28 August 2024

Alltagsnorm und Kampfansage

Warum wir über Neutralität reden müssen

Das könnte ein wichtiges Thema sein, meldet sich die eigene Erinnerung an die 1990er-Jahre-Jugend in einer ostdeutschen Kleinstadt. Während die Verfahren und Institutionen der jungen Demokratie Wurzeln schlugen, gab es einen Alltag, in dem der politische Kompass auf Schulhöfen, in Jugendclubs oder an der Tankstelle mit Fäusten justiert wurde – entlang der Frage: „Bist du rechts, links, neutral?“ Die Konsequenzen der drei Optionen waren ungleich verteilt, die Entscheidung nicht immer besonders freiwillig. Wer als „anders“ oder „fremd“ abgestempelt wurde, hatte wenig Wahlfreiheit, über den wurde entschieden. Ich war nicht neutral, aber äußerlich unauffällig und im Geschichtsunterricht manchmal kleinlaut. Neben mir saß ein ortsbekannter Nazi-Schläger, der sich in der Pause damit brüstete, am Wochenende Bekannte verprügelt zu haben. Es herrschten vielerorts gewaltbewehrte Einschränkungen der Äußerungsautonomie. Viele Jugendliche und junge Erwachsene wählten damals deshalb die Option „neutral“ und das meinte: Indifferenz, Sich-Raushalten, Stress vermeiden, auch morgen noch miteinander klar kommen, Ruhe haben. Das wuchs als Tugend und wurzelte mit und neben den sich etablierenden politischen Verhältnissen.

Vom Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt der Satz, dass es ein Wagnis sei, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Das zielte auf die Rolle der Religion in einer sich säkularisierenden Gesellschaft, ist in der Rezeption aber zum „Diktum“ verallgemeinert worden. So sprach Jürgen Habermas abgewandelt von „vorpolitische[n] Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates, der von politischen Tugenden lebe, die sich nur in einer Zivilgesellschaft bilden können und die „eine Sache der Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur“ seien (Habermas 2005: 23). Von hier aus könnte man mal rückblickend drei Jahrzehnte durchschreiten und die ostdeutschen Transformationsjahre nach diesen vorpolitischen Grundlagen befragen: Wo und wie wurden politische Praktiken und Denkweisen geformt und wie wirken sie nach? Von welchen Wertbindungen lebt die Demokratie oder lässt sie erodieren? Wie positioniert man sich in und zu einem demokratischen Gemeinwesen?

Daran muss ich viel denken, weil mir vor allem in Ostdeutschland Neutralität als eine Alltagsnorm begegnet, als fraglos gegebene Selbstverständlichkeit, als Element einer mehrdimensionalen Politikdistanz: neutral sein in einem spezifisch entpolitisierten Verständnis. Eine Norm, an der Lehrer*innen, lokale Amtsträger*innen, Medien oder Vereinsfunktionäre gemessen werden und die darüber entscheidet, welchen Ort man dem Politischen zuweist; darüber ob politische Kontroversen, Haltungen, Positionierungen überhaupt einen Platz haben in Vereinsheimen, Klassenzimmern, Amtsstuben, Zeitungsredaktionen, am Gartenzaun oder auf einer Theaterbühne. Die Gründe mögen auch heute vielseitig sein: Indifferenz, Stress vermeiden, Desinteresse, Unsicherheit und Unvertrautheit, Missverständnisse darüber, was Neutralität eigentlich meint. Aber sie prägen die mentale Hausordnung vieler Menschen, d.h. die ungeschriebenen Regeln des Miteinanderauskommens, die Erwartungen an gesellschaftliche Institutionen strukturieren. Das ist die eine Dimension, die unterschätzte des Alltags, in dem Neutralitätsnormen, deren Ausdeutung und Funktion noch zu wenig untersucht sind: zum Selbstschutz, zur Legitimation und Delegitimation von Handlungen und Haltungen oder als Rechtfertigung einer spezifischen politischen Ordnung.

Für einen exemplarischen Einblick in die vielschichtigen Facetten und Bedeutungsaufladungen und Bedeutungsverschiebungen von Neutralität folgen drei Beobachtungen aus einem Feldforschungsaufenthalt in Greiz. Es ist Ende Juli 2024 und bald sind Landtagswahlen. Die AfD hat zum Sommerfest mit Björn Höcke geladen. Für die anstehenden Wahlen hat er Greiz als seinen Wahlkreis auserkoren, um möglichst hindernisarm ein Direktmandat zu erringen.

