Alles auf Los
Durch Losverfahren besetzte Gremien und ihre demokratische Legitimation
Für einen kurzen Augenblick richteten sich alle Blicke der Berliner Stadtgesellschaft auf einen Wahlkreis in Berlin-Lichtenberg. Nach der Wiederholungswahl gab es bei der Auszählung von ursprünglich vergessenen Wahlstimmen ein Patt zwischen den Direktkandidat*innen der CDU und der Linken. Dieses Patt hätte bedeutet, dass ein Los darüber entscheidet, wer ins Abgeordnetenhaus einzieht. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, waren es doch Vertreter*innen der Union, die vor einigen Wochen das Losverfahren mit deutlichen Worten kritisierten, als die sogenannte „Letzte Generation“ einen gelosten Gesellschaftsrat forderte. Es dauerte nicht lange, bis Konservative das Ende und den Untergang der parlamentarischen, grundgesetzlichen Demokratie an die Wand malten. Wäre also ein durch ein Losverfahren zusammengesetztes Gremium tatsächlich undemokratisch?
Ein Gesellschaftsrat soll’s richten
Doch der Reihe nach. Die Aktivist*innen der Letzten Generation fordern einen Gesellschaftsrat, der verbindlich die Klimapolitik der Bundesregierung bestimmen soll. Das Konzept ist nicht neu. Es ist stark angelehnt an das Partizipationsverfahren Bürgerrat, in dem zufällige und (deskriptiv) repräsentative Bürger*innen ein Gutachten zu einem vom Auftraggeber vorher definierten Thema erarbeiten. Auftraggeber können verschiedene staatliche Stellen sein, regelmäßig ist es jedoch das Parlament. Im Bürgerrat werden Expert*innen hinzugezogen und es wird in Kleingruppen deliberiert, um am Ende ein möglichst rationales Ergebnis im Sinne des Allgemeinwohls zu erhalten. Im Anschluss wird das Ergebnis an den Auftraggeber übergeben, der sich im besten Falle vom Gutachten für die eigene Politik inspirieren lässt. Im schlechtesten Fall verschwindet das teuer und aufwendig erarbeitete Gutachten in der Schublade. Auch der Gesellschaftsrat soll in diesem Modus arbeiten, mit dem Unterschied, dass eine Ergebnisverbindlichkeit dadurch hergestellt werden soll, dass die Regierung verspricht, die Ergebnisse 1:1 umzusetzen.
In diese Debatte stoßen nun Politiker*innen, die der Letzten Generation vorwerfen, sie wollen die Demokratie abschaffen. Vorneweg äußerte sich Markus Söders Mann fürs Grobe, CSU-Generalsekretär Martin Huber, und warf den Aktivist*innen Extremismus vor. Doch auch andere – differenziertere – Aussagen ließen aufhorchen. Das Los sei „keine Demokratie“, so die CDU-Politikerin und Mittelstands- und Wirtschaftsunionsvorsitzende Gitta Connemann. Auch Parlamentarier*innen der Regierungskoalition äußerten sich skeptisch. So stellt FDP-Politiker Konstantin Kuhle, sonst nicht im Verdacht vorschnelle verfassungsrechtliche Analysen anzustellen, fest: „Sie können nicht Leute auslosen und mit der Macht ausstatten, über das Wohl und Weh des ganzen Landes zu entscheiden. Das ist undemokratisch.“
Fakt ist, dass es zur Frage, inwiefern das Losverfahren einen demokratischer Auswahlprozess darstellen könnte, nicht allzu viel Forschung gibt. Das Vorgängermodell der Planungszelle, die im kommunalen Planungsrecht bereits seit den 1970er Jahren Anwendung fand, ordneten Jürgen Volz, Bernhard Losch und Jörg Guttmann in zwei Aufsätzen in einer strikt konsultativen Ausgestaltung in engen Grenzen für mit dem Grundgesetz vereinbar ein. Sie beschäftigten sich jedoch nicht tiefgründig mit der Frage, wie sich das Los in den grundgesetzlichen Demokratiebegriff einordnen lässt. Eine tiefergehende Beschäftigung gelang da schon eher Jan Ziekow in seinem Rechtsgutachten für den Deutschen Bundestag. Dort versuchte er das Partizipationsmodell Bürgerrat auf alle verfassungsrechtlichen Punkte abzuklopfen. Zusammengefasst gesagt hält auch Ziekow den Bürgerrat für unproblematisch, solange er keine der Wahl legitimationsähnliche Wirkung suggeriere. Denn das Volk wirke beim Losverfahren eben nicht an der Staatswillensbildung mit. Doch auch Ziekow verzichtete auf eine detaillierte Einordnung des Losverfahrens in die verschiedenen Legitimationsmodi, die das Grundgesetz ermöglicht und das Bundesverfassungsgericht anerkennt. Wäre also ein durch ein Losverfahren zusammengesetztes Gremium tatsächlich undemokratisch? Niemand scheint eine Antwort zu haben, die über ein bloßes (vereinzelt auch durchaus substantiiertes) Bauchgefühl hinausgeht.
