Aufstieg und Fall des Rechts auf individuelle Ausbildungsförderung
Zum BAföG-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Im Recht der Ausbildungsförderung wie auch im Recht der Existenzsicherung wurde ein Paukenschlag erwartet. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Mai 2021 die Frage zur Entscheidung vorlegte, ob der Grundbedarfssatz für Studierende in seiner Fassung vom Oktober 2014 bis Februar 2015 mit Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar ist, wappnete man sich in Berlin bereits für das scheinbar Unausweichliche – ein menschenwürdiges Existenzminimum für Studierende. Die lange erwartete Entscheidung des BVerfG, die letzte Woche veröffentlicht wurde, ist allerdings eher Triangel als Pauke. Das BVerfG betont die Relevanz der Ermöglichung der Teilhabe am staatlichen Studienangebot für die chancengleiche Verwirklichung der Ausbildungs- und Berufsfreiheit, erkennt jedoch keinen Anspruch auf individuelle, existenzsichernde Leistungen der Ausbildungsförderung.
Hintergrund
Ausgangspunkt der hohen politischen Brisanz der Entscheidung war eine verfestigte und wachsende Diskrepanz der Höchstsätze des BAföG und der am menschenwürdigen Existenzminimum orientierten Leistungen des SGB II/XII (s. im Detail Gaffron/Seidl). Während letztere auf der Ermittlung tatsächlicher lebensnotwendiger Bedarfe beruhen (vgl. § 28 Abs. 2, 3 SGB XII, RBEG), wurden die BAföG-Sätze 1971 erstmals – ohne die tatsächlichen Ausgaben für existenznotwendige und ausbildungsbedingte Bedarfe zu ermitteln – „normativ wertend“ festgelegt und seitdem in ihrer „relativen Weiterentwicklung“ (prozentual) alle zwei Jahre fortgeschrieben. Die BAföG-Sätze sind damit zwar an die wirtschaftliche Entwicklung und Inflation gekoppelt, orientierten und orientieren sich bis heute aber nicht am tatsächlichen Bedarf der Studierenden. Insbesondere die für die Unterkunftskosten in allen Unistädten einheitliche Wohnpauschale von aktuell 380 € nach § 13 Abs. 2 Nr. 2 BAföG trägt in Verbindung mit dem Ausschluss des aufstockenden Bezugs existenzsichernder Leistungen (vgl. § 7 Abs. 5 SGB II) zur Unterdeckung des Existenzminimums bei. Kern der verfassungsrechtlichen Prüfung sind das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am staatlichen Bildungssystem.
Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Die realitätsgerechte Ermittlung der tatsächlichen Bedarfe der SGB II- und SGB XII-Regelsätze ist kein Ausdruck politischer Fürsorge, sondern verfassungsrechtliche Pflicht: Das in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das das BVerfG erstmals 2010 aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ableitete, beinhaltet einen „dem Grunde nach unverfügbaren“ Anspruch auf Gewährleistung der für ein menschenwürdiges Dasein notwendigen Mittel. Dabei obliegt die Konkretisierung des Leistungsanspruchs zwar dem Gesetzgeber, allerdings muss der Anspruch stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jede:r individuellen Grundrechtsträger:in decken. Das verpflichtet den Gesetzgeber, den tatsächlichen Bedarf zeit- und realitätsgerecht zu ermitteln und fortzuschreiben.
Dieser Gewährleistungsanspruch besteht, sofern und soweit die grundrechtsberechtigte Person die Mittel zur Deckung ihres existenznotwendigen Bedarfes weder aus ihrer Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter erhalten kann (Nachranggrundsatz). Kern des vom Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums konkretisierten Nachranggrundsatzes ist die Idee, dass Mittel der Allgemeinheit nur dann in Anspruch genommen werden sollen, wenn „wirkliche Bedürftigkeit“ vorliegt. Die Ausgestaltung dieses Grundsatzes besteht im Wesentlichen aus zwei Säulen: Der „Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter“ (Rn. 126) und der Pflicht, an der Verhinderung oder Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit mitzuwirken (Rn. 126) (Mitwirkungspflichten). Die von den Leistungsberechtigten einzufordernden Mitwirkungspflichten sind danach strikt an den Zweck der Verhinderung oder Überwindung der Hilfebedürftigkeit gebunden. Sie müssen unmittelbar auf die Erzielung eigener Einkünfte oder mittelbar auf den Abbau von Vermittlungshindernissen gerichtet und zur Wiedereingliederung in Erwerbsarbeit geeignet sein.
