Beispiellose Freiheitseingriffe brauchen beispiellose Transparenz
In Zeiten von Corona wird viel über die Vereinbarkeit von Demokratie und effektiver Seuchenbekämpfung diskutiert. Es geht um Maßnahmen wie totale Ausgangssperren oder Handy-Tracking. Solche Maßnahmen mögen effektiv oder ineffektiv sein, aber eines sind sie nicht: prinzipiell mit der Demokratie unvereinbar oder vereinbar. Aus demokratischer Sicht kommt es allein auf den Zweck und das Verfahren an. Die Unterscheidung von Maßnahme einerseits und Zweck und Verfahren andererseits zu verwischen ist in doppelter Hinsicht hochgefährlich. Zum einen schwächen sich demokratische Gesellschaften grundlos im Kampf gegen die Seuche, wenn sie effektive Maßnahmen fälschlich als per se undemokratisch ablehnen. Zum anderen schaffen demokratische Gesellschaften gefährliche Präzedenzfälle, wenn sie extreme Maßnahmen ohne strenge Zweckbindung und ohne angemessene Transparenz und andere Verfahrensgarantien durchsetzen.
Ausgangssperren und andere im Zusammenhang mit Corona erlassene oder angedachte Maßnahmen sind zweifelsfrei massive Eingriffe in Freiheit und Privatsphäre. Allein die Schwere des Eingriffs macht ihn aber nicht undemokratisch. Auch gesunde Demokratien bedürfen schwerer Eingriffe in manche Freiheitsrechte, zum Teil gerade, um ihre Existenz abzusichern: man denke nur an Gefängnisstrafen, Wehrpflicht, oder Telefonüberwachung. Natürlich steigt mit der Schwere des Eingriffs auch die Missbrauchsgefahr. Die genannten Maßnahmen sind eben nicht per se gut oder schlecht. Auf Zweck und Verfahren kommt es an.
Politische Entscheidungen nachvollziehen können
Die zur Bekämpfung von Corona erlassenen oder angedachten Maßnahmen kennen wir sonst nur aus Diktaturen, und deshalb sind sie uns instinktiv verdächtig. Es gibt aber einen einfachen Grund, warum Demokratien solche Maßnahmen normalerweise nicht anwenden: sie brauchen sie nicht. Corona hat dies möglicherweise vorübergehend verändert. Wir müssen deshalb unsere in Normalzeiten herausgebildeten Instinkte kritisch hinterfragen. Außergewöhnliche Umstände können außergewöhnliche Maßnahmen erfordern.
Das ist kein Freibrief zur Außerkraftsetzung jeglicher Freiheitsrechte. Im Gegenteil. Die Besinnung auf Zweck und Verfahren macht es oft leicht, genuin undemokratische Aktionen von demokratisch legitimen Reaktionen auf Corona zu unterscheiden. Die Einschränkung von Meinungsfreiheit oder virtueller Versammlungsfreiheit oder die Lahmlegung des Parlamentes wäre zur Corona-Bekämpfung offensichtlich ungeeignet und deshalb leicht als undemokratisch entlarvt. Das gälte wohl für jede denkbare Einschränkung demokratischer Willensbildung als solcher.
Bei anderen Maßnahmen muss man genauer hinschauen um zu prüfen, ob sie von ihrem legitimen Zweck gedeckt sind. Dazu braucht es Transparenz. Und an der fehlt es leider selbst in Deutschland. Sicher, Deutschland ist nicht China. Und an Lippenbekenntnissen fehlt es nicht. So sagte Kanzlerin Merkel in ihrer Ansprache an die Nation vom 18.3.2020, es „gehör[e] zu einer offenen Demokratie: dass wir die politischen Entscheidungen auch transparent machen und erläutern. Dass wir unser Handeln möglichst gut begründen und kommunizieren, damit es nachvollziehbar wird.“
In der Realität beschränkt sich die Kommunikation aber auf Pauschalbehauptungen, die am selben Tag oder sehr bald in Kraft tretende Maßnahme sei notwendig, um der Verbreitung des Virus genügend Einhalt zu gebieten. Auf den Webseiten der Kanzlerin, der Bundesregierung und des Bundesgesundheitsministeriums sucht man vergeblich nach epidemiologischen Prognosen, die dies unterlegen. Selbst auf der Webseite des Robert-Koch-Institutes findet sich nichts. Zu ökonomischen und anderen Folgeabschätzungen wird erst gar nichts gesagt.