Gesellschaftsrat – keine Erfindung der Klimakleber*innen
Dass die Verfassungsrechtswissenschaft auf diesem Feld so blank ist, darf durchaus überraschen. Schon die antike attische Demokratie setzte in ihren Personalfindungsprozessen intensiv auf ein ausgeklügeltes Losverfahren. Wenn dieses historische Vorbild gemeinhin als die Keimzelle moderner Demokratien gilt, verblüfft es, dass niemand seine Personalentscheidungsmechanismen auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz abgeklopft hat. Wie viel historischer Kern steckt in unserer demokratischen Verfassung?
Unser verfassungsrechtliches Demokratieverständnis beruht – da erzähle ich nun wahrlich nichts Neues – auf dem Böckenfördschen Drei-Säulen-Modell. Personelle, sachliche und funktionelle Legitimationsvermittlung wirken im Zusammenspiel, können einander zumindest teilweise ersetzen und sorgen am Ende für ein zur Ausübung von Staatsgewalt ausreichendes Legitimationsniveau. Doch auch wenn dieses Dogma sowohl in der Literatur als auch in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in die grundgesetzliche DNA übergangen zu sein scheint, darf nicht übersehen werden, dass das Bundesverfassungsgericht sie nicht als exklusive Legitimationsmöglichkeit staatlicher Stellen ansieht. Mit der ausdifferenzierten Rechtsprechung zur demokratischen Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung bietet uns Karlsruhe einen Anknüpfungspunkt, die allzu starre Fixierung auf Legitimationsketten unter bestimmten Voraussetzungen hinter uns zu lassen. Obwohl das Gericht einige dogmatische Punkte offenlässt, zeigt sich hier seine konsequente Auslegung des Demokratieprinzips als genau ebendas: ein Prinzip, das einer Weiterentwicklung durchaus zugänglich ist.
Drei Punkte sind entscheidend
Welchen Voraussetzungen müsste eine solche Weiterentwicklung des Demokratieprinzips durch losbasierte Partizipation gerecht werden? Im Ergebnis muss sich ein solcher Vorschlag an den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG messen lassen, der jedoch mehr zulässt, als eine aufgeregte Debatte auf Twitter vermuten lässt. Nachfolgend sollen die wichtigsten verfassungsrechtlichen Fragen aufgeführt werden, die eine Adaption des Losverfahrens in das grundgesetzliche System beantworten müsste.
Sicherlich könnte das Losverfahren und die damit verbundene Partizipation das parlamentarische System lediglich ergänzen. Es muss geklärt und bestimmt werden, ob ein Bürger- bzw. Gesellschaftsrat in seiner konkreten Ausgestaltung auf das Volk i.S.d. Art. 20 Abs. 2 GG zurückzuführen ist. Dies pauschal zu verneinen, weil keine Legitimationskette konstruiert werden kann, greift im Hinblick auf die oben bereits ausgeführten Hinweise auf die funktionale Selbstverwaltung zu kurz: Alles, was eine ununterbrochene Legitimationskette ist, ist Demokratie. Aber nicht alles, was keine ist, ist per se undemokratisch.