Diese Mitwirkungspflichten dürfen, sofern sie selbst verhältnismäßig sind, auch mit wiederum verhältnismäßigen Instrumenten durchgesetzt werden. Mittel der Wahl sind im SGB II diverse Formen der Leistungsminderung, auch Sanktionen genannt. Wie das BVerfG im Sanktionen-Urteil darlegt, sind Leistungsminderungen im Umfang von mehr als 30% des Regelsatzes nur dann zulässig, wenn den Leistungsberechtigten eine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit aktuell eröffnet ist, die die Existenz der Leistungsberechtigten tatsächlich und unmittelbar sichern könnte. In diesen Fällen sei das vorliegende Arbeitsangebot vergleichbar mit Einkommen und Vermögen, das zur Deckung des täglichen Bedarfs eingesetzt werden könne (s. zur Auslegung dieser „Lücke“ im Sanktionen-Urteil Kießling).
Im aktuellen BAföG-Beschluss bezieht sich das BVerfG nun auf ebendiese Selbsthilfemöglichkeit und argumentiert, dass die Leistungen der Ausbildungsförderung nicht am Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu messen seien: Der Nachranggrundsatz gelte auch für Studierende. Dementsprechend ende die Gewährleistungspflicht des Staates, wenn unmittelbare Selbsthilfe möglich sei, also eine tatsächlich eröffnete und verhältnismäßige Möglichkeit bestehe, die Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern. Dies gelte auch dann, wenn die Wahrnehmung dieser Selbsthilfemöglichkeit den „Verzicht“ auf eine Hochschulausbildung zur Folge habe.
Was auf den ersten Blick wie eine schlüssige Fortführung der bisherigen Dogmatik scheint, überrascht bei einem Blick in das einfache Recht: Während die verfassungsrechtliche Gewährleistungspflicht nach den im BAföG-Beschluss genannten Maßstäben erst in Anbetracht einer konkreten Selbsthilfemöglichkeit entfallen soll, sieht § 7 Abs. 5 SGB II (von der Verfassungskonformität dieses pauschalen Verweises auf das System der Ausbildungsförderung ging das BVerfG wiederum hier aus) einen vollständigen Leistungsausschluss für all diejenigen vor, die einer abstrakt BAföG-förderungsfähigen Ausbildung nachgehen. Diese Konstruktion wäre mit den verfassungsrechtlichen Maßstäben nur dann vereinbar, wenn der Abbruch der Hochschulausbildung als qualifizierte Selbsthilfemöglichkeit zu sehen wäre. Mit der Exmatrikulation werden Studierende zwar generell für den allgemeinen Arbeitsmarkt verfügbar, allein daraus ergibt sich jedoch noch kein konkretes, zumutbares Arbeitsangebot mit bedarfsdeckendem Einkommen. Es fehlt daher nach den bisherigen Maßstäben an der Möglichkeit zur zumutbaren, unmittelbaren Bedarfsdeckung, die den Staat aus seiner Gewährleistungspflicht für die menschenwürdige Existenz entlassen und den Weg für weitreichende Unterdeckungen des Existenzminimums freigeben würde. Unabhängig von der Frage der Zumutbarkeit des Ausbildungsabbruchs zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (vgl. § 10 SGB II; zweifelnd noch das BVerfG hier), fügen sich die vom BVerfG im BAföG-Beschluss angewandten Maßstäbe damit entweder nicht in das aktuell geltende einfachrechtliche Verhältnis von existenzsichernden Leistungen und Ausbildungsförderung oder nicht in die bisherige Rechtsprechungslinie zum Nachranggrundsatz ein.