1. Szene: „Du wirst gebraucht“

Einfahrt in Greiz. Uns empfängt die Idylle einer Residenzstadt. Auf der anderen Seite des Flusses finden wir einen Parkplatz ganz in der Nähe einer anderen Veranstaltung. Das Demokratiefest eines lokalen Aktionsbündnisses soll einen Kontrapunkt zum Auftritt Höckes setzen. Neben uns entlädt ein Paar sein Auto: eine Kiste mit Material fürs demokratische Gegenhalten. Sie sehen einen Bekannten in Rufweite, einen Handwerker in Firmenkluft am Firmentransporter: „Kommst Du auch? Du wirst gebraucht. Jeder wird gebraucht. Der Höcke ist doch heute da.“ Er: „Nee, ihr wisst doch, ich hab auch Mitarbeiter.“ So ganz klar ist nicht, warum das ein Grund ist, nicht Position zu beziehen. Dafür ist die Antwort zu mehrdeutig. Aber es ist an diesem Sonntag ein Teilnehmer weniger auf dem Demokratiefest und erinnert mich daran, wie ich in der Schule neben dem Schläger sitze und still bleibe.

Ich kenne das auch anders und denke an den Januar 2024, an einen Feldforschungsaufenthalt in Dresden. Die rechtsextreme Kleinstpartei „Freie Sachsen“ hatte zum „Tag des Widerstands“ mobilisiert. Anlass sind die landesweiten Bauernproteste. Gekommen sind sehr wenige Bauer*innen, aber über 10.000 Teilnehmende. Auffällig viele davon Handwerker, mittelständische Unternehmen, Spediteure, teilweise in Belegschaftsstärke und Firmenkleidung. Es ist Wochentag und offenbar ruht dort die Arbeit. Firmenfahrzeuge sind mit politischen Statements beschmückt, darunter auch großformatige, dauerhafte Aufkleber in Frakturschrift. In den Reden wird der Stolz auf die Arbeit beschworen, den „die da drüben“ – gemeint ist die Sächsische Staatskanzlei am anderen Elbufer – nicht hätten. Jubel. Es wird auch grundsätzlich auf der Bühne: „Wir dürfen auch nicht die Augen verschließen. Über dem Grundgesetz steht in Deutschland immer noch das Besatzungsrecht und jetzt kann sich jeder von euch hier auf dem Platz die Frage beantworten, nach welcher Pfeife die Regierung tanzen muss.“ Laute Pfiffe und Buhrufe. Neutral bleiben oder stattdessen bereit sein für eine politische Positionierung in die eine oder andere Richtung Kosten in Kauf zu nehmen ist außerordentlich ungleich verteilt: Der Handwerker in Greiz scheut die Teilnahme am Demokratiefest und steht exemplarisch für Rückzug und Zurückhaltung demokratisch Gesinnter aus Gründen, die zahlreich sind. Am „Tag des Widerstands“ ruht in einigen Firmen die Arbeit und ganze Firmenbelegschaften ziehen wutbesohlt durch Dresden.

