Corona und Bundesstaat
Wie der deutsche Föderalismus in der Krise unter seinen Möglichkeiten bleibt
Welches Verfassungssystem hat sich im weltweiten Vergleich bei der Bekämpfung der Pandemie bewährt, welches eher Nachteile mit sich gebracht? Ist es das föderale System, das – jedenfalls auf den ersten Blick – flexible Lösungen erlaubt und es ermöglicht, auf regional unterschiedliche Infektionsgeschehen auch unterschiedlich – nämlich regional verschieden – zu antworten? Oder ist es der Zentralstaat, der schneller und einheitlich handeln kann?
Für Deutschland gilt: Die spezifischen Vorteile des Föderalismus werden weitgehend nicht genutzt. Insofern bleibt der deutsche Bundesstaat unter seinen Möglichkeiten. Dezentrale Lösungen gibt es wenige, ebenso wenig die hilfreiche, weil lehrreiche Konkurrenz unterschiedlicher Ansätze. Vor allem hat der deutsche Ansatz einen gravierenden Nachteil: er ist – wegen der Tagungen der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) hinter verschlossenen Türen- intransparent, sorgt nicht für klare Verantwortlichkeiten und kann deshalb nur schwer für das nötige Vertrauen in der Bevölkerung sorgen, das gerade in der Krise nötig ist.
Unterschiedliche Länder, unterschiedliche Maßnahmen
Warum ist das so?
Werfen wir zuerst einen Blick auf andere Länder.
Ein Vergleich ist nicht leicht, zu unterschiedlich sind die verschiedenen Länder. In den USA überließ die Trump-Regierung die Bekämpfung der Pandemie weitgehend den Bundesstaaten. Bei den unterschiedlichen Ansätzen der Bundesstaaten stand weniger die Infektionslage im Vordergrund als verschiedene politische Bewertungen, welche Politik die beste sei. Bundesstaaten mit einer republikanischen Regierung wie zum Beispiel Texas schränkten das öffentliche Leben kaum ein, andere Bundesstaaten ergriffen strenge Maßnahmen.
In der Schweiz überließ die Zentralregierung in Bern die Entscheidungen den Kantonen. Dort ergriff man in der Regel keine weitreichenden Maßnahmen. So kam es zu einem Gleichklang von eher laxen Einschränkungen. Ein Wettbewerb verschiedener kantonaler Lösungen blieb somit aus. Die Folge war eine heftige zweite Coronawelle mit vielen Todesfällen.
In China hat die Regierung Ende Februar 2020 einen fast landesweiten Lockdown verhängt, der mehr als 700 Millionen Menschen betraf. Der Zentralstaat erlaubte der Pekinger Regierung, ohne Rücksichtnahme auf regionale Vorbehalte rasch und klar zu handeln. „Es ist schwer von der Hand zu weisen, dass der zentralistische Machtstaat epidemiologisch besser abgeschnitten hat als die meisten anderen Staaten, vor allem als große Föderationen wie die USA, Indien, Brasilien und Russland oder der europäische Staatenverbund“, schrieb der „Spiegel“ in einem längeren Beitrag zur weltweiten Position Chinas.
Dieses positive Urteil über den chinesischen Zentralstaat scheint jedoch übereilt. Es ist nicht leicht zu beurteilen, welche Folgen es beim Krisenmanagement hatte und hat, dass China eine Parteidiktatur ist, ebenso müssen kulturelle Prägungen wie die höhere Akzeptanz in der Bevölkerung für Maßnahmen zur Eindämmung einer Infektionswelle und eine starke insbesondere digitale Überwachung der Bevölkerung beachtet werden. Alles das hat mit spezifischen Vorteilen eines Zentralstaats nichts zu tun.
Der deutsche Föderalismus und die Krise
Klarer und leichter fällt eine Analyse aus, wenn man nur Deutschland in den Blick nimmt. Hat sich der deutsche Föderalismus in der Krise bewährt – welche Lehren sind für ihn zu ziehen?
