Besetzte Orte
Die Einwirkung der Versammlungsfreiheit auf das Straf(prozess)recht im Zusammenhang mit Protestbesetzungen
In verschiedenen deutschen Universitäten wurden in der vergangenen Woche und auch heute Hörsäle besetzt (siehe etwa hier, hier und hier). Die Besetzungen hatten unter anderem zum Ziel, auf Belange des Klimaschutzes hinzuweisen. Die Aktionen reihen sich damit ein in die Protestaktionen (Sitzblockaden, Bewerfen von Kunstwerken mit Kartoffelbrei) der letzten Zeit, die in der Öffentlichkeit und auch hier auf dem Verfassungsblog intensiv diskutiert werden.
Während andere Hörsäle in der Bundesrepublik noch besetzt gehalten werden, endete eine Besetzung an der Frankfurter Goethe-Universität mit einer polizeilichen Räumung. Da Teilnehmer:innen der Besetzung nun mit Strafverfahren rechnen müssen, soll im Folgenden das Verhältnis von Versammlungsfreiheit und Straf- wie Strafprozessrecht in Hinblick auf Proteste in Form von Besetzungen ausgeleuchtet werden, seien es Besetzungen von Uni-Hörsälen, Tagebaugeländen oder Wäldern. Auch im Lichte der Versammlungsfreiheit begründen jene Besetzungen zwar in der Regel einen Hausfriedensbruch. Auf Grundlage einer verfassungsorientierten Normenkonkretisierung der §§ 153, 153a StPO machen wir aber einen Vorschlag zur prozessualen Entkriminalisierung von Klima-Protestaktionen. Damit ist ein der gesellschaftlichen Konfliktlage angemessener, von beiderseitigem Nachgeben gekennzeichneter, konstruktiver Lösungsansatz gewonnen.
Versammlungsfreiheit und strafrechtlich geschütztes Hausrecht im Verhältnis
Dass es sich bei den Besetzungen der Unihörsäle um eine Versammlung, also die örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen handelte, die auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet war, ist unzweifelhaft. Doch schon beim nächsten gedanklichen Schritt in der Prüfung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG wird sichtbar, in welche Verlegenheiten die Besetzungen von Hörsälen, aber auch anderer Räume (verfassungs-)rechtlich führen: Denn auch wenn die Versammlungsfreiheit nach konsentierter verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung das Recht gewährleistet, „selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll“, gewährt die Versammlungsfreiheit dieser Lesart zufolge keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird. Das BVerfG führte dazu in der Fraport-Entscheidung aus, dass die Durchführung von Versammlungen in für die „Allgemeinheit nicht geöffneten Anlagen“ nicht geschützt sei. Das Selbstbestimmungsrecht der Versammlungsteilnehmenden erstrecke sich grundsätzlich nur auf Orte des allgemeinen kommunikativen Verkehrs, also solchen, die der Öffentlichkeit allgemein geöffnet und zugänglich sind. Das „Leitbild des öffentlichen Forums“ sei für die Bestimmung dieser Orte maßgeblich. Dort könnten eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden und es entstehe hierdurch ein „vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht“.
Das „Leitbild des öffentlichen Forums“ in Besetzungsfällen
Was ergibt nun eine Anwendung dieses Maßstabs auf einen Universitäts-Hörsaal? Auch wenn Hörsäle nicht ausschließlich für die universitäre Lehre oder wissenschaftliche Veranstaltungen genutzt werden, sondern teilweise für öffentliche Veranstaltungen, dienen sie jedenfalls ganz überwiegend Zwecken der universitären Lehre– zumal im laufenden Vorlesungsbetrieb. Das Kommunikationsgeflecht entfaltet sich dementsprechend in der Interaktion von Studierenden und Lehrenden, ist dadurch aber nicht „vielseitig“ wie in der Shopping-Meile eines Flughafengebäudes oder einer im Privateigentum befindlichen Fußgängerzone. Damit scheint bei strenger Anwendung der angezeigten Maßstäbe schon die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG für Hörsaal- oder Tagebaugeländebesetzungen aussichtslos.
