Bemerkenswerte Haftbefehle aus Den Haag
Die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag vom Ende letzter Woche haben schnell die Runde gemacht und sind weltweit als Eilmeldung verbreitet worden. Auch in der deutschen Presselandschaft sind die Haftbefehle gegen den russischen Staatspräsidenten sowie seine Kinderrechtsbeauftragte bewertet worden. Einige bemerkenswerte Aspekte der Entscheidung, die bislang keine Aufmerksamkeit erfahren haben, sollen hier beleuchtet werden.
Worum geht es?
Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) hat am 17.3.2023 bekannt gegeben, dass gegen den amtierenden russischen Präsidenten und dessen Kinderrechtsbeauftragte, Alekseyevna Lwowa-Belowa, Hafbefehle wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen erlassen wurden. Konkret geht es um den Vorwurf, ukrainische Kinder rechtswidrig vertrieben (Art. 8 Abs. 2 lit. a] nr. vii] ICC-Statut) und unmittelbar oder mittelbar aus dem besetzten Gebiet nach Russland überführt zu haben (Art. 8 Abs. 2 lit. b] nr. viii] ICC-Statut).
Damit handelt es sich um einen inhaltlich, wenn auch nicht zeitlich oder geographisch begrenzten Tatvorwurf. Ein kleiner Ausschnitt der Geschehnisse im Ukraine-Krieg genügt dem ICC, um ein Strafverfahren zu starten. Von all den Vorwürfen, die gegen die russische Kriegführung und den russischen Präsidenten als Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte (Art. 87 Abs. 1 der russischen Verfassung) laut geworden sind, wählt der Chefankläger diesen Tatvorwurf aus und die Vorverfahrenskammer folgt ihm.
Das ist zum einen der Strategie des Chefanklägers geschuldet, insbesondere Verbrechen gegen Kinder in den Fokus zu rücken. Zum anderen ist der Tatvorwurf gut belegt. Es existiert ein Präsidentendekret, mit dem die Adoption von Kindern aus der Ukraine in Russland erleichtert wird. Der Kreml selbst hält auf seiner Webseite eine englische Übersetzung eines Gesprächs der beiden Beschuldigten parat. Aus prozesstaktischer Sicht wird hier also ein eher einfacher Tatvorwurf mit einer eher einfachen Subsumtion als erster Schritt einer Strafverfolgung kombiniert.
Worum geht es nicht?
Die Haftbefehle sind damit inhaltlich sehr eng umgrenzt. Es geht um zwei Tatbestände der Kriegsverbrechen. Es geht nicht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und nicht um den Vorwurf des Völkermordes. Insbesondere geht es auch nicht um die Rechtmäßigkeit des Krieges als solchem.
Was ist bemerkenswert?
An der Nachricht von Freitag ist mehreres bemerkenswert.
Allen voran ist zumindest der Haftbefehl gegen Vladimir Putin wenig überraschend. Dass der ICC sein Auge auf den Konflikt hat, ist seit langem bekannt. Auch die Begehung von Verbrechen in dem Konflikt ist kein Geheimnis. Schließlich steht Putin dem Vernehmen nach im Zentrum eines Staates, in dem sich alles um ihn dreht.
Darüber hinaus ist der enge tatbestandliche Fokus interessant. Der ICC stützt sich auf Kriegsverbrechen der Deportation bzw. Überführung von Kindern aus der Ukraine nach Russland. Was gar nicht anklingt (und soweit ersichtlich auch nicht berichtet wird), ist, dass es mit Art. 6 lit. e) ICC-Statut einen sehr ähnlichen Vorwurf des Völkermordes gibt. Nach dieser Bestimmung zählt die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“ als Genozid. Der Vorwurf, der im Haftbefehl genannt wird, scheint von diesem Verbrechen nur marginal entfernt. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, anzunehmen, dass die Überführung von Kindern aus der Ukraine gewaltsam verlaufen ist. Eine Prüfung des Völkermordvorwurfs liegt in diesem Falle außerordentlich nahe. Möglicherweise passiert genau dies bereits in Den Haag (dazu sogleich). Es sei angemerkt, dass die Kammer dafür die Völkermordabsicht nachweisen muss. Das ist notorisch schwierig, wenn auch nicht unmöglich, und scheint nur der Prozessökonomie des Chefanklägers geschuldet zu sein. Warum sich die Anklage schwer machen, wenn es einen passenden, vermeintlichen „einfacheren“ Vorwurf gibt? Die reine völkerstrafrechtlich gekleidete Symbolpolitik treibt Karim Khan, den Chefankläger des ICC, hier erfreulicherweise nicht.
