25 February 2019

Bundesverfassungs­gericht versus Behinderten­rechts­ausschuss: Wer hat das letzte Wort?

In der letzten Woche verkündete das Bundesverfassungsgericht seine seit langem erwartete Entscheidung zum Wahlrechtsausschluss von Menschen mit Behinderung. Es hat dabei die Rechte von Menschen mit Behinderung gestärkt, indem es § 13 Nr. 2 BWahlG für mit dem Grundgesetz unvereinbar und § 13 Nr. 3 BWahlG für nichtig erklärt hat. Dies geschah allerdings in dezidiert autonomer Berufung auf die Gewährleistungen des Grundgesetzes. Eine Beeinflussung seines Ergebnisses durch Vorgaben völkerrechtlicher Verträge menschenrechtlicher  Natur hat das Bundesverfassungsgericht tunlichst vermieden, ja es hat der Rechtsauffassung des Behindertenrechtsausschusses sogar diametral widersprochen. Das wirft die Frage auf: Wer hat das letzte Wort? 

1. Interessant ist zunächst, sich die Stelle zu vergegenwärtigen, an der das Bundesverfassungsgericht auf die völkerrechtlichen Vorgaben zu sprechen kommt. Dies erfolgt zwischen der Etablierung der genuin grundgesetzlichen Maßstäbe für die Beurteilung der Wahlrechtsausschlüsse (Rn. 40 ff.) und der Subsumtion (Rn. 83 ff.). Das Bundesverfassungsgericht zieht die menschenrechtlichen Verträge also nicht zu einer Kontrolle des im konkreten Fall gefundenen Ergebnisses heran (etwa im Sinne: „Das hier gefundene Ergebnis steht mit den völkerrechtlichen Vorgaben der Bundesrepublik Deutschland in Einklang…“), sondern überprüft allein den verfassungsrechtlichen Maßstab auf seine Kompatibilität mit dem Völkerrecht. Die Subsumtion erfolgt sodann ausschließlich anhand des Verfassungsrechts, ohne dass die menschenrechtlichen Verträge noch eine Rolle spielten. Dadurch erreicht das Bundesverfassungsgericht zweierlei: Zum einen betont es den Selbststand des deutschen Verfassungsrechts. Das Verdikt der Verfassungswidrigkeit ergibt sich bereits (und aus Sicht des Gerichts allein!) aus den Vorgaben des Grundgesetzes, die menschenrechtlichen Gewährleistungen tragen hierzu nichts weiter bei. Zum anderen ermöglicht die Stellung im Argumentationsgefüge dem Gericht, sich mit den menschenrechtlichen Vorgaben intensiver zu befassen. Hätte das Verdikt der Verfassungswidrigkeit nämlich bereits festgestanden, hätte sich das Bundesverfassungsgericht auch mit dem lapidaren Hinweis begnügen können, etwaige völkerrechtlichen Vorgaben seien nicht weiter entscheidungserheblich.

2. In der Sache rekapituliert das Bundesverfassungsgericht seine vor allem am Beispiel der EMRK entwickelte Rechtsprechung zur innerstaatlichen Bedeutung menschenrechtlicher Verträge und überträgt diese konsequent auf die hier ebenfalls einschlägigen IPBPR und BRK. Diese haben innerstaatlich einfachen Gesetzesrang (Rn. 61), dienen aber als Auslegungshilfe auch und gerade zur Bestimmung der Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes (Rn. 62), freilich nur innerhalb der Grenzen methodisch vertretbarer Auslegung (Rn. 63). Die im letzten Jahr im Beamtenstreikrechtsfall entwickelte, in ihrer Tragweite unklare Figur des Verstoßes gegen „tragende Grundsätze der Verfassung“ als Grenze  der Berücksichtigungsfähigkeit (Rn. 63) wird ebenso rezipiert wie das dort formulierte Kontextualisierungsgebot (Rn. 64).

