07 September 2023

Asymmetrie der Anpassungen des Bürgergelds und des steuerfreien Existenzminimums

Wahrung der rechtsgebietsübergreifenden Folgerichtigkeit?

Am 29.08.2023 verkündete Bundesarbeitsminister Heil, dass der Regelbedarf im Rahmen des Bürgergeldes erheblich angehoben wird: Alleinstehende werden ab Januar 2024 563 Euro anstatt 502 Euro pro Monat erhalten, was einem Anstieg von 12,1 % entspricht. Bereits mit Einführung des Bürgergeldes zum Januar 2023 wurde der bisherige Regelbedarf des Arbeitslosengelds II („Hartz IV“) von 449 Euro auf 502 Euro um 11,8 % erhöht. Das steuerrechtliche Äquivalent zur Gewährung des Existenzminimums durch das Bürgergeld ist der Grundfreibetrag in § 32a I 1 Nr. 1 EStG, der das Existenzminimum steuerfrei stellt. Dieser wird 2024 lediglich von 10.908 Euro um 6,3 % auf 11.604 Euro erhöht. Diese asymmetrische Anpassung führt zum Auseinanderfallen des sozial- und steuerrechtlichen Existenzminimums, sodass die Gefahr eines Verstoßes gegen das aus Art. 3 GG folgende Gebot der rechtsgebietsübergreifenden Folgerichtigkeit besteht.

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherung des Existenzminimums

Aus Art. 1 I GG in Verbindung mit Art. 20 I GG folgt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Fehlen einer Person die materiellen Mittel für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins, ist der Staat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags verpflichtet, dem Hilfsbedürftigen die materiellen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zur Verfügung zu stellen. Dieser Verpflichtung kommt der Staat durch das Bürgergeld nach, das nach § 19 I SGB II den Regelbedarf, Mehrbedarfe sowie den Bedarf für Unterkunft und Heizung umfasst. Der Regelbedarf umfasst nach 20 I SGB II die Kosten für die Sicherung des Lebensunterhalts, der ab Januar 2024 563 Euro betragen wird.

Das Bundesverfassungsgericht hat folgerichtig zum Sozialrecht im Steuerrecht auch aus der Garantie der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet, dass das Einkommen insoweit steuerfrei sein muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird: „Ebenso wie der Staat nach diesem Verfassungsnormen verpflichtet ist, dem mittellosen Bürger diese Mindestvoraussetzungen erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern, darf er dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zu diesem Betrag – der im folgenden als Existenzminimum bezeichnet wird – nicht entziehen.“ Diese verfassungsrechtliche Verpflichtung erfüllt der Gesetzgeber für Alleinstehende mit dem Einkommensteuertarif, der in § 32a I 1 Nr. 1 EStG den Grundfreibetrag enthält. Danach wird das zu versteuernde Einkommen, das im Jahr 2023 unter 10.908 Euro liegt, nicht besteuert.

Anpassung der Beträge in der Praxis

Aufgrund der Inflation, die aktuell besonders hoch ist (2022: 6,9 %; 2023: circa 6 – 8 %), steigen die Lebenserhaltungskosten. Daher erhöhen sich auch die für die Erhaltung des Existenzminimums erforderlichen Kosten. Vor diesem Hintergrund muss der Gesetzgeber das Bürgergeld sowie den Grundfreibetrag stetig anpassen, um seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung nachzukommen.

Im Sozialrecht erfolgt die Anpassung des Regelbedarfs automatisch durch den Index nach § 28 II-V SGB II. Dieser Index ist so gewählt, dass der Regelbedarf im Jahr 2023 um 11,8 % angepasst wurde und zum Jahr 2024 um 12,1 % ebenfalls erheblich erhöht wird. Damit auf kurzfristige Preissteigerungen reagiert wird, erfolgt die Indexierung erst im Sommer des Vorjahres. Die Leistung für Unterkunft und Heizungen werden dagegen nach § 22 I SGB II individuell berechnet, indem zunächst die tatsächlichen Aufwendungen für die Wohnung vom Staat erbracht werden und nach Ablauf einer Karenzzeit eine Angemessenheitsprüfung vorgenommen wird.

Dagegen existiert im Steuerrecht keine Regelung, welche den Grundfreibetrag automatisch anpasst. Zur Anpassung des Grundfreibetrags hat der Bundestag die Bundesregierung verpflichtet, alle zwei Jahre den sogenannten Existenzminimumbericht vorzulegen. In diesem berechnet das Statistische Bundesamt einen Mindestbetrag, an den der Grundfreibetrag anzupassen ist, um das Existenzminimum steuerfrei zu stellen. Der Gesetzgeber passt diesen Grundfreibetrag nach Veröffentlichung des Existenzminimumberichts für die folgenden zwei Jahre an, was zuletzt durch das Inflationsausgleichsgesetz für die Jahre 2023 und 2024 geschah.