Dann ist aber auch kein Raum mehr, die dort verhandelten Konflikte anders als im Strafrecht zu verarbeiten. Dieses Ergebnis ist unbefriedigend: Es liegt auf der Hand, dass die Besetzung eines Raums zu Protestzwecken einen anderen gesellschaftlichen Konflikt zu führen versucht als etwa der Einbruch in ein Firmengebäude. Diese Protestform verfolgt gleichlaufende Zwecke zu denen, die eine herkömmliche Versammlung verfolgt, nur eben an einem besonderen Ort. Es geht in gleicher Weise um öffentliche Kommunikation, den Hinweis auf gesellschaftliche Missstände, das Zusammenkommen um eine Idee. Hier wird das Problem deutlich, das mit der Gleichsetzung der „Leitidee des öffentlichen Forums“ mit dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit einhergeht: Wählen die Protestierenden den falschen Ort, sind nicht nur Beschränkungen ihres Protests gerechtfertigt, sondern er wird gar nicht mehr in der Sphäre der Grundrechte adressierbar, sondern ausschließlich strafrechtlich als Hausfriedensbruch oder zivilrechtlich als Besitzstörung verhandelt.
Über das öffentliche Forum hinaus
Dass sich das Bundesverfassungsgericht dieser Problematik schon in der Fraport-Entscheidung zumindest mitbewusst war, kommt bei den Ausführungen zum Einschränkungsvorbehalt zum Ausdruck, wo es heißt: „Versammlungen an Orten allgemeinen kommunikativen Verkehrs sind Versammlungen unter freiem Himmel im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GG.“ Die „Orte allgemeinen kommunikativen Verkehrs“, die öffentlichen Foren also, fallen stets unter den dort formulierten Gesetzesvorbehalt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Versammlungen in geschlossenen Räumen, die von Art. 8 Abs. 1 GG ebenfalls umfasst und mangels Gesetzesvorbehalt vorbehaltlos geschützt sind, niemals in „öffentlichen Foren“ stattfinden. Geht man also dogmatisch so weit, die Leitidee des öffentlichen Forums mit dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gleichzusetzen, müssten an sich alle Versammlungen in geschlossenen Räumen aus dem Schutzbereich herausfallen. Das kann nicht sein. Hier wird – ebenso wie bei der Erweiterung der Leitidee des öffentlichen Forums auf in Privateigentum stehende Räume – deutlich: Wenngleich das Bundesverfassungsgericht diese Fragen unter dem Gesichtspunkt des Schutzbereichs diskutiert, handelt es sich dabei eigentlich um ein abwägungsleitendes Merkmal. Es etabliert im Schritt der Eingriffsrechtfertigung ein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Es lautet so: Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind dort, wo ein öffentliches Forum eröffnet ist, zunächst einmal unabhängig von den konkreten Eigentumsverhältnissen nicht schon deshalb zu rechtfertigen, weil für gewöhnlich die Berechtigten (§§ 903, 1004 BGB) bestimmen dürfen, wer was auf ihrem Grund und Boden tut. Vielmehr ist die Versammlungsfreiheit auch an diesen Orten im konkreten Fall mit den entsprechenden Rechtsgütern anhand des Grades der jeweiligen Betroffenheit abzuwägen. Die Leitidee des öffentlichen Forums bedingt, dass in der Regel der Versammlungsfreiheit Vorrang vor entgegenstehenden Rechtsgütern einzuräumen ist, wenn der Versammlungsort ohnehin dem öffentlichen Verkehr zugänglich ist. Die Berechtigten müssen sich entgegenhalten lassen, dass der so eröffnete Kommunikationsraum nicht willkürlich auf bestimmte Kommunikationsrichtungen beschränkt werden kann: Im Gegenteil muss gerade im Hinblick auf die Demokratiefunktion der Versammlungsfreiheit auch Raum für die Auseinandersetzung mittels des Versammelns sein. Hier kann auch die Überlegung Platz greifen, dass Kommunikationsgeflechte kein Ding an sich sind und einem Ort ontologisch anhaften. Kommunikation entsteht in der Interaktion von Beteiligten. Aus diesem Grund können auch auf Orten, die in der Vergangenheit durch Abwesenheit von Kommunikation gekennzeichnet waren. Kommunikationsgeflechte entstehen, wenn sie Gegenstand öffentlicher Meinungsbildung werden. Genau das passierte in den vergangenen Jahren etwa mit diversen Braunkohle-Tagebaugeländen. Waren diese Orte noch vor wenigen Jahren kommunikativ so tot, wie die Kohle, die sie hervorbrachten, sind sie heute Zentren kommunikativer Entfaltung. Und die Erweiterung physischer Kommunikationsräume in den virtuellen Raum unterläuft eine starre Grenzziehung ohnehin weitgehend.