Ein zweiter Punkt liegt in der demokratischen Gleichheit. Jede Mitwirkung an staatlicher Willens- und Entscheidungsfindung muss dem strengen demokratischen Gleichheitsgebot genügen, das die Ungleichbehandlung der Bürger*innen bei Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte zur Teilhabe an staatlichen Entscheidungsfindungsprozessen grundsätzlich ablehnt. Vereinzelt wird darauf verwiesen, dass die Mitwirkung bei einem Bürgerrat nicht in den Händen, der Bürger*innen selbst liege, sondern dem zufälligen Losglück überlassen bliebe. Somit könne diese Form der Partizipation nicht demokratischen Ansprüchen genügen. Dass dies allerdings nicht zutrifft, legt bereits der Vergleich mit dem sehr ausdifferenzierten Diskurs über die Wahlrechtsgleichheit offen. Hier wird nicht an die Mitarbeit im Parlament angeknüpft, um gleichheitsrechtlichen Maßstäbe zur Anwendung zu bringen; es wird vielmehr auf das Moment der Wahl abgestellt. Werden also alle in dem Moment beteiligt, in dem es darum geht, das Personal auszuwählen? Damit muss das Losverfahren den gleichen Anforderungen gerecht werden. Im Moment der Personalauswahl muss es demokratische Gleichheit erreichen. Jede Ungleichbehandlung ist lediglich unter engen Voraussetzungen zu rechtfertigen. Wenn also alle die gleiche Chance haben ausgelost zu werden, ist das demokratische Gleichheitsgebot erfüllt. Mit anderen Worten: Das Recht auf gleiche demokratische Teilhabe enthält weder einen Anspruch aktiv im Parlament mitarbeiten zu dürfen noch das Recht darauf, in den Bürgerrat gelost zu werden. Die Chancengleichheit des Zugangs zu den jeweiligen Gremien muss jedoch gleich ausgestaltet sein.
Schließlich muss das Losverfahren auch noch in das Repräsentationssystem eingeordnet werden. Die Letzte Generation fordert – genau wie der ganz überwiegende Teil derjenigen, die das Partizipationsmodell Bürgerrat befürworten – eine Zusammensetzung, die Deutschland „im Kleinen“ widerspiegelt. Also eine Teilnehmendenschaft, die nach bestimmten deskriptiven Merkmalen (Alter, Wohnsitz, Migrationshintergrund, Gender) der Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland entspricht. Um die Verfassungsmäßigkeit dieser Forderung zu untersuchen, sei an dieser Stelle an die Debatte zu den Parité-Gesetzen erinnert, in der die Frage nach deskriptiver Repräsentation bereits gestellt wurde. Zwar gibt es mit den Entscheidungen aus Thüringen und Brandenburg bereits zwei Landesverfassungsgerichte, die einen solchen Repräsentationsbegriff bereits abgelehnt haben, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgericht steht jedoch noch aus. Doch selbst wenn man den grundgesetzlichen Repräsentationsbegriff nicht um deskriptive Merkmale ergänzen möchte, muss man die Augen vor der Zusammensetzung der Bevölkerung nicht vollkommen verschließen. Es war schließlich Ernst-Wolfgang Böckenförde, der höchstpersönlich den Begriff der „inhaltlichen Repräsentation“ prägte – ein Repräsentationsverständnis, das auf die dauerhafte und funktionierende Kommunikation zwischen Repräsentant*innen und Repräsentierten angewiesen ist. Ein Bürgerrat könnte jedenfalls dazu beitragen, dass diese Kommunikationsbeziehung verbessert würde.
Um es auf Bayerisch zu sagen
Damit sind selbstverständlich nicht alle Fragen rund um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit losbasierter Partizipation beantwortet. Insbesondere die Frage der Kompetenzen eines solchen Gremiums wird für die Verfassungsmäßigkeit ein entscheidender Faktor sein. Die aus meiner Sicht wichtigsten abstrakten verfassungsrechtlichen Fragen sollten jedoch damit als Denkanstoß – auch für CSU-Generalsekretäre – gegeben worden sein: Eine pauschale Verneinung von Gesellschafts- bzw. Bürgerräten ist weder wissenschaftlich fundiert, noch der Sache angemessen ist. Die Ampelkoalition hat sich die Einführung von Bürgerräten in den Koalitionsvertrag geschrieben. Man hört aus dem Parlament, dass gerade intensiv nach einem Thema gesucht wird, das sich für den ersten offiziellen Bürgerrat des Bundestags eignet. Auch nach dessen Umsetzung wird die parlamentarische Demokratie höchstwahrscheinlich immer noch unbeschadet bleiben. Was den Erfolg des Partizipationsmodells angeht, rate ich zu bayerischer Gelassenheit. Auch wenn das CSU-Generalsekretären in Wahlkampfzeiten berufsbedingt natürlich schwerfällt. Schaumermal.