Jede Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie muss abwägen zwischen der Eindämmung des Virus einerseits und der Vermeidung von Schäden – insbesondere für Wirtschaft und Sozialleben – andererseits. Diese Abwägung um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen beherrscht die Debatten, politisch wie juristisch. Diese Abwägung wiederum muss je nach Infektionsgeschehen immer wieder neu getroffen werden. Gesetzesgrundlage dafür ist § 28 a Absatz 3 Infektionsschutzgesetz, dessen Satz 1 den „Schutz von Leben und Gesundheit“ sowie die „Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“ als Güter benennt, an denen sich die Schutzmaßnahmen auszurichten haben. Diese Schutzmaßnahmen sollen nach Satz 2 regional bezogen je nach Infektionsgeschehen erfolgen und so kleinteilige Lösungen nach regionalen bzw. kommunalen Grenzen erlauben.
Die konkreten Maßnahmen treffen die „zuständigen Behörden“, das sind gemäß Artikel 30 Grundgesetz die Länderbehörden. Nach § 32 Infektionsschutzgesetz erlassen die Länder Rechtsverordnungen, die die Schutzmaßnahmen konkret fassen und so z.B. Verbote von Versammlungen oder von Besuchen in Krankenhäusern verhängen. Sie sind für die Gesundheitsversorgung und Krisenbewältigung verantwortlich, auch wenn sie sich dabei innerhalb des Rahmens des Infektionsschutzgesetzes des Bundes bewegen müssen. Gleichwohl bleiben die entscheidenden Fragen, wo was und wie lange geschlossen wird, also die massive Einschränkung von Grundrechten, in der Hand der Länder.
Regionale Differenzierungen im Bundesstaat
Förderale Staaten wie die Bundesrepublik erlauben regionale Differenzierungen. Dies ermöglicht flexible Reaktionen auf verschiedene Infektionsgeschehen. Wenn eine Region niedrige Infektionszahlen aufweist, können dort die Einschränkungen des öffentlichen Lebens weniger restriktiv ausfallen, so sieht es ja auch das Infektionsschutzgesetz vor. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ist je nach Infektionsgeschehen und damit je nach Region verschieden zu bewerten. Ein Bundesstaat erlaubt hier – jedenfalls nach Ländern – differenzierte Lösungen. Die Abwägung zwischen Schutzmaßnahmen und den mit ihnen immer verbundenen Schäden kann abgewogener und zielgenauer erfolgen als in einem Zentralstaat, wenn dieser für sein gesamtes Gebiet handelt. Auch die Verhältnismäßigkeit wird im Bundesstaat eher gewahrt. Mehr noch: Föderalismus ist verbunden mit dem Ringen nach den besten Lösungen, wenn sich im Vergleich der Länder die Politik beweisen kann, die am besten aus der Pandemie führt. Wechselseitige Lernen – das ermöglicht der Föderalismus im Gegensatz zum Zentralstaat.
Soweit die Lage auf dem Papier, doch wie gestaltete sich die Verfassungswirklichkeit in Deutschland?
In der Praxis gibt es bei den Maßnahmen eine große Einheitlichkeit. Denn das Vorgehen im deutschen Bundesstaat ist auch in der Pandemie vom bekannten kooperativen Föderalismus geprägt. Die wesentlichen Entscheidungen werden – jedenfalls in ihren Grundlinien – von der Bundeskanzlerin (und ihren betroffenen Ministerinnen und Minister) sowie den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gefällt. Formal tagen dabei ein Teil der Bundesregierung mit der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK). Diese MPK ist im Grundgesetz nicht vorgesehen; nur in der Geschäftsordnung der Bundesregierung findet sie Erwähnung. In der Coronakrise wurde sie zum mächtigsten Entscheidungsgremium. Die MPK tagte nicht öffentlich. Dort – auf medial viel beachteten, aber intransparenten „Corona-Gipfeln“ – wird entschieden, ob z.B. Geschäfte schließen, Friseure aufhaben und wer wie viele Personen treffen darf.
