichtigt, dass Hassrede erst durch rassistische, sexistische usw. Zuschreibungen erklärbar wird. Doch Betroffenen wird der gleiche Anerkennungsanspruch als Mensch nicht individuell verweigert, sondern gerade aufgrund ihrer (Fremd-)Zuordnung zu einer vermeintlich minderwertigen Gruppe. Es geht gerade nicht nur um eine individuelle Ehrverletzung (also die Würde), sondern um eine kollektivbezogene Diskriminierung (also die Gleichheit).
Wie sich in dieser Weise Würde und Gleichheit zusammendenken lassen, hat jüngst das BVerfG in seinem Beschluss zu rassistischer Beleidigung gezeigt. Die 3. Kammer des Ersten Senats entschied dort, dass die Adressierung eines Menschen mit Affenlauten „das in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ausdrücklich normierte Recht auf Anerkennung als Gleiche unabhängig von der ‚Rasse‘ verletzt“ – damit werde „die Menschenwürde entgegen Art. 1 Abs. 1 GG angetastet“.
Erhellt die gleichheitsrechtliche Perspektive auf Seiten des Persönlichkeitsrechts also die Kollektivdimension der Beleidigung, macht sie auf Seiten der Meinungsfreiheit sichtbar, dass nicht nur freie Teilhabe am Meinungsaustausch für die Demokratie schlechthin konstituierend ist, sondern auch gleiche Teilhabe. Die Demokratie leidet nicht nur, wenn Bürger:innen ihre Meinungsfreiheit aus Angst vor staatlichen Sanktionen nicht gebrauchen („chilling effect“), sondern ebenso, wenn sie aus Angst vor privater Diskriminierung davor zurückschrecken („silencing effect“).
Auch für diese Einsicht gibt die jüngere Rechtsprechung des BVerfG zum Beleidigungsrecht einen Ansatzpunkt her: Zugunsten des Persönlichkeitsrecht könne es auch ins Gewicht fallen, wenn dessen Schutz „auch im öffentlichen Interesse“ liege, weil von diesem Schutz „eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft“ anderer Personen abhänge. Der Passus, der sich auf Hetze gegen Personen des öffentlichen Lebens bezieht, meint zwar zunächst speziell die Übernahme demokratischer Verantwortung. Doch die Frage der Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft lässt sich auch auf den demokratischen Prozess insgesamt übertragen: als Mut zum Mitreden, zum Mitkämpfen im Meinungskampf. Wenn ganze Bevölkerungsteile diesen Mut verlieren, wird der demokratische Diskurs insgesamt verkürzt. Eine gleichheitsrechtliche Perspektive weitet den Blick für diese Dimension gesamtgesellschaftlicher Meinungsfreiheit.
Auf eine Formel gebracht
Auf beiden Seiten der Abwägung aktiviert die gleichheitsrechtliche Perspektive insofern bislang schlummernde Grundrechtsgehalte. In Anknüpfung an die bekannte Vermutungsregel lässt sich diese Aktivierungswirkung von Art. 3 GG in einer Je-desto-Formel zusammenfassen: Das Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso geringer, je größer der Bezug der Äußerung zu einem Diskriminierungsmerkmal aus Art. 3 Abs. 3 GG ist, insbesondere wenn die Äußerung geeignet ist, abschreckende Effekte auch auf Dritte und somit auf den demokratischen Diskurs insgesamt zu entfalten.
Geht es beispielsweise um die Frage, ob eine Äußerung in erster Linie der öffentlichen Meinungsbildung dient oder aber der Hetze gegen einzelne Personen, so würde nach dieser Formel eine gruppenbezogene Herabwürdigung dafür sprechen, dass eher letzteres der Fall ist. Und müssen sich im Rahmen der Machtkritik gerade Amtsträger:innen auch scharfe Kritik gefallen lassen, insbesondere wenn sie diese durch eigene Äußerungen veranlasst haben, so müssen sie keine Diskriminierung dulden; hier wird der Würdeschutz durch Art. 3 Abs. 3 GG gestärkt.
Würde, Freiheit – und Gleichheit!
Zur Klarstellung: Es geht nicht darum, den öffentlichen Meinungsaustausch auf Zimmertemperatur zu führen, ihn von provokanten, beunruhigenden, schockierenden Äußerungen komplett zu befreien. In den Worten des BVerfG: „Eine Beunruhigung, die die geistige Auseinandersetzung im Meinungskampf mit sich bringt und allein aus dem Inhalt der Ideen und deren gedanklichen Konsequenzen folgt, ist notwendige Kehrseite der Meinungsfreiheit und kann für deren Einschränkung kein legitimer Zweck sein.“
Natürlich schränkt jede Regulierung der freien Rede die Meinungsfreiheit ein; diese Beschränkungen müssen sich deshalb strikt am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen. Aber Vorsicht vor falschen Gegensätzen: Es geht nicht um Gleichheit zum Preis von Freiheit. Es geht um die größtmögliche Verwirklichung von realer Freiheit insgesamt. Dies ist kein demokratisches Nullsummenspiel. Gleichheit und Freiheit bedingen sich gegenseitig; beide dienen gemeinsam der Errichtung einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft.
Deshalb setzt das Verfassungsrecht dem Meinungskampf Grenzen. Und diese sind insbesondere dann erreicht, wenn Einzelnen aufgrund einer (vermeintlichen) Gruppenzugehörigkeit ihr gleicher Achtungsanspruch abgesprochen und so genau diejenige freie Auseinandersetzung untergraben wird, auf die das Grundgesetz vertraut.
Anm. d. Red.: Im ersten Absatz wurde das Datum des Inkrafttretens der Meldepflicht für Plattformbetreiber vom 1.7.2022 auf den 1.2.2022 berichtigt.