Das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am staatlichen Bildungssystem
Das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am staatlichen Bildungssystem war erstmals 1972 Gegenstand einer Entscheidung des BVerfG (NC-Entscheidung), deren tragende Erwägungen es 1977 in einer weiteren Entscheidung (NC II) bestätigte. Der Entscheidung lag der Gedanke zugrunde, dass die Berufswahlfreiheit dann faktisch wertlos sei, wenn die Ausbildung an staatlichen Ausbildungsstätten als zwingende Voraussetzung der Berufswahl tatsächlich nicht aufgenommen werden kann. Daher ergebe sich aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot ein Anspruch auf Zulassung einer die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllenden Bürgerin auf Zulassung, bei begrenzten Kapazitäten ein Anspruch auf gleichheits- und sozialstaatsgerechte Vergabe der verfügbaren Studienplätze.
Im Jahr 2013 ergänzte das BVerfG das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe um eine Komponente der sozialen Gleichheit: Zwar müsse nicht jede ökonomische Ungleichheit ausgeglichen werden. Der Gesetzgeber dürfe „diese Umstände jedoch nicht völlig unberücksichtigt lassen, soweit sie zu ungleichen Ausbildungschancen führen, […] Studierwillige also beispielsweise nicht schlicht auf die Möglichkeit verweisen, für die Finanzierung eines Studiums marktübliche Kredite in Anspruch zu nehmen.“ Das Grundgesetz verbiete es, „die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel beim Hochschulzugang bevorzugt einem privilegierten Teil der Bevölkerung zu Gute kommen zu lassen“. Der Zugang zu Einrichtungen zur Ausübung grundrechtlicher Freiheit, etwa der Hochschule, sei insgesamt so zu gestalten, dass soziale Gegensätze hinreichend ausgeglichen und soziale Durchlässigkeit gewahrt werde. Dies könne geschehen, indem das Ausbildungsangebot entweder für alle finanziell tragbar gestaltet oder um ein System der Ausbildungsförderung ergänzt werde; der Zugang zum Studium dürfe nicht von den Besitzverhältnissen der Eltern abhängen.
Ein Schritt vorwärts, zwei zurück
Nachdem das BVerfG das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am staatlichen Bildungssystem dergestalt etabliert und ausgebaut hatte, leitete es kurz darauf eine Trendwende ein. Ging das BVerfG in den ersten beiden NC-Entscheidungen noch von einem (in Anbetracht des Priorisierungsauftrages des Gesetzgebers über die Art und Weise des Hochschulausbaus in der Regel nicht justiziablen) verfassungsrechtliche Auftrag zur Schaffung hinreichender Kapazitäten aus (hier und hier), wich es von dieser Annahme 2017 wieder ab und hegte den Anspruch auf die gleichheitsgerechte Teilhabe an den bereits vorhandenen Ausbildungskapazitäten ein (hier). Eine weitere, noch drastischere Beschränkung findet sich nun im aktuellen BAföG-Beschluss: Es könnten keine Leistungen zur Ermöglichung eines Studiums beansprucht werden. Da die Hindernisse für den Zugang zum Studium den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet seien und das Recht auf gleichheitsgerechten Zugang zum Studienangebot nur vor der Beeinträchtigung dieses Zugangs durch staatliche Maßnahmen schütze, ließe sich aus dem Teilhaberecht kein originäres Leistungsrecht auf Ausbildungsförderung ableiten. Damit differenziert das BVerfG nun auch auf dem Gebiet der Bildungschancengerechtigkeit zwischen der aktiven Herstellung von Hürden, etwa durch Erhebung prohibitiv wirkender Studiengebühren, und dem Unterlassen der Bereitstellung einer hinreichenden Ausbildungsförderung. Originäre Leistungsrechte ergäben sich aus der Verfassung nur dann, wenn die Gewährung staatlicher Leistungen absolut unverzichtbar ist, um grundrechtliche Freiheit zu verwirklichen.