Präzision ist weder möglich noch erforderlich. Aber Wahrscheinlichkeitsabschätzungen oder wenigstens Möglichkeitsanalysen sind für verantwortliches Handeln schlechterdings unabdingbar. Je nach Informationslage kann die gleiche Maßnahme angemessen, unzureichend, oder übertrieben sein. Notgedrungen suchen wir Bürger uns nun selbst im Internet epidemiologische und andere Prognosen von oft zweifelhafter Qualität, aber diese sind rar und, so darf man vermuten, schlechter als die der Regierung vorliegenden, da die Regierung sich—hoffentlich!—der Dienste der besten Epidemiologen und anderen Experten versichert hat. Auf manche wichtige Fakten hat ohnehin nur die Regierung Zugriff, wie zum Beispiel die Versorgungslage mit Atemmasken, und überhaupt wird selbst die Relevanz von vielen Variablen nur Experten des Katastrophenschutzes bekannt sein. Ohne Transparenz kann der Bürger deshalb nicht beurteilen, ob die Regierung ihrer Aufgabe gerecht wird. Das schließt auch den Fall ein, dass die Regierung keine derartigen Prognosen besitzt: in dem Fall wäre sie offensichtlich inkompetent, auch das müsste der Bürger wissen.
Das Virus wird seine Strategie nicht ändern, wenn wir unsere preisgeben
Auch an Transparenz über die Maßnahmen selber fehlt es, genauer: über die jeweils bestehenden Pläne zu zukünftigen Maßnahmen und zur Dauer gegenwärtiger Maßnahmen. Hier kann man sich schwer des Eindrucks erwehren, dass die Politik mit verdeckten Karten spielt. Merkels Ansprache erwähnte Ausgangs- oder Kontaktsperre allenfalls in Andeutungen. Fünf Tage später kam sie dann bundesweit. Zu ihrer zu erwartenden Dauer gibt es immer noch keine offizielle Position. Es ist aber kaum vorstellbar, dass die Bundesregierung und die Landesregierungen sich zur Dauer und zum „danach“ keine Gedanken gemacht haben—und wenn sie es wirklich nicht getan haben, wäre es grobe Inkompetenz. Schließlich hängt die Verhältnismäßigkeit derartig einschneidender Maßnahmen erheblich davon ab, wie lange sie aufrechterhalten werden müssen, um ihren Zweck zu erfüllen. Auch hier ist Präzision weder möglich noch erforderlich, Schätzungen und Prognosen aber unumgänglich.
Es gibt Probleme, bei deren Bewältigung Transparenz schädlich sein kann, aber Corona gehört nicht dazu. Im Gegensatz zu menschlichen Feinden wird das Virus nicht seine Strategie ändern, weil wir unsere preisgegeben haben. Unerwünschte Verhaltensänderungen von Bürgern wie z.B. Hamsterkäufe oder verstärkte Reisen können genauso durch Gerüchte wie durch partielle (weil verspätete) Transparenz ausgelöst werden. Volle, frühzeitige Transparenz über Maßnahmen hilft hingegen, schädliche Nebenwirkungen abzufedern.
Natürlich kann es sein, dass unerwartete Entwicklungen plötzlich ungeplante Maßnahmen erfordern. Es ist aber ebenso gut möglich, dass Politiker eigene Versäumnisse durch Verweis auf die vermeintliche Unvorhersehbarkeit der Ereignisse zu vertuschen suchen. Es drängt sich zum Beispiel der Verdacht auf—der aber, wie oben angemerkt, mangels Transparenz nicht überprüft werden kann—, dass aufgrund von epidemiologischen Prognosen schon im Februar oder sogar Januar viel mehr hätte getan werden müssen, insbesondere im Beschaffungswesen. Zumindest übertrieben ist selbst die ständig wiederholte Behauptung, wir durchlebten „eine Zeit der Prüfung …, wie sie sich niemand hätte vorstellen können.“ Das Zitat stammt aus Kanzlerin Merkels Podcast vom 28.3.2020. Dabei hatte ihre eigene Bundesregierung im „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ bereits eine „„Pandemie durch Virus Modi-SARS“ durchgespielt, die sich von der aktuellen Situation nur durch die noch höhere Letalitätsrate unterscheidet. Die Vorbereitung der Regierung sollte im Lichte solcher Prognosen bewertet werden, die zumindest den zuständigen Stellen in der Regierung sicher schon im Januar wieder in Erinnerung gerufen wurden.