2. Szene: „Blühende Landschaften“

Von Greiz aus will einer nach dem Amt des Ministerpräsidenten greifen. Vielleicht nicht gleich in diesem Herbst. Vielleicht fühlt er sich auch zu Höherem berufen – „Björn Höcke for Bundeskanzler“ steht auf dem T-Shirt eines Teilnehmers des AfD Sommerfestes. Schätzungsweise vier- bis fünfhundert Menschen sind gekommen. Das Festvolk – eher älter – spiegelt die Demographie. Die immerhin 60-70 Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ich zähle, fallen aus dem Pi-mal-Daumen-Alters-Querschnitt heraus. Auf der Bühne heizt ein sächsischer AfD-Bundestagsabgeordneter die Stimmung auf und bringt sich in aller Bescheidenheit als sächsischer Remigrationsminister ins Gespräch. Während er in der Menge badet, kumpelt, redet, fällt Björn Höcke aus der Limousine direkt auf die Bühne. Den einen verspricht er blühende Landschaften, den anderen, was ihnen blüht: Abschieben, Abschaffen, Aufräumen. „Die ganzen Programme gegen rechts werden eingestellt. Weil diese Programme gegen rechts eine Zivilgesellschaft nähren, die keine Zivilgesellschaft ist. Das muss man verstehen. Eine Zivilgesellschaft wächst aus dem Volk heraus, aus seiner Tradition, aus seinen Werten. (…) Unter einer AfD-Regierung wird es keinen Kampf gegen rechts mehr geben, weil wir einen weltanschaulich neutralen Staat wollen, wir werden einen neutralen Rechtsstaat aufsetzen in Thüringen“. Neutralität klingt hier wie eine Drohung. Und die Rede über eine volksverbundene Zivilgesellschaft lässt an Böckenförde denken – wie und zu welchem Ende würden Staat und vorpolitischer Raum in dieser Vision zusammenwirken? Neutral meint hier das staatliche Zurückdrängen demokratischer Zivilgesellschaft – ein wertgebundenes Zurück- und Zurechtstutzen. Die Rede endet mit „Wir werden siegen“, ein Hochleben von Thüringen, Deutschland und – anspielungsreich – des „wahren Europas“, und schließlich mit der Nationalhymne. Zwei Jugendliche in Szenekleidung schmeißen beim Singen die Hand an die Brust.

3. Szene: „Die Demütigung“

Die andere, die – Höckes Definition – „volksfremde“ Zivilgesellschaft treffe ich einige Minuten später am Ende des Schlossparks. Auf den Randsteinen einer Rosenrabatte sitzen zwei Frauen mit Schildern, die die Aufschrift „Omas gegen rechts“ und „love is love“ auf Regenbogengrund tragen. Sie sind umringt von ca. 15 Personen, größtenteils sehr jung, mit gescheitelten Haare, eine Frau mit tätowiertem Hals. Fotos und Filme werden gemacht. Schaulust vermischt sich mit Konfrontationsbereitschaft. Die Frauen werden bedrängt und beschimpft. Eine Gruppe junger Mädchen mit AfD-Ballons steigt ins Blumenbeet und baut sich direkt hinter den Frauen auf. Die Männer vor ihnen kommen immer näher. Es wird gelacht in der Runde. Das geht einige Minuten so und heizt sich bedrohlich auf. In etwa fünf Meter Entfernung sitzen zwei Polizisten auf dem Mäuerchen der historischen Mühlgrabenbrücke und wirken desinteressiert. Stattdessen Gespräche mit Festgästen auf dem Nachhauseweg. Das Personenknäuel am Rosenbeet kommentiert ein Polizist: „Hier ist ja ein Raum für Meinungsaustausch“. So sitzen sie und machen sonst nichts. Zu einem Beamten sage ich knapp: „Interessantes Amtsverständnis.“ Er antwortet nicht, lässt aber seinen Körper sprechen. Er erhebt sich langsam und geht gemächlich zu den zwei Frauen, baut sich vor ihnen auf, beugt sich zu ihnen herunter. Dann, wie zu einem Kind: „Haben. Sie. Angst? Sie können jederzeit gehen“ Weiter passiert nichts. Der andere Beamte steht nun neben den Jugendlichen in der Runde, alle mit ähnlicher Körperhaltung, die Hände in die Hüfte gestemmt. So geht es munter und ermuntert weiter. Später erzählt mir eine der Frauen: „So ein unsicheres Gefühl durch die Polizei hatte ich noch nie“. Interessantes Amtsverständnis.

Konstellationen der Destabilisierung

Wir müssen reden, streiten, forschen über Neutralität in all diesen Facetten: Als Alltagsnorm, als Kampfansage, als etwas, dessen Verständnis in Institutionen sich zu verändern scheint. Das erste Beispiel, das mit den Unternehmern, zeigt: Kosten und Folgen, sich politisch zu positionieren sind (damals und heute) ungleich verteilt und damit auch die Bereitschaft es zu tun. Ein alltagsweltliches Verständnis von Neutralität strukturiert zivilgesellschaftliches Handeln oder Nicht-Handeln. Es gibt sanktionsbewehrte Einschränkungen der Äußerungsautonomie, die eher im sozialen Nahfeld verortet sind und wie vorauseilender Gehorsam wirken. Die Wahlkampfrede offenbart ein programmatisches Verständnis, das ein einseitig entpolitisiertes Gemeinwesen beschwört – notdürftig bemäntelt mit dem Stichwort des „neutralen Staates“. Die Polizisten wiederum wirken auf den ersten Blick unbeteiligt, indifferent und senden damit umso wirkmächtiger Signale – zumindest die Jugendlichen haben diese verstanden: uns passiert hier nichts. Es sind Resonanzräume für Bedeutungsverschiebungen dessen, was unter Neutralität verstanden wird.