Das Leitbild des öffentlichen Forums wurde in der Fraport-Entscheidung etabliert, um den Schutz der Versammlungsfreiheit in Räumen klarzustellen, wo vorher Rechtsunsicherheit und Beschränkungen herrschten. Die Berücksichtigung in anderen Entscheidungen zeigt, wie erfolgreich das war. Das Leitbild des öffentlichen Forums sollte aber nicht vorschnell herangezogen werden, um in anderen Fällen gleich von vornherein keinen Raum für die Versammlungsfreiheit zu sehen und die Fragen einzig dem Straf- bzw. Zivilrecht zu überantworten. Die Versammlungsfreiheit schützt demnach grundsätzlich auch das Recht, sich auf Privatgrund zu versammeln – in der Regel wird es allerdings im Bereich des Privateigentums, wenn kein öffentliches Forum eröffnet ist, möglich sein, eine solche Versammlung zu untersagen: Mit dem Privateigentum (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) steht dann ein hinreichend gewichtiges Gegenrecht entgegen. Diese erweiternde Lesart des Leitbilds des öffentlichen Forums drängt sich hinsichtlich solcher Räume besonders auf, die dem stets grundrechtsverpflichteten Staat zuzuordnen sind (z.B. Uni-Hörsäle): Dass dieser sich durch die spezifische Zweckwidmung der Räume von vornherein der Bindung an Art. 8 Abs. 1 GG entziehen können soll, ist nämlich fragwürdig.
Besetzung als Hausfriedensbruch im Lichte der Versammlungsfreiheit
Wie wirken sich diese Maßstäbe nun auf die Frage der Strafbarkeit wegen Hausfriedensbruchs aus? Die Grenze zwischen Versammlungsfreiheit und strafbarem Hausfriedensbruch wird zunächst einmal durchlässiger. Besetzungen von Uni-Hörsälen etwa fallen nach den vorstehenden Überlegungen in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG – die konkrete Rechtsgutsabwägung wird erst auf Ebene der Eingriffsrechtfertigung relevant. Der Straftatbestand des Hausfriedensbruchs ist beispielsweise mit dem Verweilen ohne Befugnis (§ 123 Abs. 1, Alt. 2 StGB) nach Aufforderung des Berechtigten zum Verlassen indes eindeutig erfüllt. Allerdings ist der Raum zur Abwägung eröffnet, in dem die Frage des Protestortes reflektiert werden kann. In der Regel, nicht aber zwingend, müssen etwa die Interessen an Versammlungen in nicht-öffentlichen Räumen, wie etwa Tagebaugeländen oder Hörsälen, hinter den Interessen der Berechtigten zurückstehen. Das kann anders sein, wenn der Raum tatsächlich nicht oder nur eingeschränkt genutzt wird und ein ideelles Kommunikationsgeflecht (s.o.) auf dem Ort entstanden ist. Das liegt in den Tagebaubesetzungsfällen durchaus nahe. Ein abwägungsrelevanter Aspekt ist zudem der „Sachbezug“ zwischen gewähltem Protestort und den verfolgten Anliegen: Eingriffe in die Versammlungsfreiheit durch Anwendung des Strafrechts dürften danach jedenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn ein Sachbezug zwischen gewähltem Versammlungsort und dem zum Ausdruck gebrachten Anliegen nicht offensichtlich ist. Das Kriterium des „Sachbezugs“ hat das Bundesverfassungsgericht ursprünglich aufgestellt, um die für § 240 StGB notwendige Zweck-Mittel-Relation verfassungsrechtlich zu konturieren. Aber es drängt sich