Neu ist auch der vom BVerfG im BAföG-Beschluss gewählte Maßstab, den der sich aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Auftrag zur Herstellung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen dem Gesetzgeber setzt: Während das BVerfG im Jahr 2013 noch davon ausging, der Zugang zu jeder einzelnen Einrichtung zur Ausübung grundrechtlicher Freiheit, etwa der Hochschule, sei so zu gestalten, dass er unabhängig von den Besitzverhältnissen der Eltern eröffnet ist, zieht es sich in seinem BAföG-Beschluss auf eine weitergehende Gesamtbetrachtung zurück: Geboten sei die bloße Förderung der Wahrung gleicher Ausbildungschancen. Da dieser weite Förderauftrag sich auch darauf richte, den Zugang zu nichtakademischen Ausbildungsberufen zu ermöglichen, ergebe sich keine herausragende Bedeutung des Zugangs zur Hochschulausbildung, die eine verfassungsrechtlichen Leistungspflicht des Gesetzgebers zur Folge haben könnte (neben der staatlichen Berufsausbildungsbeihilfe der §§ 56 ff. SGB III können allerdings in der Regel Leistungen nach dem SGB II bezogen werden, s. § 7 Abs. 5 S. 2 SGB II).
Da auch Umstände wie die fehlende Barrierefreiheit oder fehlende Kinderbetreuung den Zugang zur Hochschulausbildung hindern könnten, ergäbe sich wiederum keine herausragende Bedeutung der finanziellen Förderung. Durch den expliziten Perspektivwechsel von der einrichtungsbezogenen Betrachtung hin zur Gesamtbetrachtung der Bildungschancengleichheit erhöht das BVerfG die Zahl der möglichen Fördermaßnahmen und verweist darauf aufbauend auf den Priorisierungsspielraum des Gesetzgebers. Evident unzureichend sei die Ausbildungsförderung erst dann, wenn ganze Bevölkerungsgruppen von vornherein faktisch gar keinen Zugang zu bestimmten Ausbildungs- und Berufsfeldern hätten. Dies sei schon nicht der Fall, da es aktuell noch immer Studierende im BAföG-Bezug gebe. Das BVerfG nimmt dem Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am staatlichen Bildungssystem damit die 2013 eingeführte ökonomische Komponente, mit der es die tatsächliche Möglichkeit zur Wahrnehmung einer grundrechtlich garantierten Freiheit zum Maßstab gesetzgeberischen Handelns erklärt hatte. Stattdessen zieht sich das Gericht auf ein formales Freiheitsverständnis zurück, das sich vorwiegend auf die Abwehr von staatlichen Eingriffen richtet.
Fazit
Zwar erkennt das BVerfG im BAföG-Beschluss an, dass ohne ein hinreichendes System der Ausbildungsförderung denjenigen Hochschulzugangsberechtigten, die nicht über die notwendigen Mittel verfügen, nicht nur die angestrebte Ausbildung, sondern auch der angestrebte Beruf verwehrt bleibt. Auch befürchtet das Gericht, dass Lebenschancen unabhängig von der Eignung für die angestrebte Ausbildung in Abhängigkeit von den Vermögensverhältnissen verteilt werden (s. zur Eignung als verfassungsrechtlich gebotenem Verteilungskriterium noch BVerfG, NC III Rn. 200 ff.).
Dennoch leitet das BVerfG aus der jahrelangen Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums der BAföG-berechtigten Studierenden nicht mehr ab als einen politischen Appell. Die weitreichende Einhegung des Rechts auf gleichberechtigte Teilhabe am staatlichen Bildungssystem ist angesichts des noch immer vom Bildungsstand bzw. Einkommen des elterlichen Haushalts abhängigen Zugangs zu Hochschulbildung (vgl. 22. Sozialerhebung S. 28 ff.) ein Rückschlag für die Chancengerechtigkeit. Mit der Auflösung der Regierungskoalition sind derzeit weder der politische Handlungswille noch die politische Handlungsfähigkeit absehbar, die es bräuchte, um eine Ausbildungsförderung einzuführen, die Studierenden auch ohne durchsetzbare verfassungsrechtliche Verpflichtung unabhängig von den Besitzverhältnissen ihrer Eltern eine gesichert menschenwürdige Existenz zugesteht.
Ganz herzlicher Dank für die angeregten Diskussionen und inhaltlichen Anmerkungen gebührt Dr. Annalena Mayr, Carsten Schrempf und Julian Seidl.