14 December 2023

Weaponized Neutrality

Wie der Sächsische Rechnungshof versucht, die Zivilgesellschaft an die Kandare zu nehmen

Mit einem umfangreichen Sonderbericht hat der Sächsische Rechnungshof kürzlich die finanzielle Förderung der Zivilgesellschaft durch das Sächsische Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt auf den Prüfstand gestellt. Der Rechnungshof bemängelt nicht nur ein fehlendes rechtsstaatliches Verwaltungshandeln und „Anhaltspunkte für Interessenkollision und Befangenheitstatbestände“ (S. 11 f.), sondern auch die fehlende politische Neutralität der geförderten Projekte (S. 111 ff.). Maren Düsberg, die Sprecherin des zivilgesellschaftlichen „Netzwerk Tolerantes Sachsen“ weist den Bericht deswegen sogar als „Angriff auf die Autonomie der Trägerlandschaft“ zurück, der bisher nur aus „autoritären Systemen“ bekannt sei.

Das staatliche Neutralitätsprinzip aus Art. 21 I GG, Art. 3 I GG, Art. 20 I, II GG und Art. 38 I S. 1 GG schützt eigentlich einen staatsfreien politischen Prozess, in dem sich „die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollzieht, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin“. So hat es das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung über die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung von 1977 formuliert. Auch staatliche Förderprogramme dürfen deswegen den politischen Wettbewerb nicht verzerren, indem sie zu verdecktem Wahlkampf oder Oppositionsbekämpfung missbraucht werden. Tatsächlich ist der Sonderbericht aber ein weiterer Erfolgsschritt einer langjährigen Strategie der AfD, genau dieses staatliche Neutralitätsprinzip als Waffe zur Einschüchterung einer demokratischen Zivilgesellschaft zu instrumentalisieren.

Längerer Konflikt zwischen Rechnungshof und Sozialministerium

Gegenstand der Prüfung war das Förderprogramm „Integrative Maßnahmen“, mit dem das Sozialministerium seit dem Sommer der Migration 2015 jährlich zwischen 9 und 15 Millionen Euro an zivilgesellschaftliche Träger ausschüttete (S. 26), um die „gleichberechtigte Partizipation von Personen mit Migrationshintergrund in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“  zu fördern (A. I. 3. Richtlinie Integrative Maßnahmen 2020 aF.). Neben dem Programm „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ ist das eine der wichtigsten finanziellen Grundlagen der sächsischen Zivilgesellschaft. Anfang 2023 prüfte der Rechnungshof das Programm, was zu einer dreimonatigen Förderpause führte, da die Sächsische Aufbaubank als zuständige Bewilligungsstelle keine Förderbescheide erließ. Höhepunkt des Konflikts war der Korruptionsvorwurf gegen den zuständigen Staatssekretär im Sozialministerium Sebastian Vogel, der mit der Geschäftsführerin des Netzwerks Courage liiert war und selbst ehemaliger Vorsitzender eines geförderten Vereins war. Die persönlichen Vorwürfe erwiesen sich jedoch als haltlos. Auch die Generalstaatsanwaltschaft sah keinen strafrechtlichen Anfangsverdacht. Wegen Verstößen gegen das Mitwirkungsverbot musste Vogel allerdings im Sommer 2023 dennoch seinen Posten räumen. Sozialministerin Petra Köpping räumte im Landtag aber ein, dass der Vollzug der Förderrichtlinie nicht immer rechtmäßig war. Das Kabinett verabschiedete daraufhin im November 2023 eine neue Förderrichtlinie, die die Zuwendungsempfänger:innen „im Hinblick auf die geförderten Maßnahmen zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet“ (RL Integrative Maßnahmen Teil 1 III 5) Der Rechnungshof veröffentlichte nun im Dezember 2023 seinen Sonderbericht mit einem vernichtenden Urteil über die gesamte Förderpraxis und auch die neue Richtlinie (S. 25).