Das Statistische Bundesamt bemisst den Grundfreibetrag anhand von drei Elementen: Der monatliche sozialrechtliche Regelbedarf für einen Alleinstehenden wird auf ein Jahr hochgerechnet; zur Berücksichtigung der Kosten für eine Unterkunft wird typisierend der durchschnittliche jährliche Mietpreis für eine 40qm2 Wohnung berechnet und zuletzt wird ein typisierender jährlicher Betrag für die Heizkosten zugrunde gelegt. Da das Steuerrecht ein Massenverfahren ist, können die Beträge für Wohnung und Heizung nicht individuell wie im Sozialrecht bemessen werden, sondern müssen typisiert werden.

Der 14. Existenzminimumbericht aus dem Jahr 2022 hat das steuerliche Existenzminimum für 2024 dabei wie folgt bemessen: 1.104 Euro Heizkosten, 3.924 Euro für die Kaltmiete sowie 6.444 Euro als Regelbedarfsniveau für einen Alleinstehenden, wonach sich ein Mindestfreibetrag von 11.472 Euro ergibt. Dabei entsteht jedoch folgendes Problem: Das Statistische Bundesamt muss im Jahr 2022 bereits das Regelbedarfsniveau für 2024 berechnen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß und wissen kann, wie hoch der Regelbedarf im Sozialrecht im Jahr 2024 sein wird, da dieser erst im Sommer 2023 mithilfe des Indexes bestimmt wird. Daher konnte es für die Berechnung lediglich einen voraussichtlichen Regelbedarf zugrunde legen. Im Existenzminimumbericht ging man von einem Anstieg des Regelbedarfs um 7 % aus, sodass dieser in Höhe von 537 Euro festgelegt wurde. Daraus ergab sich für das Jahr ein Regelbedarfsniveau von 6.444 Euro (12 x 537 Euro). Legt man dagegen den tatsächlichen sozialrechtlichen Regelbedarf von 2024 in Höhe von 563 Euro zugrunde, ergibt sich ein Regelbedarfsniveau von 6.756 Euro. Daher müsste der Mindestgrundfreibetrag für das Jahr 2024 mindestens 11.784 Euro betragen.

Der Gesetzgeber erhöhte den Grundfreibetrag für 2024 sogar – über die Mindestempfehlung nach dem Existenzminimumbericht hinausgehend – auf 11.604 Euro. Trotzdem bleibt der Grundfreibetrag unter den 11.784 Euro.  Es wäre naheliegend und möglicherweise aus Gründen der Folgerichtigkeit sogar geboten, dass steuerrechtliche Regelbedarfsniveau im Rahmen des Grundfreibetrags sowie den sozialrechtlichen Regelbedarf gleichermaßen anzupassen.

Gebot der Folgerichtigkeit

Das Gebot der Folgerichtigkeit beruht auf dem Gedanken der Systemgerechtigkeit und verpflichtet den Gesetzgeber dazu, einfachgesetzliche Wertungen in dem jeweiligen Rechtsgebiet folgerichtig umzusetzen. Entscheidet sich der Gesetzgeber beispielsweise im Zivilrecht für die Geltung des Trennungs- und Abstraktionsprinzips, muss er dieses auch folgerichtig umsetzen.

Allerdings ist der Gesetzgeber nur in einem gewissen Maße an seine eigenen Entscheidungen gebunden. Da der demokratisch legitimierte Gesetzgeber weiterhin einen Gestaltungsspielraum bei der Gesetzgebung hat, darf er bei Vorliegen eines sachlichen Grundes von seiner Grundentscheidung abweichen.

Grundsätzlich besteht keine rechtsgebietsübergreifende Wirkung des Folgerichtigkeitsgebots, da dem Gesetzgeber gerade bei der Ausgestaltung einzelner Rechtsgebiete ein großer Gestaltungsspielraum zukommt. Ausnahmsweise wird das Folgerichtigkeitsgebot jedoch über die Grenzen verschiedener Rechtsgebiete angewandt, wenn gesetzgeberische Entscheidungen auf den gleichen Grundwertungen beruhen.

