Das Brexit-Referendum: Sieg für die Demokratie?
Der Ruf nach mehr direkter Demokratie ist in den letzten Jahren auch in Deutschland immer lauter erklungen. Nach dem Brexit-Referendum sind diese Stimmen nun schlagartig leiser geworden. Hintergrund dieser Kritik bildet nicht zuletzt der vermeintlich „falsche“ Ausgang des Referendums – obwohl natürlich kein Referendum die Gewähr dafür bietet, dass sich die Mehrheit des Volkes auch für die „richtige“ Ansicht ausspricht. Richtige oder unrichtige, gute oder schlechte Entscheidungen kann es in einer Volksabstimmung von vornherein nicht geben. Ein Referendum kann und will nicht den Anspruch erheben, stets die vernünftigste Entscheidung herbeizuführen. Es bietet vielmehr eine Möglichkeit dazu, in politischer Gleichheit gemeinwohlrelevante Entscheidungen zu treffen. Über deren Qualität sagt das überhaupt nichts aus. Wer Mehrheitsentscheidungen will – und in einer Demokratie ist nichts anderes denkbar – muss auch knappe Mehrheiten akzeptieren. Auch die knappe Mehrheit ist größer als die unterlegene Minderheit. Also war das Referendum doch zumindest ein Sieg für die Demokratie? Im Ergebnis wohl nicht. Demokratietheoretisch darf die Kritik freilich nicht beim Ergebnis, sondern bei der Entscheidung für das Referendum ansetzen: War die Austrittsfrage eine für ein Referendum geeignete Frage, oder hätte diese dem Parlament vorbehalten sein müssen? Vieles spricht hier für Letzteres.
Demokratische Entscheidungen können prinzipiell auf zwei Wegen getroffen werden: entweder in direktdemokratischen Verfahren oder im Parlament im Wege der Repräsentation. Keines der beiden Verfahren ist dabei als das „demokratischere“ anzusehen. Der Umstand, dass in größeren Gemeinwesen die repräsentative Demokratie die notwendige Regel darstellt, geht also nicht mit einem Verlust an Demokratie einher. Direkte und indirekte Demokratie sind vielmehr spezifische Verfahren zur Bildung – nicht zur bloßen Ermittlung – des Volkswillens, bei denen die politische Gleichheit aller umfassend gewahrt werden kann. Jedes dieser Verfahren hat dabei Vor- und Nachteile: Während die direkte Demokratie tatsächlich eine Beteiligung des gesamten Volkes an der konkreten Entscheidung ermöglicht, leidet hier zwangsläufig die Diskurskultur. Anders als im Parlament ist nämlich weder eine umfassende Diskussion noch die Entwicklung einer diskursiven Kompromisslösung möglich. Wie schon Carl Schmitt zutreffend festgehalten hat, kann das Volk bei Abstimmungen eben nur auf eine vorformulierte Frage mit Ja oder Nein antworten. Was aber, wenn ein „Ja, aber“ besser wäre? Ein solchermaßen verdichteter Diskurs mit Kompromissfähigkeit ist nur im verkleinerten Parlament möglich, was allerdings zugleich bedeutet, dass an der eigentlichen Entscheidung nicht mehr der gesamte Demos beteiligt ist.
Von diesen Überlegungen ausgehend leuchtet schnell ein, warum die repräsentative Demokratie in größeren Gemeinwesen tatsächlich „alternativlos“ ist. Das bedeutet allerdings keineswegs, auf direktdemokratische Elemente vollständig verzichten zu müssen. Sinnvoll sind sie aber nur dort, wo sie ihre Stärken ausspielen und dadurch zugleich der vielfach festgestellten Politikverdrossenheit entgegenwirken können. Eine Volksbefragung sollte unter diesem Aspekt daher vornehmlich in Betracht gezogen werden, wenn die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sind.
Erstens muss es um eine Fragestellung gehen, die einer schlichten Ja-/Nein-Antwort überhaupt zugänglich ist. Hintergrund dieser Forderung bildet nicht eine vermeintliche Überforderung des Demos mit komplexeren Problemen, sondern der Umstand, dass die Erarbeitung von Kompromissen und Zwischenlösungen in Volksabstimmungen von vornherein ausgeschlossen ist. Wenn keine klare Ja-/Nein-Frage gestellt wird, kann diese in Volksbefragungen nicht sinnvoll beantwortet werden. Sie wird damit eher zur politischen Frustration, denn zu dessen Auflösung beitragen. Bei einer wirklichen Ja-/Nein-Frage ist zugleich sichergestellt, dass im Vorfeld eine angemessene öffentliche Debatte durchgeführt werden kann. Wo innerhalb dieser Debatte hingegen weitere Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden, die jedoch nicht zur Abstimmung stehen, wird dies die Akzeptanz der letztlich getroffenen Entscheidung erheblich erschweren.