auf, es auch im Kontext des § 123 StGB in Ansatz zu bringen: Wurde dort, bei Sitzblockaden und Nötigung, ein „Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand“ gefordert, lässt sich hier ein Sachbezug zwischen Protestort und Protestgegenstand fordern. Im Fall der Tagebaubesetzungen ist der Sachbezug zum Klima-Schutz offensichtlich – eine Demonstration mit kilometerweitem Abstand zu einem Epizentrum des CO2-Ausstoßes macht wenig Sinn. Anders ist dies aber bei der Hörsaal-Besetzung zu bewerten: Der Hörsaal selbst und der dort stattfinden Protest stehen jedenfalls nicht offensichtlich in Zusammenhang. Darüber hinaus überwiegt auch hier das Interesse an einem reibungslosen Ablauf universitärer Lehrveranstaltungen und den Interessen, zu lehren und zu lernen (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG). Lehrveranstaltungen, insbesondere Vorlesungen, sind zudem notwendiger Teil der Prüfungsvorbereitung, die für die Ausbildung und damit die berufliche Existenz (Art. 12 Abs. 1 GG) enormen Stellenwert einnehmen. Da § 123 StGB zumindest auch dazu dient, die spezifischen Nutzungszwecke von Räumen zu schützen, die hier grundrechtlich in den angesprochenen Positionen verkörpert sind, ist es auch unschädlich, dass sich die Universität ihrerseits nicht auf die Eigentumsgarantie berufen kann. Damit bleibt es dabei, dass Versammlungen in Hörsälen in Form von Besetzungen in der Regel, aber nicht zwingend, strafbarer Hausfriedensbruch sind.
Strafbar, aber sanktionslos? – Verfassungsorientierte Konkretisierung der §§ 153, 153a StPO in Klimaprotest-Fällen
Auf strafbar muss in unserer Straf(verfassungs)rechtsordnung heute aber nicht mehr zwingend Bestrafung folgen. Hausfriedensbruch ist zunächst ein Antragsdelikt: Es wird nur dann strafrechtlich verfolgt, wenn der oder die Verletzte Strafantrag stellt, also das Verlangen zum Ausdruck bringt, dass die Täter*innen strafrechtlich verfolgt werden sollen. Das kann man sich überlegen. Über die Antragsdelikte hinaus sind die Strafverfolgungsbehörden aber zur Strafverfolgung verpflichtet (Legalitätsprinzip, §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO). Mit der Zeit hat sich in der Strafprozessordnung aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Staat überhaupt nicht in der Lage ist, alle begangenen Straftaten zu verfolgen und abzuurteilen und gerade im Bereich der Bagatellkriminalität flexibler auf strafrechtliche Konflikte reagiert werden können muss. Mit §§ 153, 153a StPO haben dementsprechend Vorschriften Einzug in die StPO erhalten, die ein Absehen von der Strafverfolgung ermöglichen – im Fall des § 153 StPO, wenn es sich um ein Vergehen handelt, die Schuld des/r Täter*in als gering anzusehen wäre und kein „öffentliches Interesse“ an der Strafverfolgung besteht; im Fall des § 153a StPO, wenn die Schwere der Schuld des/r Täter*in nicht entgegensteht und Auflagen und Weisungen das „öffentliche Interesse“ an Strafverfolgung beseitigen können. Hier ist für Staatsanwaltschaften und Gerichte Raum für eine Einstellungspraxis, die sich an den verfassungsrechtlichen Wertungen orientiert.