Der Rechnungshof prangert Regierungskritik und fehlende Neutralität an

In dem Bericht versucht der Rechnungshof auch die staatlich geförderte Zivilgesellschaft an die Kandare zu nehmen, indem er sich Regierungskritik verbietet und politische Neutralität einfordert. So kritisiert der Rechnungshof, dass die geförderten Vereine sich als „Lobby- und Interessenverbände“ verstünden, die „aktiv und bewusst auf die Politik und ihre Akteure Einfluss nehmen wollen“ (S. 111). Die Zivilgesellschaft organisiere sich mit Kampagnen und Positionspapieren gegen Positionen des Sächsischen Innenministeriums, des Ministerpräsidenten und Entscheidungen der Landkreise – teilweise mit finanzieller und ideeller Unterstützung aus anderen Parteien oder parteinahen Stiftungen (S. 111). Dass auf einer geförderten jährlichen Asylkonferenz über die „momentane sächsische Abschiebepraxis“, die Verantwortung der Regierung für die „katastrophalen Zustände in den Herkunftsländern“ sowie „Strategien für das Wahljahr 2019“ und den „Umgang mit rechtspopulistischen Akteuren“ beraten wurde, führt der Rechnungshof als Neutralitätsverstöße an (S. 117). Auf einem anderen staatlich geförderten Workshop sei über „Regression in Lagern“ und „pauschal Behördenwillkür im Asylverfahren“ gesprochen worden. Auch dabei könne es sich nach Meinung des Rechnungshofs nicht mehr um politische Bildung handeln (S. 117). Ein Großteil dieser Passagen prangert im Grunde Regierungskritik an und zeigt damit, welche Blüten das Neutralitätsdenken hier getrieben hat. Denn es ist der Rechnungshof selbst, der so im Gleichlauf mit dem Geldfluss eine Willensbildung von den Staatsorganen zum Volk hin durchsetzen will. Dass die Landesregierung hier wohl ihre eigenen Kritiker:innen mitfinanziert hat, stellt vieles, aber keinen Neutralitätsverstoß dar. Schließlich schützt das Neutralitätsgebot den potenziellen Zugang der Opposition zur Regierungsmacht, aber sicherlich nicht Regierung und Verwaltung vor Kritik aus der Zivilgesellschaft.

Verfassungsrechtlich ist es schon etwas heikler, wenn geförderte Projektträger gegen rechte Oppositionsparteien wie die AfD agieren. Im Sonderbericht finden sich hier neben dem andeutungsvollen „Umgang mit rechtspopulistischen Akteuren“ aber nur allgemeine Anschuldigungen ohne Beispiele. Der Rechnungshof mahnt an, dass sich ein Teil der Zuwendungsempfänger:innen „direkt und indirekt in der Öffentlichkeit gegen einzelne Parteien und politische Strömungen/ Positionen, nahezu ausschließlich aus dem rechten und konservativen Spektrum“ positioniere (S. 111). Der Rechnungshof geht davon aus, dass für geförderte Vereine im Endeffekt dieselben Maßstäbe gelten wie für staatliche Organe und bezieht sich dafür auf den Parlamentarischen Beratungsdienst Brandenburg: „Es muss gewährleistet sein, dass unterstützte Organisationen in ihren Aktivitäten nicht gegen Parteien Stellung beziehen. Bei Vereinen und Initiativen, die sich nicht neutral verhalten, ist der Staat gehalten, dafür zu sorgen, dass in Zukunft die Neutralität gewahrt bleibt.“

Die rechtspolitische Saat der AfD geht auf

Dass der Sächsische Rechnungshof nun so auf die politische Neutralität der geförderten Zivilgesellschaft pocht, ist auch eine Frucht langjähriger rechtspolitischer Bemühungen der AfD, das Neutralitätsprinzip gegen missliebige Akteure scharfzustellen. Der Bezug der AfD auf das Neutralitätsprinzip ist keineswegs nur instrumentell. So beschwört Maximilian Krah, der Rechtsaußen-Spitzenkandidat für die Europawahl etwa in Anlehnung an Carl Schmitt ein germanisches Staatsverständnis, in dem der Staat neutral über den politischen Dingen schwebt. Die AfD betreibt schon seit einigen Jahren eine erfolgreiche strategische Prozessführung von rechts, um mit Organstreitverfahren gegen amtliche Neutralitätsverstöße von Regierungsmitgliedern (BVerfG: Wanka, Seehofer, Merkel) das Bild einer Regierung des Rechtsbruchs zu zeichnen (Middelhof/Sehl; Pichl). Sie knüpft damit an den Rechtsbruchmythos um die nicht erfolgte Grenzschließung von 2015 an (Thym, Schmalz).

Die umstrittene Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts zu amtlichen Äußerungen statuiert eine strikte Neutralitätspflicht, sobald staatliche Ressourcen oder die Autorität des Amtes genutzt werden und führt damit im Endeffekt zu einer Entpolitisierung der Regierung (Überblick bei Michl). Die Neutralitätsanforderung an staatliche Förderprogramme sind bisher noch nicht ausjudiziert. Ein guter Teil des bisherigen Rechtsdiskurses stellen deswegen zwar unter anderem von der AfD angestoßene, aber unabhängige Gutachten der wissenschaftlichen Dienste der Landesparlamente und des Bundestages dar (Brandenburg, Berlin, Bundestag I u. II). Die Gutachten übertragen in unterschiedlichen Schattierungen die strikten Neutralitätsmaßstäbe für amtliche Äußerungen auf finanzielle Förderung der Zivilgesellschaft. Auf diese Gutachten stützt sich auch der Rechnungshof. Hinzu kommt eine wahre Flut von parlamentarischen Anfragen, die die AfD stellt (z.B. Sachsen-Anhalt zu Miteinander e.V). Allein für den Bereich der außerschulischen politischen Jugendbildungsarbeit wertet eine Studie von Jana Sämann 75 Anfragen der AfD aus den Landesparlamenten zwischen 2016 und 2020 aus, mit denen Förderstrukturen durchleuchtet und Bildungsträger mit dem Vorwurf fehlender Neutralität eingeschüchtert werden sollen. Auch kulturpolitisch versucht die AfD unter dem Schlagwort der Neutralität ein Programm zu verharmlosen, das die Renationalisierung der Kulturförderung anstrebt (Wolf). Gegen Lehrer:innen hat die AfD eine Zeit lang ein Meldeportal „Neutrale Schule“ betrieben, das vom Landesdatenschutzbeauftragten Mecklenburg-Vorpommern verboten wurde.