Positiv gewendet: nur Transparenz kann belegen, dass Politiker gut gehandelt haben. In der Krise scheinen Politiker vor allem mit kernigen Aussagen und einschneidenden Maßnahmen zu punkten. Für eine Demokratie sind das eher besorgniserregende Kriterien. Politiker sollten daran gemessen werden, wie sie auf Grundlage jeweils verfügbarer Informationen zum Wohle des Landes gehandelt haben – oder nicht. Und einsperren lassen sollten wir uns nur von jemandem, der uns heute schon plausibel erklärt, warum das notwendig ist, nicht aber jemand, der uns bestenfalls morgen Rechenschaft ablegt, wenn es aber im Zweifelsfall für die Demokratie schon zu spät wäre.
In Kanzlerin Merkels Ansprache vom 18.3.2020 fand sich der folgende bemerkenswerte Satz: „Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen.“ Die Deutschen können sich glücklich schätzen, dass dieser Satz aus Merkels Munde nicht so zynisch klingt, wie er aus den Mündern vieler anderer Staatschefs klingen würde. Damit das so bleibt, müssen die beispiellosen Freiheitseingriffe von beispielloser Transparenz flankiert werden. Dann, aber nur dann, hat die Demokratie auch von den tiefsten Eingriffen nichts zu fürchten und wird sie effektiver einsetzen können als jeder undemokratische Staat.
Sehr interessanter Artikel!! Spannend finde ich die Fragen, welchen Anforderung man an die laufende Transparentmachung der jeweiligen Entscheidungsgrundlage anlegen könnte und ob sich die in gewissen (rechtlichen) Formen niederschlagen könnte. Aus meiner Sicht kann man die meisten aktuell aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen und insbesondere die der Angemessenheit von außen bislang nicht abschließend beurteilen, weil die Entscheidungsgrundlage eben nicht vollständig transparent ist. (Hier wachsam zu sein, ist natürlich gut.) Auch das BVerfG in seinem Nichtannahmebeschluss vom 31.03.2020 – 1 BvR 712/20 –, juris Rn. 17 hat auf die Notwendigkeit der Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht hingewiesen: „Im Übrigen hängt die verfassungsrechtliche Beurteilung der angegriffenen Bestimmungen auch nicht allein von spezifisch verfassungsrechtlichen Fragen ab. Für sie sind vielmehr auch die tatsächliche Entwicklung und die Rahmenbedingungen der aktuellen Coronavirus-Pandemie sowie darauf und auf ergriffene oder mögliche Gegenmaßnahmen bezogene fachwissenschaftliche – virologische, epidemiologische, medizinische und psychologische – Bewertungen und Risikoeinschätzungen von wesentlicher Bedeutung. Daher besteht jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht Bedarf an einer fachgerichtlichen Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts.“
Danke fuer den Hinweis auf den Nichtzulassungsbeschluss des BVerfG! Das Zitat entspricht meiner Ansicht, soweit es die Abhaengigkeit der rechtlichen Bewertung von der Tatsachengrundlage einschliesslich Prognosen und Alternativen anerkennt. Vorsicht ist allerdings geboten, soweit das BVerfG auf „einer fachgerichtlichen Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts“ besteht. Das kann angesichts der Brisanz der hier in Frage stehenden Eingriffe nur dann gut gehen, wenn das BVerfG auch sicherstellen kann, dass die „fachgerichtliche[] Aufbereitung“ extrem zuegig von statten geht. Anderenfalls waere es besser, wenn das BVerfG selbst entsprechende Beweise erhoebe (vgl. §26 BVerfGG).
Ich bin auch gespannt, wann die ersten Entscheidungen in den verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren ergehen. Es ist zwar wünschenswert, dass eine fachgerichtliche Aufarbeitung „extrem schnell von statten geht“. Ich habe aber eine Zweifel daran, dass die aufgeworfenen grundsätzlichen Verfassungsfragen sich gerichtlich zügig klären werden. In den gerichtlichen Eilverfahren wird eine solche Klärung nicht erfolgen, auch nicht vom BVerfG selbst (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. März 2020 – 1 BvR 661/20 –, juris Rn 6).
Zudem fürchte ich, dass die Hauptsacheverfahren einige Zeit in Anspruch nehmen werden – zumal unter den gegebenen Umständen! Denn den Nichtannahmebeschlusss des BVerfG verstehe ich auch als Fingerzeig an die verwaltungsgerichtlichen Tatsacheninstanzen (v.a. die OVG in den Normenkontrollverfahren) den Sachverhalt insbesondere im Hinblick auf fachwissenschaftliche Bewertungen und Riskoeinschätzungen sorgfältig festzustellen, also ihre Kontrolldichte nicht allzu sehr zurückzunehmen.