Wenn bedauert wird, dass es keinen Haftbefehl aufgrund des Verbrechens der Aggression gibt, dann liegt dem nicht etwa eine fehlerhafte oder feige Anklagestrategie des Chefanklägers zugrunde. Vielmehr hat der Chefankläger des ICC bereits am Tag nach der russischen Invasion klargestellt, dass der ICC keine Gerichtsbarkeit über diesen Tatbestand in Bezug auf den Konflikt in der Ukraine hat. Das ist richtig. Der ICC hat über Aggressionen in Verbindung mit Drittstaaten keine Kompetenz. Der Gerichtshof darf über Aggressionsverbrechen seine Gerichtsbarkeit ausüben, die von Tätern eines Vertragsstaates oder auf dem Territorium eines Vertragsstaates begangen wurden (Art. 12 Abs. 2, 15ter Abs. 4 ICC-Statut). Allerdings gilt die Einschränkung, dass Staatsangehörige von Nichtvertragsparteien nicht der Strafhoheit des ICC unterliegen, selbst wenn diese die Tat auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates begangen haben (Art. 8bis Abs. 5 ICC-Statut), und dass selbst Staatsangehörige von Vertragsstaaten keine Strafverfolgung für Taten auf dem Gebiet von Nichtvertragsstaaten zu befürchten haben (Art. 8bis Abs. 5 ICC-Statut).
Weder Russland noch die Ukraine sind bis heute Vertragsstaaten des ICC-Statuts. Dass der ICC überhaupt Gerichtsbarkeit hat, ist der freiwilligen Unterwerfung der Ukraine zu verdanken. Sie hat die Gerichtsbarkeit des ICC zunächst im April 2014 für den Zeitraum vom 21.11.2013 bis 22.2.2014 nach Art. 12 Abs. 3 ICC-Statut akzeptiert. Im September 2015 hat die Ukraine eine erneute ad-hoc-Erklärung abgegeben und die Gerichtsbarkeit für Taten seit dem 20.2.2014 auf dem Territorium der Ukraine akzeptiert.
Die Ukraine hat dabei nicht einmal versucht, die Gerichtsbarkeit des ICC in Bezug auf das Aggressionsverbrechen auszulösen. Beide Erklärungen beschränken sich auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eben Kriegsverbrechen. Beim besten Willen darf der ICC über das Verbrechen der Aggression nicht urteilen.
Schlussendlich ist erstaunlich, dass die Haftbefehle selbst unter Verschluss geblieben sind. Allein die Existenz der Haftbefehle und der konkrete Tatvorwurf sind bekannt. Der Präsident des ICC meint dazu:
“The Chamber considered that the warrants are secret in order to protect victims and witnesses and also to safeguard the investigation. Nevertheless, mindful that the conduct addressed in the present situation is allegedly ongoing, and that the public awareness of the warrants may contribute to the prevention of the further commission of crimes, the Chamber considered that it is in the interests of justice to authorise the Registry to publicly disclose the existence of the warrants, the name of the suspects, the crimes for which the warrants are issued, and the modes of liability as established by the Chamber.”
Diesen Schritt ist der ICC bislang noch nicht gegangen. Entweder sind die Haftbefehle veröffentlich worden, oder ihre Existenz wurde geheim gehalten. Diese Zwischenstufe ist also neu.
Überzeugend ist die Ansicht des ICC-Präsidenten natürlich nicht. Die Opfer und Zeug:innen können auch anders geschützt werden, indem etwa entsprechende Stellen, die eine Identifizierung zuließen, geschwärzt werden. Das ist seit langem gute Praxis internationaler Strafgerichtshöfe. Damit ließe sich auch die Ermittlungsarbeit weiter schützen. In der Vergangenheit war das Argument, dass die Veröffentlichung von Haftbefehlen der Prävention diene, jedenfalls nicht angeführt worden, um nur die Existenz von Haftbefehlen bekannt zu geben.
Der breiten Öffentlichkeit dürfte das herzlich gleichgültig sein. Es kommt ihr tatsächlich auf die Existenz der Haftbefehle und die konkreten Vorwürfe an. Schon die veröffentlichten „modes of liability”, also etwa die Begehungsformen, sind aber bereits zu technisch, um außerhalb des Völkerstrafrechtskreises Interesse zu wecken.