Letztlich führt die Kooperation in der MPK zu einem großen Gleichklang der Maßnahmen. Eine regionale Differenzierung bleibt die Ausnahme. Regional unterschiedliche Regelungen je nach Infektionsgrad gibt es kaum. Bei Ausgangssperren und Schulöffnungen kommen zum Beispiel Unterschiede vor, doch weit weniger als man es für einen Bundesstaat erwarten würde. Oftmals gibt es auch Unterschiede innerhalb der Länder, so wenn es in einigen Landesteilen Ausgangssperren gab und in anderen nicht oder in Landkreisen mit besonders hohen Inzidenzwerten ein harter Lockdown verhängt wurde. Diese Unterschiede lassen sich nicht mit dem Föderalismus erklären, vielmehr wurden hier die Spielräume genutzt, die das Infektionsschutzgesetz je nach Pandemielage für regionale Differenzierungen -orientiert an Landkreisgrenzen – eröffnet.
Der Bund ist nicht der Räuber
Urheber der großen Einheitlichkeit beim Vorgehen ist nicht der Bund, der sich zulasten der Länder Rechte sichert. Zwar wurde durch den Bund in einer Revision des Infektionsschutzgesetzes in § 28a der Rechtsrahmen genauer und enger gesetzt, in dem die Länder handeln und somit deren Rechte eingeschränkt. Dies erforderte aber auch der Gesetzesvorbehalt. Wichtig ist aber: Es gingen keine Kompetenzen von den Ländern auf den Bund über. Nicht zwischen Bund und Ländern haben sich die Zuständigkeiten verschoben, vielmehr haben die Länder ihre Kompetenzen an die MPK abgegeben, also ihre Rechte im Rahmen des kooperativen Föderalismus ausgeübt, statt für ihr Land eigene Lösungen zu ergreifen. Letztlich haben die Landesregierungen ihre Rechte und Verantwortungen im Verbund ausgeübt.
Das Verfahren der Entscheidungsfindung auf den „Gipfeln“ wird oft angegriffen. Im Mittelpunkt der Kritik steht, dass die Entscheidungen an den Parlamenten vorbei gefällt werden. Diese – Bundestag und Landtage –werden meist nur nach den Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten einbezogen. Die entscheidenden Maßnahmen werden durch Rechtsverordnungen der Landesregierungen festgelegt. Die Krise ist die Stunde der Exekutive, nicht der Legislative.
So stand die schwache Rolle der Parlamente im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nicht aber der Föderalismus. Das verwundert.
Allerdings ist der bekannte Vorwurf, der deutsche Föderalismus sei zu langsam, bei genauem Hinsehen in der Corona-Krise nicht berechtigt. Die MPK traf sich regelmäßig. Ihre politischen Entscheidungen wurden durch Landesverordnungen innerhalb weniger Tage umgesetzt. Am 12. März 2020 tagte das erste Mal der „Gipfel“, schon drei Tage später waren in ganz Deutschland alle Schulen und Kitas geschlossen. Das etablierte System der Kooperation hat sich in Hinblick auf Effizienz und Schnelligkeit bewährt.
Was sind die Gründe für den bundesweiten Gleichklang? Unterschiedliche Regelungen zum Beispiel bei der Öffnung von Geschäften würden potenziell zu Mobilität und damit Virenverbreitung führen. Regional differenzierte Normen hätten somit andere Einschränkungen insbesondere bei der Mobilität nach sich ziehen müssen. Öffnen die Läden in Neu-Ulm (Bayern), müssten die Ulmer, die in Baden-Württemberg wohnen, daran gehindert werden, jenseits der Landesgrenze einzukaufen. Das macht es verständlicher, warum sich die „Gipfel“ für weitgehend uniforme Regeln entschieden haben.
