18 January 2011

BVerfG will Sippenhaft im Ausländerrecht nicht beenden

Wenn dein Mann, dein Sohn, dein Vater etwas ausgefressen hat, dann fliegt nicht nur er raus. Sondern du auch.

Das ist geltendes Ausländerrecht in Deutschland (§ 104a III AufenthG)

Und nicht nur das. Das ist auch verfassungsmäßiges Ausländerrecht in Deutschland. Das Grundgesetz schützt Mitbürger ohne deutschen Pass nicht vor dieser Art von Sippenhaft.

Auf diesem Standpunkt steht nicht nur das Bundesverwaltungsgericht, sondern offenbar auch das Bundesverfassungsgericht.

Keine Familie, keine Probleme

Nach der so genannten Altfallregelung im Aufenthaltsgesetz verlieren über viele Jahre geduldete Ausländer ihre Aufenthaltserlaubnis, wenn ein Familienmitglied, mit dem sie zusammen unter einem Dach wohnen, zu mehr als 50 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt wird. Das heißt: Wenn einer etwas anstellt, müssen dafür alle büßen.

Der Grund: Der straffällig gewordene Ausländer könne sich ja sonst auf sein Grundrecht auf Ehe und Familie berufen. Also raus mit der ganzen Ehe und Familie, dann kann das Problem gar nicht erst entstehen.

Der Verwaltungsgerichtshof von Baden-Württemberg in Mannheim hatte 2009 geurteilt, diese Zurechnung einer Straftat, die man nicht begangen hat, sei verfassungswidrig, und den Fall dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Argument: Damit würde Ehe und Familie, anstatt unter besonderen Schutz gestellt (Art. 6 I GG), sogar noch benachteiligt. Denn nicht-eheliche Lebenspartner hätten diese Zurechnung nicht zu befürchten.

Außerdem sei es willkürlich, die Eltern und Geschwister von straffällig gewordenen erwachsenen Kindern aus dem Land zu werfen, nur weil diese noch zu Hause wohnen.

Die 2. Kammer des Zweiten Senats zeigt indessen überhaupt keine Neigung, sich mit diesem Thema zu befassen.

Die Vorlage sei nicht genügend begründet und damit unzulässig, befinden die drei Richter Di Fabio, Gerhardt und Hermanns (die Neue!)  ungnädig.

Mal lieb, mal böse

So bemäkelt die Kammer etwa, dass der VGH sich damit habe auseinandersetzen müssen, dass nicht jede Benachteiligung von Ehegatten verfassungswidrig sei:

Eine Schlechterstellung von Ehegatten sei insbesondere hinzunehmen, wenn die allgemeine Tendenz des Gesetzes auf Gleichbehandlung ausgeht und die Ehegatten teilweise begünstigt, teilweise benachteiligt werden, die gesetzliche Regelung im Ganzen sich aber vorteilhaft oder „ehe-neutral“ auswirkt… Dem Verwaltungsgerichtshof hätte oblegen, die Frage der Rechtfertigung der angenommenen Ungleichbehandlung anhand dieser Maßstäbe zu prüfen oder aber darzulegen, weshalb sie überholt sind oder nunmehr aufzugeben sein könnten. Es erscheint bereits nicht von vornherein ausgeschlossen, dass eine wechselseitige Zurechnung von Straftaten der in häuslicher Gemeinschaft lebenden Ehegatten mit der Folge, dass ein Aufenthaltstitel, zu deren Erteilung nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs keine Verpflichtung aufgrund höherrangigen Rechts oder nach Völkerrecht besteht, ausgeschlossen ist, den Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit entspricht. Vor allem aber knüpft der Gesetzgeber in anderen Bereichen des Aufenthaltsrechts, namentlich bei den begünstigenden Regelungen zum Familiennachzug (§§ 27 ff. AufenthG), an das Bestehen einer formalisierten Partnerschaft – entweder der Ehe oder der eingetragenen Lebenspartnerschaft – an, zu dem freilich das Bestehen oder die Herstellung einer ehelichen oder familiären Lebensgemeinschaft hinzutreten muss, und greift damit auch auf die rechtlich gesicherte Verbundenheit der Partner zurück.