Das könnte interessant werden, wenn im Losverfahren mehrheitlich Bürger bestimmt werden, die der AfD oder der Reichsbürgerszene nahestehen (oder zumindest überrepräsentiert sind im Bürgerrat/Gesellschaftsrat). Je kleiner der Bürgerrat/Gesellschaftsrat ist, desto wahrscheinlicher dürfte es sein, dass sich zufällig eine wenig repräsentative Abbildung der Gesellschaft ergibt. Fast jede Woche gibt es Lottospieler, die sechs Richtige haben (wenn auch ohne Superzahl). Da kann ich mir auch Losrunden vorstellen, in denen die Reichsbürger sich mehrheitlich im Bürgerrat/Gesellschaftsrat wiederfinden. Der Autor sollte prüfen, ob der Beitrag nicht um stochastische Überlegungen zum Losverfahren angereichert werde sollte.
Wenn von 100Mio Wahlberechtigten 51Mio für etwas sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Pro-Partei in einem 100-Personen-Bürgerrat mindestens 51 Stimmen hat, nur 46%.
Selbst bei einer 60:40-Verteilung liegt die Wahrscheinlchkeit, dass der Bürgerrat dagegen ist, noch bei 4%.
Ich bezweifle, dass man das als demokratisch legitimiert verteidigen kann.
https://matheguru.com/stochastik/hypergeometrische-verteilung.html bietet einen Rechner zum selbst herumspielen.
Demokratische Legitimation, Exekutiv- oder Legislativfunktionen zu übernehmen, kann ein Gesellschaftsrat nur haben, wenn er ein einigermaßen repräsentatives Abbild der Bevölkerung ist. Wie viele Tausend Personen soll dieser Rat denn umfassen?
Der “Gesellschaftsrat” ist überhaupt nicht demokratisch. Der Urgrund der Demokratie ist die Legitimität unterschiedlicher Meinungen und die Gleichheit der Wahl – als gleichberechtigte Bürger eben. Das ist durch einen solchen Gesellschaftsrat gerade nicht gegeben.
Ich habe immer mehr den Eindruck, dass der verfassungsblog demokratiefeindliche Meinungen unterstützt. Der Great Reset ist ja wohl demokratisch auch nicht zu haben – soll deshalb die Demokratie weichen?
Auch wenn das Stichwort “geloste Demokratie” erst einmal an das berühmte “herrenlosen Damenfahrrad” oder den nicht seltener zitierten “Brennholzverleih” erinnert, ist bei einer ernsteren Herangehensweise an das Phänomen sicherlich richtig, dass hier noch weiße Flecken auf der Landkarte staatstheoretischer Forschung auszumachen sind. Diese gilt es mit Blick auf die sich aufdrängenden Repräsentationsfragen zu schließen.
Soweit der Blick auf das Grundgesetz verengt wird muss aber wohl davon ausgegangen werden, dass dieses keinen Raum für ein solches Gremium jenseits der Parlaments- bzw. Regierungskonsultation lässt.
Nimmt man das vorgeschlagene Konzept zu einem entscheidenden Gesellschaftsrat ernst, hinsichtlich dessen Ergebnisse ein Umsetzungsautomatismus greifen soll, ist dies technisch gesehen nichts anderes als eine Kompetenzübertragung seitens des Parlaments.
Das die grundgesetzliche Demokratie hier enge Grenzen zieht zeigt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur europäischen Integration, die eine “Entwertung” des Wahlvorgangs nicht zulässt. Auch die Figur der begrenzten Einzelermächtigungen ist ein Zugeständnis an den supranationalen Staatenverbund, der dort keine Berechtigung finden kann, wo das Parlament (da rein binnenstaatlich) auch “einfach” selbst entscheiden könnte.
Die Vorfrage die hier mE fehlt: was soll denn so ein Gesellschaftsrat überhaupt entscheiden? Danach stellt sich doch eigentlich erst die Frage, welche demokratische Legitimation brauche ich für diese Aufgabe. Ein rein beratendes Gremium kann natürlich gelost werden … die Ausübung der drei Staatsgewalten hat das GG jedenfalls schon bestimmten Organen zugeordnet …