Kein „Flickenteppich“
Gewichtiger für die weitgehend bundeseinheitliche Vorgehensweise ist jedoch der starke Ruf der Bevölkerung – verstärkt durch die Politik auf verschiedenen Ebenen – nach einem einheitlichen Handeln. Die Corona-Krise zeigt: Wieder einmal haben die Deutschen kein Verständnis für unterschiedliche Ansätze je nach Bundesland. Schnell wird vor einem „Flickenteppich“ gewarnt. Es herrscht Unverständnis, dass ein Land eine andere Politik wählt als ein anderes, selbst wenn unterschiedliche Sachverhalte – also Infektionslagen – unterschiedliche Regelungen nahelegen – ja wegen der Verhältnismäßigkeit aus rechtlichen Gründen sogar eigentlich erzwingen würden. So kommt es zu nicht sachgerechten und juristisch angreifbaren Maßnahmen.
Das ist typisch für den deutschen Föderalismus. Er ist weniger von Unterschieden und Konkurrenz, sondern stärker von Kooperation und der Mitwirkung der Länder bei den Aufgaben des Bundes geprägt. Sein politisches Leitprinzip der gleichwertigen Lebensverhältnisse steht differenzierten Lösungen entgegen und auch einem Föderalismus, der seinen Namen verdiente.
Sehr geehrter Herr Dr. Kühne,
die Coronakrise hat es bis jetzt nicht vermocht, die Krise des Föderalismus aufzuhalten. Rechtliche Spielräume gäbe es, Sie weisen zurecht auf §§ 32, 28a Abs. 3 S. 2 IfSG hin. Immerhin hat der Bund von der Gesetzgebungskompetenz, die ihm außerhalb des Katastrophenfalls zusteht (Art. 72, 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) bislang zurückhaltend Gebrauch gemacht. Auch haben die Gerichte bei ihrer Kontrolle der Landesverordnungen nahezu durchgehend föderal- oder regionalspezifisch argumentiert. Nach meiner Beobachtung sind es jedoch die Medien, die von Beginn der Pandemie an die Kritik am “Flickenteppich” beförderten und dadurch systematisch Neid auf andere Länder schürten – je nach gesellschaftlicher oder individueller Stimmungslage auf effektiveren Infektionsschutz oder auf progressivere Öffnung. Wenn jetzt Coronamüdigkeit und Wahlkampf zusammentreffen, meinen die meisten Parteien – befördert durch Ergebnisse der Demoskopen – Punkte in der Wählergunst ausschließlich durch Vereinheitlichung erzielen zu können. So überschlagen sie sich mit Vorschlägen nach einheitlichen Kriterien, auch jenseits der Inzidenzen, und vor allem nach einheitlichen Stufenplänen. Dass es für den effektiven Schutz von Leben und Gesundheit wie Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems (§ 28a Abs. 1 S. 1) vor allem auf das geographische Umfeld des jeweiligen Landes, seine Siedlungsstruktur und Bevölkerungsdichte, das durchschnittliche Alter der Bevölkerung und seine Ausstattung mit Intensivbetten ankommt, dass hier also der Föderalismus seine historisch gewachsene Stärke ausspielen könnte, interessiert die wenigsten. Ihre Kritik an der intransparenten Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) ist berechtigt. Doch auch hier wird letztlich nur eine schleichende Aushöhlung des Bundesstaatsprinzips beschleunigt, die sich mit Blick auf die Kultusministerkonferenz (KMK) schon seit langem, wenn auch langsamer vollzieht. Was in zehn Jahren vom Bildungsföderalimus übrig sein wird, lässt sich nur erahnen. Nach der Coronakrise soll ja vieles anders werden. Ob der Föderalismus als politisches Prinzip überleben wird, entscheidet sich jetzt.