Was ist das denn? Versteht das jemand? Heißt das, weil das Aufenthaltsgesetz an anderer Stelle lieb zu Familien ist, darf es hier auch mal böse zu ihnen sein? Weil ein Ausländer seine Familie nachholen darf, können wir der Familie nachher dann seine Straftaten zurechnen?

Bin das ich, oder ist das so grotesk wie es klingt?


Foto: utlendingsdirektoratet, Flickr Creative Commons


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: BVerfG will Sippenhaft im Ausländerrecht nicht beenden, VerfBlog, 2011/1/18, https://verfassungsblog.de/bverfg-sippenhaft-im-auslnderrecht-nicht-beenden/, DOI: 10.17176/20181008-125216-0.

10 Comments

  1. Jens Tue 18 Jan 2011 at 15:05 - Reply

    Das wird sicher noch auf höheren Ebenen landen, beispielsweise beim EGMR. Von EU-Freizügigkeitsrecht etc. habe ich keine Ahnung, vielleicht will ja auch der EuGH irgendwann noch mitreden …

  2. Jens Tue 18 Jan 2011 at 15:19 - Reply

    “Weil ein Ausländer seine Familie nachholen darf, können wir der Familie nachher dann seine Straftaten zurechnen?”

    Eher: “Weil ein Ausländer seine Familie nachholen darf, können wir der Familie eines anderen Ausländers dann nachher dessen Straftaten zurechnen.”

  3. Dietrich Herrmann Tue 18 Jan 2011 at 15:45 - Reply

    Ich finde die Formel “Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit”, die die Kammer hier verwendet, außerordentlich problematisch. Diese Formel sollte schnellstmöglich in den Orkus unbrauchbarer Argumentationsmuster wandern – in der Konsequenz öffnet sie blankem Populismus Tür und Tor. Nach diesem Muster könnten wir das BVerfG abschaffen und die “Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit” per Umfrage klären, anschließend könnte ein Urkundsbeamter das Urteil ausfertigen, fertig. Wozu haben wir dann noch ein Grundgesetz, die Menschenrechtskonvention usw.?
    Ich habe mal schnell bei juris recherchiert: Das BVerfG verwendete diese Formel bislang lediglich in vier Senatsbeschlüssen 1968, 1972, 1984 und 1987, sodann in einem Kammerbeschluss 1998 – allesamt Fälle, in denen es um Familie ging.
    Dieser Fall sollte der letzte mit dieser Formel sein.

  4. Johannes Lemken Tue 18 Jan 2011 at 16:05 - Reply

    Ich habe einmal versucht die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in Randnummer 43 etwas strukturierter und damit hoffentlich verständlicher wiederzugeben. Ausgangspunkt ist dabei der folgende Satz, welcher unmittelbar vor dem Blockzitat im Blogeintrag steht.

    “Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mehrfach ausgesprochen, dass eine Regelung, die Verheiratete anders als Ledige behandelt, mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar sei, soweit sie ihren Grund in der durch die eheliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft gekennzeichneten besonderen Situation von Ehegatten hat und deren Berücksichtigung gerade in dem konkreten Sachverhalt den Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit entspricht (vgl. BVerfGE 75, 361 m.w.N.).”

    +++ ARGUMENTATIONSDARSTELLUNG +++

    Eine unzulässige Benachteiligung ist die Ungleichbehandlung (1.) wesentlich Gleichens (2.)
    .
    1. Ungleichbehandlung:
    Werden zwei Sachverhalte unterschiedlich behandelt?

    Leben zwei in häuslicher Gemeinschaft und befinden sich in einer Ehe miteinander, so werden Straftaten aufenthaltsrechtlich zugerechnet. Leben zwei in häuslicher Gemeinschaft befinden sich aber nicht in einer Ehe miteinander, so werden Straftaten aufenthaltsrechtlich nicht zugerechnet.

    Mithin werden zwei Sachverhalte unterschiedlich behandelt.