Zweitens sollte die zugrunde liegende Thematik möglichst jeden Einzelnen in besonderer Weise individuell und vorhersehbar betreffen. Denn nur dann besteht auf Seiten der Wahlberechtigten ein gesteigertes individuelles Interesse daran, sich an der Abstimmung zu beteiligen und auf diesem Wege die eigenen Lebensumstände mitzugestalten. Zudem wird es für die tatsächlich Betroffenen immer schwerer das Ergebnis einer Volksabstimmung zu akzeptieren, je größer der Anteil derjenigen Wahlberechtigten ist, die von der Angelegenheit in keiner oder allenfalls marginaler Weise betroffen sind. Volksabstimmungen dürften sich in Deutschland daher auf Bundesebene nur selten anbieten und erweisen sich vor allem bei regionalen oder kommunalen Fragestellungen als sinnvoll (Stuttgart 21/Olympia-Bewerbung).
Schließlich und drittens sollte die Umsetzung des Ergebnisses der Volksabstimmung zügig und für den Einzelnen sichtbar erfolgen können. Dadurch erhöht sich das Vertrauen in die Steuerungskraft demokratischer Prozesse. Sofern die Umsetzung einer Volksabstimmung hingegen von zahlreichen weiteren politischen Entscheidungen und damit unsicheren Vollzugsakten abhängt, könnte sich die Politikverdrossenheit eher noch einmal steigern, wenn die Umsetzung des Ergebnisses der Volksabstimmung letztlich scheitert oder allzu lange verzögert wird.
War die Frage nach einem Austritt aus der EU nach diesen Kriterien eine sinnvolle Frage für ein Referendum? Wohl kaum. Zwar wird man nicht bestreiten können, dass ein möglicher Austritt weitreichende Auswirkungen auf praktisch die gesamte britische Bevölkerung haben wird. Schon diese Auswirkungen dürften aber in den unterschiedlichen Regionen überaus unterschiedlich ausfallen. Allerdings wird man eine solchermaßen unterschiedliche Betroffenheit bei einem landesweiten Referendum nie vollständig vermeiden können. Sie bleibt dadurch zwar fragwürdig, man wird diesem Umstand jedoch nicht vorrangig gegen das Referendum ins Feld führen können.
Als wirklich problematisch erweisen sich jedoch die beiden anderen Voraussetzungen. So wurde in dem Referendum zwar eine scheinbar eindeutige Ja-/Nein-Frage zur Abstimmung gestellt. Tatsächlich war aber von Anfang an klar, dass eine vollständige Lösung von der restlichen EU zu keinem Zeitpunkt wirklich zur Debatte stand. Die Angelegenheit war also tatsächlich sehr viel komplexer als die einfache Fragestellung implizierte – die aktuellen Debatten belegen diesen Umstand eindrücklich. Bei der Abstimmung fehlte damit ein wesentlicher Punkt, ohne den die Austrittsentscheidung unvollständig war: Wie soll das neue Verhältnis Großbritanniens zur EU ausgestaltet sein. Diese Frage stellte sich denn auch im unmittelbaren Anschluss an die Abstimmung – und wie zu erwarten war, bestand dazu auf Seiten der Brexit-Anhänger keine Übereinstimmung. Während einige von einer völligen Loslösung träumten, gingen andere vom schweizer oder norwegischen Modell aus oder hatten gänzlich andere Vorstellungen. Akzeptanzprobleme waren damit programmiert. Zusätzlich verschärft werden diese nun durch den Umstand, dass der Austritt eben nicht so einfach zu vollziehen sein wird, wie die gestellte Frage vorgibt. Es wird zahlreiche Verhandlungsrunden und Kompromisse auf allen Seiten geben müssen, die das vermeintlich „reine“ Austrittsbegehren des Volkes zunehmend verwässern. Was am Ende bleibt, weiß niemand. Sicher ist allerdings, dass das Referendum das Vertrauen in demokratische Entscheidungsprozesse nicht steigern wird. Das kann man allerdings nicht dem Referendumsverfahren als solchem anlasten. Man muss auch wissen, was man tut. Und damit sind nicht die vermeintlich ungebildeten Brexit-Anhänger gemeint, sondern die tatsächlich bemerkenswert blauäugigen Eliten Großbritanniens.
Schön und gut. Aber wäre es nicht auch so zu lesen: Das Volk hatte eine klare Ja/Nein-Entscheidung. Austritt oder nicht. Und – um die Begrenztheit der Gestaltungskraft der direkten Demokratie wissend – sagt das Volk: Wir wollen alle aus unterschiedlichen Gründen austreten und sind uns im Klaren, dass über die zukünftige Ausgestaltung keine Einigkeit erzielt werden kann. Diese Unsicherheit ist aber hinnehmbar, denn für die Ausgestaltung ist dann wieder die repräsentative Demokratie zuständig und das trauen wir dieser auch zu.