Geht es bei der Auseinandersetzung darüber, ob die aktuellen zum Teil übereilt verfassten, zum Teil jedoch auch schon nachgebesserten ‚Corona-Verordnungen’ das Ende von Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechten ankündigen, ausschließlich um die die Grundrechte massiv verkürzenden Maßnahmen? Und gründet die Befürchtung, die Grundrechtsbeschränkungen könnten den Rechtsstaat aushöhlen und nicht wieder rückgängig gemacht werden, allein auf historischem Wissen? Oder steht im Hintergrund nicht vielmehr auch die Erfahrung, täglich mit Regelungen von höherer oder minderer Eingriffsintensität konfrontiert zu sein, deren Sinn sich sowohl der subjektiven dumpfen Intuition als auch einer systematischen Verhältnismäßigkeitsprüfung entzieht? Gehen die kritischen Analysen zur Rechts- und Verfassungskonformität einzelner Normen in den Verordnungen also nicht auch zum Gutteil auf das Wissen zurück, dass auch in Zeiten before corona (b.c.), Exekutive und Judikative tatsächlich Normen anwandten und Realakte vollzogen, die im Kern weder geeignet noch erforderlich waren (falls sie denn einen legitimen Zweck verfolgten und (noch) verhältnismäßig i.e.S. waren)?
Dem Ideal eines durch Verhältnismäßigkeit geprägten Regelungs- und Handlungssystems steht eine Verwaltungs- und gerichtliche Praxis gegenüber, die hinter dem
Ideal zurückbleibt – und nicht nur deshalb, weil sich aus dem Demokratieprinzip ergibt, dass Entscheidungen häufig Kompromisse und somit in sich nicht immer kohärent sind. Die Praxis bleibt auch deshalb hinter dem Ideal zurück, weil der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zwar postuliert, die hierauf bezogene Prüfung häufig jedoch nicht oder nur unzureichend durchgeführt wird. (Außergerichtliche) Anträge von Bürger*innen an öffentliche Institutionen, die Verhältnismäßigkeit einzelner Entscheidungen, Maßnahmen und Regelungen (wie die Benutzung regelnde Allgemeinverfügungen) zu prüfen, laufen regelmäßig ins Leere (ich orientiere mich hier an meinem persönlichen Erfahrungswissen; belastbaren Daten liegen mir nicht vor). Eine gerichtliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit findet häufig nur dem Anschein nach statt. Die Leerformel „Anhaltspunkte für eine fehlende Verhältnismäßigkeit sind nicht vorhanden“ lässt sich in jedem Fall anwenden, insbesondere auch in den Fällen, in denen eine systematische, ergebnisoffene Verhältnismäßigkeitsprüfung ex positivo zu einem unerwünschten Ergebnis führen würde. (Die Leerformel dürfte somit auch die aus der Verfassung ableitbaren Begründungsanforderungen an Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen verletzen (s. zu den Begründungsanforderungen: Kischel, Die Begründung, 2003)).
Selbst Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht führen manchmal zu einem Ergebnis, dass sich denklogisch nur so erklären lässt, dass die Verhältnismäßigkeit letztlich doch hinter ‚höherrangigeren’ Faktoren und Rechten zurückstehen musste: Im dritten Leitsatz zur Begründung der Entscheidung des BVerfG vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 – (Sanktionen im Sozialrecht) heißt es – ganz knapp zusammengefasst -, dass „Prognosen zu den Wirkungen“ von Regelungen, die den „Entzug existenzsichernder Leistungen“ betreffen, „hinreichend verlässlich sein“ müssen, und zwar – das ergibt sich aus dem Kontext – weil andernfalls von einer Geeignetheit und Erforderlichkeit der Regelungen nicht ausgegangen werden könne. In der Entscheidungsbegründung stellt der zweite Senat dann jedoch fest, dass (trotz der jahrelangen Forschungen des der Bundesagentur für Arbeit angegliederten Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB)) keine Daten erhoben worden seien, die die Geeignetheit und Erforderlichkeit der infragestehenden Regelungen nachweisen würden. Es lägen „keine eindeutigen empirischen und nach der Höhe der Leistungsminderung differenzierenden Erkenntnisse zu den Wirkungen der in §§ 31a, 31b SGB II normierten Sanktionen“ vor (Rn. 60). „[A]usweislich der derzeit vorliegenden Erkenntnisse [sei] zweifelhaft, ob mit der Leistungsminderung tatsächlich in größerem Umfang erreicht wird, dass Menschen […] wieder Arbeit […] finden“ (Rn. 167). Trotz des Mangels an Nachweisen kam das BVerfG bekanntlich zu dem Ergebnis, dass die Leistungsminderung um 30 Prozent – anders als die Minderungen um 60 und 100 Prozent – verfassungskonform seien. Zur Begründung seiner Entscheidung verweist das BverfG auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und den Grundsatz, dass die bloße „Möglichkeit der Zweckerreichung“ grundsätzliche ausreiche (Rn. 16), auch wenn, wie das Verfassungsorgan festgestellt hat, selbst nach fünfzehn Jahren Forschung seit dem Inkrafttreten der ‚Hartz-IV-Gesetze’ zur Effektivität der Sanktionen keine wissenschaftlich greifbaren Ergebnisse vorliegen. (Vor diesem Hintergrund besteht zu der von Holger Spamann in Erwägung gezogenen Hoffnung, die Bundesregierung dürfte sich in der Corona-Krise an den verlässlichsten Daten orientieren, versäumte es bisher nur, diese öffentlich und somit transparent zu machen, nicht unbedingt Anlass.)