Die Art und Weise, wie nun der Sächsische Rechnungshof das Förderprogramm „Integrative Maßnahmen“ geprüft hat und den Vereinen mit einer Auflistung einzelner politischer Äußerungen auf den Leib rückt, zeigt, wie sich diese Einschüchterungsmethode etablieren konnte. Überall dort, wo AfD-Vertreter:innen in förderrelevanten Beiräten und Ausschüssen sitzen oder sitzen werden, können sie sich nun auch auf die Autorität des Sächsischen Rechnungshofes stützen. Jüngst haben 19 Sozialverbände und Träger der staatlich finanzierten freien Wohlfahrtspflege ein wichtiges Signal gegen Höckes Forderung gesetzt, die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu beenden. Gerade in den Bundesländern, in denen die Brandmauer am Einstürzen ist – allen voran Thüringen –, braucht die Zivilgesellschaft Rückendeckung und Äußerungsautonomie gegen solche Angriffe auf die Menschenrechte. Der Sonderbericht des Rechnungshofes leistet Schützenhilfe, diese Autonomie abzuschnüren.

Von Voraussetzungen, die der freiheitliche Staat nicht garantieren kann

Die faktische Abwälzung staatlicher Neutralitätspflichten auf freie Träger und Vereine über die Förderbescheide, die dem Rechnungshof vorschwebt, stößt jedoch auf gravierende verfassungsrechtliche Probleme. Zunächst ist klar, dass die Zuwendungsempfänger:innen von politischen Parteien organisatorisch, finanziell und ideell unabhängig sein müssen, damit keine verdeckte Parteienfinanzierung erfolgt. Auch darf der Staat Private nicht für die Bekämpfung der AfD fördern. Diese Neutralitätspflichten des Staates erwachsen daraus, dass er Grundrechtsadressat ist. Die geförderten Vereine bleiben trotz staatlicher Förderung selbst Grundrechtsträger:innen (Hufen). Als solche behalten sie einen auf Art. 5 I GG gestützten Äußerungsspielraum.

Obendrein gelten die Neutralitätspflichten selbst für den Staat nicht absolut. In der Entscheidung zum Verfassungsschutzbericht von 1975 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Staat unterhalb der Schwelle des Parteiverbots nach Art. 21 II GG sozusagen als Minusmaßnahme die Möglichkeit hat, verfassungswidrige Parteien „durch eine mit Argumenten geführte politische Auseinandersetzung in die Schranken verweisen zu lassen und dadurch ein Verbotsverfahren überflüssig zu machen“. Für den Verfassungsschutzbericht gelte ein Nachvollziehbarkeits- und kein Neutralitätsmaßstab: „Danach wäre es der Regierung untersagt, eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung und Betätigung zu verdächtigen, wenn diese Maßnahme bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich wäre und sich daher der Schluß aufdrängte, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhte.“ Auch wenn sich der Schutzbereich des Rechts der Parteien auf Chancengleichheit seit 1975 nicht zuletzt durch die Prozessführung der AfD drastisch verschoben hat, wäre es auch heute geradezu absurd, wenn die geförderten Grundrechtsträger:innen in ein engeres Äußerungskorsett gelegt würden als der Staat selbst. Die Möglichkeit zur sachlich fundierten Auseinandersetzung in der Bildungsarbeit, aber auch in öffentlichen Stellungnahmen mit rassistischen und verfassungswidrigen Positionen auch von Parteien kann deswegen durch staatliche Förderung nicht verschlossen werden (zur außerschulischen Bildungsarbeit: Cremer).

Wenn sich der Freistaat Sachsen gesellschaftlicher Akteure bedient, um die „Integration und gleichberechtigte Partizipation von Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ zu stärken, greift er auch auf diese Akteure zurück, weil er gesellschaftliche Bindungskräfte stärken möchte, die er nicht staatlich anordnen kann. Partizipation in allen Bereichen ist dabei notwendigerweise auch eine politische Aufgabe. Es handelt sich damit um ein Paradebeispiel für das Böckenförde-Diktum über den freiheitlichen Staat, der von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (Mangold). Das Sozialministerium greift auf das Engagement, die Solidarität und die Kompetenzen gesellschaftlicher Kräfte zurück – das muss den Preis haben, dass diese auch eigenständige, gesellschaftliche Kräfte bleiben und nicht zu neutralisierten Quasi-Amtsträger:innen werden. Eine Anwendung des Neutralitätsprinzips, wie sie der Rechnungshof praktiziert, nimmt dem demokratischen Prozess die Offenheit, die das Neutralitätsprinzip gerade schützen soll. Vielleicht müsste eine Abwandlung des Böckenförde-Diktums deswegen lauten: Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, denen er nicht seine eigenen