Unklar sind aus meiner Sicht die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur innerstaatlichen Bedeutung der Praxis menschenrechtlicher Monitoring Bodies. Das Gericht stützt sich insoweit im Wesentlichen auf seine Ausführungen im Beschluss zur Zwangsbehandlung psychisch Kranker aus dem Jahr 2016. So zutreffend es ist, dass die von einem solchen Ausschuss vorgenommene Vertragsauslegung – auch völkerrechtlich betrachtet – keine Verbindlichkeit beanspruchen kann, so sehr fragt sich doch der Leser, welche Bedeutung der Aussage zukommt: „Ein Mandat zur verbindlichen Interpretation des Vertragstextes kommt dem Ausschuss nicht zu“ (Rn. 65). Was bedeutet das insbesondere im Vergleich zum EGMR, bei dem das Bundesverfassungsgericht betont, dieser sei „gemäß Art. 32 zur Auslegung der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle berufen“ (Rn. 79)? Anders herum gefragt: Wenn schon der EGMR-Rechtsprechung jenseits der Bindungswirkung im entschiedenen Einzelfall (Art. 46 Abs. 1 EMRK) lediglich eine „Orientierungs- und Leitfunktion“ zukommt (Rn. 64), ist dann die Bedeutung der interpretativen Aussagen der Monitoring Bodies aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts (noch) geringer? Erklärt sich hieraus möglicherweise die extrem vorsichtige Formulierung, dass sich die nationalen Gerichte mit der Auffassung derartiger Vertragsorgane auseinandersetzen „sollten“ (Rn. 65), während im Görgülü-Beschluss immerhin von einer „Berücksichtigungspflicht“ der EGMR-Rechtsprechung die Rede ist? Oder nimmt das Bundesverfassungsgericht in seinem Klammerzusatz gerade eine Parallelisierung der Berücksichtigungspflicht bei Monitoring Bodies und EGMR vor, wenn es heißt: „siehe auch – allerdings für Entscheidungen internationaler Gerichte – [Verweis auf Görgülü und Sicherungsverwahrung II]“ (Rn. 65)?

3. Die hier problematisierten Unklarheiten resultieren möglicherweise aus einem gewissen Unbehagen, welches das Bundesverfassungsgericht insbesondere im Hinblick auf den Behindertenrechtsausschuss hegt. In der Tat ist nicht zu bestreiten, dass dieser Ausschuss ein wesentlich anderes Selbstverständnis (im Sinne einer „revolutionary role“) hat als beispielsweise der Menschenrechtsausschuss des IPBPR. Die Gegenüberstellung der Spruchpraxis durch das Bundesverfassungsgericht belegt dies durchaus eindrücklich, und die Reihe an Beispielen ließe sich mühelos fortsetzen.

Gleichwohl möchte ich den Behindertenrechtsausschuss ein Stück weit gegen die Kritik des Bundesverfassungsgerichts in Schutz nehmen. Das betrifft vor allem die Auslegung des Art. 12 Abs. 4 BRK. Das Bundesverfassungsgericht versteht die Vorschrift der Sache nach als Grundrechtsschranke, die es ermöglicht, Wahlrechtsausschlüsse wegen mangelnder Einsichtsfähigkeit des Betroffenen aus Konventionssicht zu rechtfertigen. Eine unbefangene Lektüre der Norm legt ein solches Verständnis meines Erachtens nicht nahe. Zwar ist dort davon die Rede, Maßnahmen müssten verhältnismäßig und von möglichst kurzer Dauer sein (Satz 2). Satz 1 gibt hingegen das allgemeine Thema vor: Es geht um Maßnahmen, die die Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit betreffen, mit anderen Worten: nicht um eine Schrankenklausel, sondern um einen Regelungsvorbehalt. Rechts- und Handlungsfähigkeit sind juristische Kategorien, welche die Ausübung von Rechten überhaupt erst ermöglichen, durch ihre rechtliche Ausgestaltung aber auch zu gewissen, unvermeidbaren Einschränkungen führen. Das ist indes etwas anderes als eine Schranke, die Eingriffe in den grundrechtlichen Schutzbereich legitimiert. Als Parallele mag man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 GG heranziehen: Diese wird eben nicht aus Art. 38 Abs. 3 GG hergeleitet, der (im Sinne eines bloßen Regelungsvorbehalts) dem Gesetzgeber die Regelung „des Näheren“ aufgibt, sondern aus „zwingenden Gründen“ als verfassungsimmanenten, ungeschriebenen Grundrechtsschranken.