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Beispielen ziehen? Schließt man sich der Empfehlung von Anuscheh Farahat an, dass wir die Krise nutzen sollten, um bestehende Missstände oder Schwächen zu überwinden, so ließen sich folgende Anregungen an alle drei Gewalten im Staate für die Epoche after corona (a.c.) jedoch auch bereits during corona (d.c.) formulieren:
1. Das Kriterium der Geeignetheit einer Norm oder Maßnahme bedarf einer Präzisierung: Geeignet ist eine Norm erst dann, wenn Evidenzen für die Geeignetheit der Norm vorliegen, d.h. die Geeignetheit ex positivo nachgewiesen werden kann. Hierfür dürfte eventuell eine Überprüfung mit einer geeigneten Kontrollgruppe, auf die die Norm nicht angewandt wird, unverzichtbar sein. (Die Erforderlichkeit muss demgegenüber nicht proaktiv nachgewiesen werden. Machen Bürger*innen jedoch auf die Verfügbarkeit eines milderen Mittels aufmerksam, dessen Effektivität nicht offensichtlich hinter derjenigen der aktuellen Regelung zurückfällt, so wäre es geboten, die Geeignetheit des milderen Mittels auch zeitnah in der Praxis zu erproben.)
2. Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers auf der Grundlage von Annahmen bestünde in der Folge nur temporär, nämlich solange wie er noch keine ausreichende Gelegenheit hatte, den Nachweis der Geeignetheit der Einzelnorm zu erbringen und die Daten öffentlich zu machen.
3. Es ist wünschenswert, dass Behörden und andere öffentliche Institutionen sich dazu verpflichten, auf Antrag Verhältnismäßigkeitsprüfungen – gerne auch mit Unterstützung und Beratung der Bürger*innen, die die begehrte Prüfung i.d.R. bereits vor Antragstellung durchgeführt haben – vorzunehmen.
4. Auf die Leerformel „Anhaltspunkte für eine fehlende Verhältnismäßigkeit…“ wäre – wie auf Leerformeln generell – in der Judikatur zu verzichten (zur Unzulässigkeit von Leerformeln in Verwaltungsentscheidungen: BVerwG, Urteil vom 10.12.2014 – 1 C 11.14 -; BGH, Urteil vom 16.05.2013 – V ZB 44/12 -; BGH, Beschluss vom 1.3.2012 – V ZB 183/11 -; BVerfG, Urteil vom 18.3.2009 – 2 BvR 1036/08 -; BSG, Urteil vom 18.4.2000 – B2U 19/99 R -). Generell wäre es nichts weiter als zweckmäßig, wenn Verhältnismäßigkeitsprüfungen grundsätzlich systematisch, ergebnisoffen und ex positivo – also stur, Schritt für Schritt – durchgeführt würden.
Eine solche Ausdifferenzierung der Anwendung des Instruments ‚Verhältnismäßigkeitsprüfung’ könnte dazu geeignet sein, das Vertrauen in den Staat zu stärken. Würde die Erfahrung zeigen, dass die staatlichen Gewalten die Verhältnismäßigkeit (i.S.d. vier Prüfschritte) tatsächlich (fast) immer und ex positivo im Blick haben, so könnten Bürger*innen auch in einer Situation, in der eine außergewöhnliche Gefahrenlage und das in der akuten Situation limitierte verfügbare Wissen die massive Einschränkung von Grundrechten als geeignet und erforderlich erscheinen lässt, darauf Vertrauen, dass eine solide Verhältnismäßigkeitsprüfung nachgeholt wird, sobald die hierfür erforderlichen Daten vorliegen.