    2. Wesensgleichheit
    Sind die beiden Sachverhalte wesensgleich?

    Wesensgleichheit im Sinne der grundrechtlichen Gleichbehandlungsregeln liegt dann vor, wenn der Artbildene Unterschied der zur Ungleichbehandlung führt aus einer Wertungsperspektive als unangemessen beurteilt wird.

    Logisch werden aus der Gattung “häusliche Gemeinschaft” durch den Art bildenen Unterschied “rechtserhebliche Verbindung der in häuslicher Gemeinschaft Lebenden” die Arten “Häusliche Gemeinschaft mit rechtserheblicher Verbindung der in häuslicher Gemeinschaft Lebenden” (= der Ehe-Fall) und “Häusliche Gemeinschaft ohne rechtserhebliche Verbindung der in häuslicher Gemeinschaft Lebenden” (= der andere Fall) herausgebildet.

    Das Bundesverfassungsgericht hält das Kriterium der rechtserheblichen Verbundenheit für Wertungsmäßig vertretbar; und eben in der Argumentation für diese Vertretbarkeit führt es an, dass auch in anderen (begünstigenden) Bereichen des Aufenthaltsrechts das Kritierum der rechtserheblichen Verbundenheit als Tatbestandsmerkmal verwendet wird. Nach – hier vom BVerfG wohl impliziert gebilligter- Ansicht des Gesetzgeber handle es sich bei rechtserheblich gebundenen und nicht rechtserheblich gebundenen Lebensgemeinschaften eben nicht um wesensmäßig Gleiches und die Verwendung des Art bildenen Unterschieds verstöße nicht offensichtlich gegen Wertungsmaßstäbe (“…Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit…”).

    Im Ergebnis besteht somit eine Ungleichbehandlung, aber keine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem. Mithin ist die Ungleichbehandlung keine unzulässige Benachteiligung.

    +++

    Schlußbemerkung:

    Die Problematik rechtlich gebundener, gleichgeschlechter Lebenspartnerschaften ist ausgeklammert, da dies den Umfang des Kommentars gesprengt hätte und sich das Bundesverfassungsgericht damit in der Entscheidung an anderer Stelle (Randnummer 31f.) auseinandersetzt und dies auch nicht Schwerpunkt des Blogeintrags ist.

  5. Arthur Dent Wed 19 Jan 2011 at 10:26 - Reply

    Zunächst einmal, Herr Steinbeis: Ein sehr schöner Blog, ich lese hier ausgesprochen gerne! Machen Sie weiter so!

    Zur Sache: Hinsichtlich der Formulierung “Gerechtigkeitsvorstellungen der Allgemeinheit” möchte ich mich Dietrich Herrmann anschließen, ein absolut unbrauchbares Argument.

    Was das Verdikt der Unzulässigkeit angeht, ist “keine Neigung”, sich mit dem Thema ernsthaft auseinanderzusetzen, eine schöne Umschreibung für keine Lust. Wenn man sieht, in welchen Fällen die Zulässigkeit deutlich weniger streng beurteilt wird, um zur Sache urteilen zu können, oder gar, wenn prozessuale Hebel geschaffen werden (Stichwort Art. 38 als Jedermanns-Hebel für die Integration des GG ins europäische Recht), um das BVerfG in die Stellung zu versetzen, eine (teilweise weit ins Politische reichende) Duftmarke zu hinterlassen, bekommt diese Unzulässigkeitsschelte einen umso bitteren Beigeschmack.

  6. Hans Berger Wed 19 Jan 2011 at 14:59 - Reply

    2 BvL 16/09 vom 16.12.2010, Absatz-Nr. 22
    “Das vorlegende Gericht muss hierzu […] mit hinreichender Deutlichkeit darlegen, dass es im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit …”

    Auweia, da hat wohl ein Präsidialrat bei der Vorbereitung des Urteils die Logik suspendiert.

  7. Jens Thu 20 Jan 2011 at 19:55 - Reply

    “Die Vorlage sei nicht genügend begründet und damit unzulässig” – dann bessert man halt einfach nach und legt nochmal vor …

  8. justin Thu 3 Feb 2011 at 21:43 - Reply

    Sippenhaftung wäre korrekt

  9. Sarton Sat 5 Feb 2011 at 13:57