Dass die Interpretation des Bundesverfassungsgerichts auch innerstaatlich keineswegs allseits geteilt wird, ergibt sich aus den Erwägungen, die der nordrhein-westfälische Gesetzgeber bei der ersatzlosen Streichung der vergleichbaren wahlrechtlichen Ausschlussklausel (§ 2 Nr. 1 LWahlG NRW a.F.) zugrunde gelegt hat: „Weder der Wahlrechtsausschluss als automatische Rechtsfolge einer Betreuung in allen Angelegenheiten noch als Folge einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgrund einer strafrechtlichen Maßregel sind mit diesen Vorgaben vereinbar. Artikel 29 der UN-BRK sieht vor, dass Menschen mit Behinderungen politische Rechte, insbesondere das Wahlrecht, gleichberechtigt genießen. Darüber hinaus verpflichtet die Konvention die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen im Bedarfsfall und auf Wunsch zu erlauben, sich durch eine Person ihrer Wahl bei der Stimmabgabe unterstützen zu lassen. Die BRK unterscheidet hierbei nicht zwischen Personen, die die Fähigkeit zur Wahl besitzen und solchen, die sie nicht besitzen. Sie fordert vielmehr eine inklusive, partizipative und nichtdiskriminierende Ausgestaltung des Rechts auf politische Teilhabe und stellt die Befähigung und Unterstützung derjenigen in den Vordergrund, die ihrer bedürfen. Ein Ausschluss vom Wahlrecht ist von der BRK nicht vorgesehen und nach ihr auch nicht zulässig“ (LT-Drs. 16/12130, S. 67).

Man muss diese Rechtsauffassung nicht zwingend für richtig halten. Alternativ könnte beispielsweise auch über immanente Wahlrechtsschranken nachgedacht werden. Als Vorbild könnte insoweit die Rechtsprechung des EGMR herangezogen werden, der angesichts einer normtextlich vorbehaltlos gewährleisteten Wahlrechtsgarantie in Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK ebenfalls auf „implied limitations“ abgestellt hat (grundlegend Mathieu-Mohin and Clerfayt ./. Belgien, Rn. 52). All das zeigt: Die menschenrechtliche Beurteilung des Wahlrechtsausschlusses behinderter Menschen ist eine anspruchsvolle. Dem Behindertenrechtsausschuss in diesem Punkt blinden Aktionismus vorzuwerfen, verfehlt den eigentlichen Kern des Problems.

4. Damit zurück zur Frage nach dem letzten Wort! Auch die Position des Bundesverfassungsgerichts ist nach hiesiger Auffassung, völkerrechtlich betrachtet, nur ein Interpretationsangebot. Ob und inwieweit der Behindertenrechtsausschuss hierauf eingehen wird, bleibt abzuwarten. Nach meinem Eindruck ist die Kultur des Dialogs der nationalen Verfassungs- und Höchstgerichte im Verhältnis zum EGMR indes wesentlich weiter gediehen als im Verhältnis zu den Monitoring Bodies. Hier haben in jüngerer Zeit einige Verfassungs- und Höchstgerichte dem EGMR inhaltlich widersprochen und dadurch teilweise eine Feinjustierung der EGMR-Rechtsprechung erwirkt (lesenswert insoweit das kritische Sondervotum des portugiesischen Richters Pinto de Albuquerque im Fall G.I.E.M. u.a. ./. Italien; siehe auch aktuell das Urteil des UK Supreme Court im Fall R (on the application of Nealon/ Hallam) (Appellant) v Secretary of State for Justice (Respondent) [2019] UKSC 2). Das ist aus meiner Sicht grds. zulässig, solange der Widerspruch nicht mit der Befolgungspflicht im konkreten Einzelfall (Art. 46 Abs. 1 EMRK) konfligiert, sondern sich auf die abstrakte Auslegung der Konvention durch den EGMR bezieht (siehe hierzu im Erscheinen: Marten Breuer [Hrsg.], Principled Resistance to ECtHR Judgments – A New Paradigm?). Denn eine Vorschrift wie § 31 BVerfGG, mittels derer die Auslegung durch den EGMR (die „res interpretata“) über den entschiedenen Einzelfall hinaus verbindlich gemacht würde, sucht man in der EMRK vergebens.