Die Frage liegt nahe, ob an der Bestrafung von beschuldigten Klima-Aktivist*innen, die den Rechtsbruch als Ausdrucksform für verfassungsrechtlich geschützten Protest nutzen (ziviler Ungehorsam), ein „öffentliches Interesse“ bestehen kann. Vom strafrechtlichen Schrifttum als maßgeblich erachtet wird, „ob nach den Umständen des Einzelfalls die Verbindlichkeit des Rechts beeinträchtigt würde, sprich eine Störung des Rechtsfriedens zu verzeichnen wäre, wenn das in Rede stehende Verfahren eingestellt wird.“1) Die Antwort kann wiederum nicht ohne Rückgriff auf die Bedeutung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen gegeben werden, die in den Begriff des öffentlichen Interesses hineinzulesen sind. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass mit Umweltschutzanliegen solche verfolgt werden, die einer vom Grundgesetz ausdrücklich genannten Staatszielbestimmung entsprechen (Art. 20a GG). Natürlich darf sich der Staat nicht anmaßen, die im Rahmen einer (zulässigen) Versammlung verfolgten Anliegen einer sozialethischen Bewertung zu unterziehen und andere Anliegen als illegitim einzuordnen. Eine Ausnahme kann aber für solche Anliegen gemacht werden, die demokratisch verbindlich festgelegt wurden. Umwelt- und Klimaschutz gehören unstreitig dazu. Für undifferenzierte oder mehrdimensionale Anliegen kann auch hier das Kriterium des Sachbezugs greifen: Werden, wie beispielsweise im Fall der Besetzung der Goethe-Universität, zahlreiche, thematisch unterschiedliche Forderungen erhoben, kann der Sachbezug zwischen Protestort-, gegenstand und beeinträchtigen Personen fernliegen und es im Ergebnis als zweifelhaft erscheinen, ob der Protest noch Ausdruck einer symbolischen Verfolgung verfassungsrechtlich legitimer Anliegen ist. Angesichts der derzeitigen öffentlichen Empörung, mit der auf die Klimaprotest-Aktionen reagiert wird, darf andererseits aber auch nicht außer Acht gelassen werden, dass der „Rechtsfrieden“ aktuell durchaus „gestört“ sein könnte, würden alle Verfahren folgenlos eingestellt. Hier könnte auf die Idee des § 153a StPO zurückzugreifen sein, die nach denselben verfassungsrechtlichen Maßstäben zu konkretisieren ist: Besteht trotz verfassungsrechtlich nachvollziehbarer Anliegen (Art. 20a GG) beim Rechtsbruch ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung, kann dieses durch geeignete Auflagen oder Weisungen beseitigt werden. Da es auch im Strafrecht darum gehen muss, den einer Straftat zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konflikt konstruktiv zu verarbeiten, ist denkbar, dass Staat – in Form der Strafverfolgungsbehörden – und Aktivist*innen in einem symbolischen Akt aufeinander zugehen: Die Auflage, eine bestimmte umweltnützliche Handlung vorzunehmen, stellt ein Strafübel dar, das aber gleichzeitig die Interessen der Aktivist*innen bedient. Es würde den zivilen Ungehorsam auch nicht unterminieren, dem immanent ist, für strafrechtliche Konsequenzen einzustehen.
Der Weg über eine prozessuale Entkriminalisierung der aktuellen Konfliktlage könnte in dieser Form ein beiderseitiges Nachgeben darstellen und damit einen beispielhaften konstruktiven Umgang des Rechtsstaates mit Formen zivilen Ungehorsams. Die Taten bleiben im Einzelfall strafbar, aber sie müssen nicht zwingend bestraft werden. Es bedarf dann auch nicht – dogmatisch ohnehin zweifelhafter – Konstruktionen über eine Rechtfertigung derartiger Taten unter dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB), wie das AG Flensburg im November entschied.
References
↑1 | MüKoStPO/Peters, 1. Aufl. 2016, StPO § 153 Rn. 29; SK-StPO/Weßlau/Deiters, Band III, 5. Auflage 2016, § 153 Rn. 19. |
---|
In der Summe ein guter und differenzierter Beitrag. Allerdings bereitet mir das darin am Ende verwurstete “Wertordnungsdenken” erhebliche Magenschmerzen. Angesichts dieser Herleitung dürfte ich annehmen, dass der Autor auch etwa die Anwendung der §§ 153, 153a StPO Hörsaalbesetzung durch die junge Alternative gegen das Selbstbestimmungsgesetz befürwortet, da Art. 6 Abs. 2 GG als “Wertentscheidung” enthält, dass die Eltern maßgeblich über das Wohlergehen ihrer Kinder bestimmen dürfen.
Der Beitrag enthält Inhalt, der fern jeder praktischen Anwendung liegt, und auch dogmatisch ins Abseits führt.