Zur zweiten Dimension des Phänomens gehören Unsicherheiten in der Auslegung und Anwendung rechtlicher Neutralitätsforderungen innerhalb des demokratischen Institutionengefüges selbst. Das Grundgesetz formuliert ein Neutralitätsgebot, das fall- und kontextabhängig auszulegen ist und das zuallererst Staatsorgane bindet. Und auch hier macht es einen Unterschied, ob es darum geht, wie ein Landrat mit Beschlüssen des Kreistags umgeht oder ob er sich zu demokratiefeindlichen Positionen äußert. Generell entsteht in vielen Debatten der Eindruck, das staatliche Neutralitätsgebot gelte abstrakt, gleichermaßen und pauschal auch für alle möglichen anderen gesellschaftlichen Akteure, für Vereine etwa oder Bildungsinstitutionen. Dadurch verschwimmt die Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft und alle werden mit derselben Elle gemessen. Das führt zu Verunsicherung und Verwechslungen – etwa, wenn das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsens in der politischen Bildung missverstanden wird als Neutralitätsgebot. Der Beutelsbacher Konsens betont aber gerade, dass politische Kontroversen in der Gesellschaft auch kontrovers in Bildungsprozessen diskutiert werden sollen und Bildung eben gerade kein politikfreier Ort sein soll (Besand 2018).

Gleichzeitig wurde die Forderung nach vermeintlicher Neutralität ab 2018 zu einem Kampagnenthema innerhalb politischer Auseinandersetzungen. In verschiedenen Bundesländern schaltete die AfD Onlineplattformen mit dem Titel „Neutrale Schulen“, auf denen Eltern oder Schüler*innen Lehrkräfte melden konnten, die sich im Unterricht kritisch über die AfD äußern. Flankiert von parlamentarischen Anfragen zu Trägern der politischen Bildung führte das im Praxisfeld schulischer und außerschulischer politischer Bildung zu erheblichen Verunsicherungen (Hentges & Lösch 2021;Sämann 2021). In die gleiche Richtung zielen Kampagnen von rechtsextremen Organisationen wie „einprozent“, die dazu aufrufen über die Finanzämter die Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Vereinen der demokratischen Zivilgesellschaft anzustrengen. Wohl auch unter diesem Eindruck verändern sich offizielle Neutralitätsauslegungen von Behörden, wie das Beispiel des Sächsischen Landesrechnungshofs zeigt, der die Förderung der Zivilgesellschaft scharf rügte, weil diese etwa u.a. mit Angeboten zum „Umgang mit rechtspopulistischen Akteuren“ gegen das Neutralitätsgebot verstoße. Ein juristisches Gutachten attestierte jüngst, der Rechnungshof habe sich „sehr weit aus dem Fenster gelehnt – seine Auslassungen zum Neutralitätsgebot sind geradezu übergriffig“.

Angesichts so viel vorauseilendem Gehorsams staatlicher Institutionen bleibt eine tief verunsicherte Zivilgesellschaft zurück. Fatal ist, wenn diese Entwicklung ineinandergreifen. Passive Behörden, eine Zivilgesellschaft aus vorwiegend unpolitischen, neutralen „Geselligkeitsvereinen“ und wenigen, aufgrund falsch verstandener Neutralität, existenziell bedrohten Demokratieinitiativen. Die rechtlichen und alltagsweltlichen Auslegungskonkurrenzen und -konflikte um Neutralität münden in Ostdeutschland in „Konstellationen der Destabilisierung“ – die Entpolitisierung des demokratischen Gemeinwesens in einer Zeit, in der es in dramatischer Weise bedroht ist.


SUGGESTED CITATION  Leistner, Alexander: Alltagsnorm und Kampfansage: Warum wir über Neutralität reden müssen, VerfBlog, 2024/8/28, https://verfassungsblog.de/alltagsnorm-und-kampfansage/, DOI: 10.59704/d58cc10f7e846ae1.

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