Diese interessanten Gedanken fuehren ueber die aktuelle Frage hinaus, liegen mir als empirischem Forscher aber natuerlich sehr am Herzen. Ich wuerde die gesetzgeberische Pflicht zur Evidenzbeschaffung vor allem in der Erforderlichkeit verankern, mit kleiner Hilfestellung der Verhaeltnismaessigkeit i.e.S. Wenn der Gesetzgeber eine Kontrollgruppe aus der Massnahme aussparte koennte er ggf. herausfinden, dass die Massnahme letztlich doch nicht geeignet ist, und diese dann zuruecknehmen. Deshalb waere der Eingriff probabilistisch fuer die von der Massnahme Betroffenen weniger tief, als die Massnahme gleich flaechendeckend und unbefristet einzufuehren. Letzteres ist deshalb nicht das mildeste Mittel und damit nicht „erforderlich“. Eine Komplikation ergibt sich nur daraus, dass die Kontrollgruppe voruebergehend nicht in den Genuss des Schutzes einer Massnahme kommt, die sich schliesslich als effektiv bewaehrt. Darauf kann sich der Gesetzgeber aber nur berufen, wenn aufgrund der vorab bestehenden Informationen zu erwarten ist, dass dieser Verlust fuer die Kontrollgruppe schwerer wiegt als die Moeglichkeit, dass ohne Evidenzbeschaffung alle Betroffenen dauerhaft unnoetig einen ungeeigneten Eingriff hinnehmen muessen (Verhaeltnismaessigkeit i.e.S.).
Danke für Ihren Kommentar zum Kommentar. Wie ließe sich die Pflicht zum Nachweis der Geeignetheit gesetzlich verankern und somit effektiv in der legislativen und exekutiven (und in der Folge judikativen) Praxis durchsetzen? Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist schließlich nur ein ungeschriebenes Rechtsprinzip, quasi eine Konvention, die jedoch so überzeugend ist, dass Jurist*innen – nicht nur in Deutschland – sie sich zu Eigen gemacht haben. Noch eine Frage: Wie ließe sich der Einwand, der Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichbehandlungsgrundsatz) sei verletzt, entkräften, der nicht nur dann stichhaltig angeführt werden kann, wenn die Kontrollgruppe im Falle der Effektivität einer Maßnahme nicht in den Genuss ihres Schutzes kommt? Auch in dem umgekehrten Fall, dass sich die Maßnahme als uneffektiv erweist, wäre Art. 3 Abs. 1 GG einschlägig. Die Rechtsfigur ‚keine Gleichheit im Unrecht’ wäre nicht anwendbar, weil diese die Ungleichbehandlung in den Zeitverlauf einbettet, indem sie auf der Annahme gründet, dass die Ungleichbehandlung sukzessiv erfolgt. Eine ‚Kette’ von begünstigenden VAen (Selbstbindung der Verwaltung) müsste dieser Rechtsfigur gemäß abgebrochen werden, wenn sich herausstellt, dass die begünstigenden VAe nicht rechtmäßig waren (ohne dass diese VAe aufgrund des bestehenden Vertrauensschutzes in Verwaltungsentscheidungen zurückgenommen werden könnten). Bei der verpflichtenden Implementierung einer Kontrollgruppe erfolgte die Ungleichbehandlung demgegenüber simultan und in völliger Kenntnis der Ungleichbehandlung. Oder könnte man argumentieren, dass die bewusste Ungleichbehandlung im Dienste des Gemeinwohls (als höherrangigem Wert) erfolgt und somit die Einschränkung des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG für eine kleine Kontrollgruppe gerechtfertigt und verhältnismäßig (i.e.S.) wäre? Vielleicht lässt sich die Kollision zwischen Grundrechten und Gemeinwohlinteresse jedoch dadurch vermeiden, dass die Überprüfung mittels Kontrollgruppe doch meist sukzessiv erfolgt. D.h. eine Maßnahme oder eine Norm wird für einen Zeitraum ausgesetzt oder es werden vor dem Inkrafttreten der Norm oder der Vollziehung der Maßnahme bereits Daten erhoben, die als Vergleichs- und Kontrolldaten geeignet sind