§ 153a StPO ist allenfalls dann eine Möglichkeit zur Enkriminalisierung, soweit man die Kriminalisierung als ein rein formales Instrument betrachtet. Der Beitrag durchdenkt schon nicht, dass § 153a StPO immer von einer – zumindest faktischen – Zustimmung des Beschuldigten abhängt: Dieser muss die Auflage/Weisung erfüllen. Was für eine “Entkriminalisierung” soll es sein, wenn die Freiheit von einer “echten” Strafe davon abängt, dass man eine “unechte” Strafe über sich ergehen lässt. Was schlagen die Verf. ganz genau vor, wenn sich ein Beschuldigter weigert, eine Auflage zu erfüllen? Ist die Durchführung des Erkenntnisverfahrens mit entsprechendem Ausgang) dann überhaupt noch eine Strafe für die Tat und nicht viel eher eine Strafe für die Verweigerung gegenüber der Auflage?
Praktisch würde dies zugleich bedeuten, dass sich eine sehr reiche Person solche Delikte “leisten” könnte, weil sie jede Auflage stemmen könnte. Das ist zutiefst ungerecht. Wer hier ernsthaft für eine Entkriminalisierung eintritt (was nicht in dieser Pauschlität meine Meinung wäre, aber im Hinblick auf die Entscheidungen des BVerfG aus dem Dezernat Masing durchaus gut vertreten werden könnte), der sollte dies ganz oder gar nicht tun.
Im Übrigen zeugen die Ausführungen von fehlender Kenntnis der praktischen Anwendung und insbesondere der praktischen Probleme des § 153a StPO. Es ist a) mitnichten so, dass die Hauptverhandlung ein per se schärferes Schwert in solchen Fällen wäre und b) leidet § 153a StPO schon heute massiv darunter, dass es keine wirkliche Kontrolle der Normanwendung gibt und die Norm oft mehr eine Form “Ablaufventil” ist. Die hier vertretene Auffassung würde dies massiv verstärken.
Sehr geehrter lieber, “Leser”,
haben Sie vielen Dank für Ihre Stellungnahme und lassen Sie uns gerne weiter hierzu austauschen. Sie haben zunächst Recht, wenn Sie schreiben, dass die Auflage/Weisung von der faktischen Zustimmung des Beschuldigten abhängt. Aber das ist auch gerade der Vorschlag: Es ist ein beiderseitiges Aufeinanderzugehen von Staat iFd Strafverfolgungsbehörden und Aktivist*innen: Ein wenig Strafübel iFv Auflagen/Weisungen muss ggf. sein, um das öffentliche Interesse an Strafverfolgung zu beseitigen, aber es bedarf keines weiteren Strafverfahrens ggf. mit der Verhängung einer Kriminalstrafe (und erst Recht keiner Durchsuchungen wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung). Aber natürlich wäre es praktisch eine Art “Angebot” – wird die Auflage nicht erfüllt, wird in der Regel ein Strafbefehl erlassen oder es kommt zu einer Hauptverhandlung.
Dass reiche Person jede Auflage stemmen könnten, verkennt, dass wir ersten gar keine Geldauflagen im Sinn haben, sondern gemeinnützige Tätigkeiten (z.B. Müll sammeln, Teilnahme an irgendwelchen Kursen etc.), die “reiche” Menschen gleichermaßen treffen und “weh tun” könnten.
Wir meinen zudem, dass die Eröffnung einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung durchaus einen der schwersten Einschnitte in das Leben eines Menschen darstellt, den man sich vorstellen kann – in einem Strafprozess angeklagt zu sein, geht mit massiven sozialen, beruflichen, persönlichen Einbußen einher. Gerade auch vor diesem Hintergrund wurde § 153a StPO als prozessuales Entkriminalisierungsinstrument eingeführt, da man sich auf materielle Entkriminalisierungen Mitte der 1970er-Jahre nicht einigen konnte (siehe hierzu Weßlau/Deiters, in: Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, Band III, § 153a Rn. 1). Es stellt eben ein flexibles, alternatives Instrument dar, um auf strafrechtliche Konflikte zu reagieren. Aber zugleich geht damit einher, da geben wir Ihnen Recht, dass die Normanwendung wegen des Ermessensspielraums in der Praxis uneinheitlich ist und regional abweicht. Aber gerade deshalb schlagen wir eine verfassungsorientierte Normenkonkretisierung im Einzelfall vor, die sich für die Protestfälle an der Bedeutung der Versammlungsfreiheit orientiert.
Freundliche Grüße!