Eine solche rechtsgebietsübergreifende Folgerichtigkeit fordert das Bundesverfassungsgericht bei der Sicherung des Existenzminimums: „Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab. Diesen einzuschätzen ist Aufgabe des Gesetzgebers. Soweit der Gesetzgeber jedoch im Sozialhilferecht den Mindestbedarf bestimmt hat, den der Staat bei einem mittellosen Bürger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch Staatsleistungen zu decken hat, darf das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum diesen Betrag jedenfalls nicht unterschreiten. Der Steuergesetzgeber muss dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen zumindest das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt. Maßgröße für das einkommensteuerliche Existenzminimum ist demnach der im Sozialhilferecht jeweils anerkannte Mindestbedarf, der allgemein durch Hilfen zum notwendigen Lebensunterhalt an jeden Bedürftigen befriedigt wird.“  Auch im Urteil zum Familienlastenausgleich stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass der sozialhilferechtliche Lebensunterhalt „maßgeblich“ für die Festlegung des steuerlichen Existenzminimums ist. Bei der Entscheidung zur Abziehbarkeit von Krankenversicherungsbeiträgen als Sonderabgabe stellt das Gericht sogar fest, dass streng auf das sozialhilferechtliche gewährleistete Leistungsniveau als eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene abzustellen ist. Während das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber grundsätzlich einen großen Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung unterschiedlicher Rechtsgebiete gewährt, der lediglich durch das Verbot der Widersprüchlichkeit der Rechtsordnung eingeschränkt wird, legt das Bundesverfassungsgericht hier strenge Maßstäbe an. Daher ist von einem rechtsgebietsübergreifenden Folgerichtigkeitsgebot zu sprechen (den gleichen Begriff verwendet Weber, Inflationsberücksichtigung in der Einkommensteuer, 2012, S. 89).

Der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrags wird daher durch die Auswahl der Höhe der Bürgergelds begrenzt. Eine individuelle Berücksichtigung des Bedarfs für Wohnung und Heizung wie im Sozialrecht kann das Steuerrecht als Massenverfahren nicht leisten. Hinsichtlich der Kosten für Wohnung und Heizung darf daher bei der Berechnung des Grundfreibetrags typisiert werden, da eine solche Typisierung für ein Massenverfahren erforderlich ist. Allerdings hängt die Höhe des Grundfreibetrags zum größten Teil von der Höhe des Regelbedarfs ab. Hier sollte der Gesetzgeber wegen der rechtsgebietsübergreifenden Folgerichtigkeit den sozialrechtliche Regelbedarf zugleich auch als Maßstab für das einkommensteuerliche Existenzminimum wählen. Zudem kann sich der Gesetzgeber hier nicht auf seine Typisierungskompetenz berufen, da er ohne Erhöhung der Komplexität den sozialhilferechtlichen Regelbedarf zugrunde legen kann. Wird nun – wie im Jahre 2024 – der Regelbedarf des Bürgergelds (563 Euro) höher angepasst als der Regelbedarf, der in den Grundfreibetrag miteingeht (537 Euro), liegt das steuerrechtliche Existenzminimum zumindest geringfügig unter dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum. Dadurch könnte der vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Maßstab zum rechtsgebietsübergreifenden Gebot der Folgerichtigkeit verletzt sein. Daher sollte der Gesetzgeber die Beträge symmetrisch anpassen.

Fazit

Die Anpassung des Bürgergeldes und des Grundfreibetrags zur Sicherung des Existenzminimums ist aufgrund der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich zwingend. Durch die Anpassung des Regelbedarfs im Rahmen des Bürgergeldes bindet sich der Gesetzgeber nach dem Gebot der rechtsgebietsübergreifenden Folgerichtigkeit, sodass er im Rahmen des steuerrechtlichen Grundfreibetrags die sozialhilferechtliche Höhe des Regelbedarfs als Maßgröße wählen muss. Die asymmetrische Anpassung des Bürgergelds im Vergleich zum Grundfreibetrag birgt die Gefahr, dass der Gesetzgeber – trotz seiner Typisierungskompetenz bezüglich der Auswahl des Existenzminimums im Steuerrecht – gegen das Gebot der rechtsgebietsübergreifenden Folgerichtigkeit verstößt. Diese Gefahr wächst, sobald das sozial- und steuerrechtliche Existenzminimum noch weiter auseinanderfallen sollten. Zur Vermeidung einer möglichen Verletzung sollte der Gesetzgeber das sozial- und steuerrechtliche Existenzminimum symmetrisch anpassen. Eine relativ einfache Möglichkeit wäre es, den Grundfreibetrag jährlich neu zu berechnen und dabei den sozialhilferechtlichen Regelbedarf zugrunde zu legen.