Für die interessierten Jurist:innen fehlt aber viel. Warum sind es ausgerechnet diese Begehungsformen? Warum nicht weitere Tatbestände? Was ist mit dem Völkermordvorwurf? Was sagt die Kammer zur Jurisdiktion des ICC oder vermeintlichen Immunitäten? Hier wird man auf die Veröffentlichung warten müssen.
Praktische Relevanz der Haftbefehle
Dass es derzeit wenig Aussichten gibt, dass Vladimir Putin sich in Den Haag verantworten muss, ist ein Allgemeinplatz. Dennoch können die Haftbefehle über kurz oder lang wirksam werden.
Die Kinderrechtsbeauftragte Russlands dürfte bis Freitag kaum jemandem namentlich bekannt gewesen sein. Sie scheint keine zentrale Figur in Putins Regierung zu sein. Sie genießt sicherlich nicht den Schutz, den der russische Präsident genießt. Vielleicht sieht sich Frau Lwowa-Belowa irgendwann in die Rolle eines Bauernopfers gedrängt, die den strafrechtlichen Preis für eine diplomatische Lösung des Konflikts zahlen muss.
Aber auch der Haftbefehl gegen Vladimir Putin ist alles andere als bloße Symbolik und erschöpft sich nicht in einer Einschränkung seiner Reisefreiheit. Man kann eine Parallele zu dem einzig anderen Haftbefehl ziehen, den der ICC gegen einen amtierenden Staatschef ausgestellt hat. Dieser richtete sich wegen Vorwürfen der Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord gegen den damals amtierenden Staatschef des Sudan, Omar al-Bashir. Zunächst konnte al-Bashir weiter Verbrechen begehen. Ein gutes Jahrzehnt nach dem Erlass des Haftbefehls aber wurde er im Sudan entmachtet. Die neue Militärregierung im Sudan hatte 2020 angekündigt, ihn nach Den Haag auszuliefern. Daraus ist bislang zwar nichts geworden. Allerdings zeigt sein Beispiel, das ein fest im Sattel sitzender Staatschef im Laufe der Zeit durchaus seinen Posten verlassen muss und sich dann der nationalen oder internationalen Strafverfolgung ausgesetzt sieht. Die Perspektive, die man zur Nachricht vom Freitag einnehmen muss, ist daher eine längerfristige.
Vielen Dank für Ihren Interessanten Beitrag.
Sie schreiben: “Auch die Begehung von Verbrechen in dem Konflikt ist kein Geheimnis. ”
Könnten Sie diesbezüglich freundlicherweise auf Entscheidungen (internationaler) Gerichte verweisen? Wie Sie sicherlich wissen, können nur diese die Schuldfrage und damit das Begehen von Verbrechen feststellen.
Beste Grüße
Ich denke, es ist ein Unterschied, ob ein Regierungschef oder Staatschef in einem Bürgerkriegszustand wie im Sudan/Südsudan oder außerhalb des eigenen Territoriums Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.
Die Kausalität, dass der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof nach zehn Jahren zu einem Machtwechsel und dem folgenlosen Versprechen führte, al Bashir auszuliefern, fehlt in der Argumentation. Die Geschichte verlief wohl ein wenig anders. Zur Zeit des gültigen Haftbefehls schlossen sich Länder zusammen, den Haftbefehl nicht anzuerkennen und selbst Südafrika ließ al Bashir ausreisen.
So sehr man sich wünschen mag, dass Kriegsverbrechen aufgeklärt und strafrechtlich verfolgt werden, sind wir in dieser Phase des Krieges mit internationaler Unterstützung auf beiden Seiten der Kriegsgegner, in einer vollkommen anderen und gefährlichen Situation.
Es ist unwahrscheinlich, dass Putin von einem Drittstaat, den er bereist, ausgeliefert wird. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin momentan im Innern Russlands gestürzt wird.
Was also hier oben im Falle Sudans per Haftbefehl als Regimechange-maker angeführt wird, ist nicht nur schwach begründet, es ist im Hinblick auf eine laufende militärische Auseinandersetzung, eine Veröffentlichung zur Unzeit, um zu bewirken, dass sich – politisch erreicht – russische Truppen aus der Ukraine zurückziehen.
Es fungiert geradezu als Verhinderungswerkzeug und führt