Dass im Falle der Monitoring Bodies eine Regelung wie Art. 32 EMRK fehlt, kann insoweit kaum überraschen, denn diese sind eben keine Gerichte. Ihre interpretativen Ergebnisse allein deshalb kleinreden zu wollen, widerspräche der ihnen von den Vertragsstaaten zugedachten Funktion: Aufgabe der Monitoring Bodies ist die Überwachung (eben das „Monitoring“) der Einhaltung der Menschenrechte durch die Vertragsstaaten. Zu diesem Zweck unterwerfen sich die Staaten regelmäßigen Berichtspflichten gegenüber den durch ihre fachliche Expertise qualifizierten, mit unabhängigen (!) Experten besetzten Ausschüssen. Soweit sich die Staaten der Individualbeschwerde (die auf universeller Ebene regelmäßig in Zusatzprotokollen verankert ist) unterworfen haben, erfolgt die Überprüfung in einem gerichtsähnlichen, quasi-judiziellen Verfahren. In all diesen Verfahrensarten ist eine Konkretisierung der abstrakt gehaltenen menschenrechtlichen Garantien notwendig, wie sie schon aus methodischer Sicht unausweichlich ist. Insoweit verfängt daher auch nicht der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, den Monitoring Bodies komme eine „Kompetenz zur Fortentwicklung internationaler Abkommen über Vereinbarungen und die Praxis der Vertragsstaaten hinaus“ (Art. 31 WVK) nicht zu (Rn. 65). Denn auch im Falle des EGMR verhält es sich nicht grundlegend anders: Was die abstrakte Auslegung der Konvention (die „res interpretata“) angeht, ist der EGMR ebenfalls auf die Akzeptanz der Konventionsstaaten angewiesen. All das spricht aus meiner Sicht dafür, die abstrakte Auslegung durch den EGMR einerseits und durch die Monitoring Bodies andererseits von ihrem interpretativen Wert her dem Grunde nach gleichzusetzen und daher auch hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Berücksichtigungspflicht grundsätzlich gleich zu behandeln.

Mit Blick speziell auf den Behindertenrechtsausschuss könnte allenfalls ein Umstand fruchtbar gemacht werden, auf den kürzlich Robert Uerpmann-Wittzack aufmerksam gemacht hat: Während beispielsweise der Menschenrechtsausschuss nach dem (1.) Zusatzprotokoll zum IPBPR in Beschwerden seine „Auffassungen“ („views“) mitteilt (Art. 5 Abs. 4 FP I-IPBPR), übermittelt der Behindertenrechtsausschuss lediglich seine „Vorschläge und Empfehlungen“ („suggestions and recommendations“, Art. 5 FP-BRK). Daran lässt sich sicher die besondere Zurückhaltung ablesen, mit der sich die Staaten der Überwachung durch gerade diesen Ausschuss unterworfen haben. Ob daraus allgemein auf einen geringeren Wert seiner interpretativen Ergebnisse geschlossen werden kann, erscheint mir hingegen zweifelhaft.


SUGGESTED CITATION  Breuer, Marten: Bundesverfassungs­gericht versus Behinderten­rechts­ausschuss: Wer hat das letzte Wort?, VerfBlog, 2019/2/25, https://verfassungsblog.de/bundesverfassungsgericht-versus-behindertenrechtsausschuss-wer-hat-das-letzte-wort/, DOI: 10.17176/20190324-205951-0.