–
Zugegeben, das ist ein sehr idealisiertes Bild. Aber ganz klar ist es mir nicht, warum man nicht akzeptieren kann, dass unterschiedliche Lager unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft des Landes haben, aber offenbar allen der Austritt wichtiger war als ein Konsens über die Ausgestaltung der Zukunft. Wie demokratisch sollte also die Entscheidung darüber sein, was man der direkten Demokratie zutraut/vorwirft?
Eine ganz andere Frage ist natürlich diejenige nach der Lauterkeit des Wahlkampfs…
Die Rechtsgrundlagen des britischen Referendums (EU Referendum Act) sind eindeutig. Das House of Commons stimmte am 09.06.2015 mit überwältigender Mehrheit (544 dafür, 53 dagegen) für die Annahme des Gesetzes.
Die von der Electoral Comission gewählten und von der britischen Regierung akzeptierten Abstimmungsfragen waren klug gewählt, weil sie klar, verständlich und neutral waren.
Die Kritik von PD Dr. Thiele, es habe bei der Abstimmung der „Punkt gefehlt“, wie „das neue Verhältnis Großbritanniens zur EU ausgestaltet sein soll“, ist nicht nachvollziehbar.
Wie hätte der nun zwischen EU und Großbritannien folgende Ausgestaltungsprozess des EU-Austritts in eine klare, verständliche und neutrale Abstimmungsfrage gekleidet werden können?
Generell gilt, was Olof Palme, der 1986 ermordete schwedische Ministerpräsident, formuliert hat: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan. Politik ist zugänglich, ist beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“
Historisch betrachtet, sollte man in Deutschland vielleicht lieber etwas zurückhaltender damit sein, sich gegenüber Großbritannien etc. zu sehr als Schulmeister aufspielen zu wollen, wie Demokratieverständnis richtig zu sein haben muss.
@Camenzind: das ist neu, dauernd kommt jemand und bezichtigt einen hier der nationalen Schulmeisterei, nur weil man sich kritisch mit Vorgängen in anderen EU-Ländern auseinandersetzt. Wenn es so wäre, dass diese Art von Kritik als Besserwisserei von Leuten, die das Kritisierte überhaupt nichts angeht, abgetan werden könnte, dann hätten in der Tat die Kritisierten den Sieg davon getragen…
Kritik ist sicher Ok. Ebenso vielleicht kritische Anklänge bzgl. solcher Kritik. Dies selbst ohne Einmaligkeitswert.
“Briten” mag man einen gewissen Hang zur “Spleenigkeit, Selbstzerstörung o.ä.” nachsagen. Historisch können sie sich darin und in Ähnlichem, vom Demokratieverständnis gesehen, vielleicht weniger etwas vorzuwerfen haben. Dies etwa gegenüber gelegentlich eher vermeindlich rein vernünftig “obrige, gesetzliche Generalstabspläne” auf Gedeih und Verderb durchziehenden Deutschen. Vielleicht können Briten daher sogar ein wenig Sympathie verdient haben. Zumindest können ja Herzen manchmal ein wenig mit für “Verlierer” schlagen.
Erst einmal vielen Dank für die Kommentare.
@Claire
@Heinrich Niklaus
Selbstverständlich ist das Referendumsergebnis anzuerkennen. Und meine Kritik hat ausdrücklich auch nichts damit zu tun, dass das Volk durch eine solche Frage überfordert wäre – in einer Demokratie sind in politischer Hinsicht alle gleich frei und damit auch ebenso kompetent. Die Abgeordneten haben da selbstverständlich keinen Wissens- oder Kompetenzvorsprung.
Meine Kritik bezieht sich allein darauf, dass das Referendum mit seiner Fragestellung keinen Endentscheidungscharakter hatte. Jede Debatte muss einmal mit einer Entscheidung enden – entweder im Parlament oder durch ein Referendum und damit zugleich die Debatte in diesem Punkt beenden. Wo ein Referendum jedoch keine solche Beendigung herbeiführen kann, leidet notwendig die Akzeptanz der getroffenen Entscheidung, weil die Debatte trotz Referendum unverändert oder sogar noch heftiger als zuvor betrieben wird. Und so ist es auch hier: Mit der Austrittsentscheidung geht das Problem ja erst los. Und wie das Volk über diese eigentliche Frage denkt, wurde überhaupt nicht entschieden und wird daher (wohl) vom Parlament übernommen. Was am Ende steht, wusste also letztlich niemand, der sich am 23.6. für den Austritt entschieden hat. Ein solch “offenes” Referendum aber kann die Demokratieverdrossenheit noch einmal signifikant erhöhen, wenn das wirkliche Endergebnis dann ganz anders ausfällt, als bei einer Entscheidung für den Austritt suggeriert. Ein Beispiel für eine “gute” Referendumsfrage” war hingegen der Bürgerentscheid zur Olympiabewerbung in Hamburg. Dieses Referendum hatte Endentscheidungscharakter.
Mit einem Misstrauen gegenüber dem Volk haben meine Zweifel also wirklich nichts zu tun.
***off-topic, gelöscht, d.Red.***
***off-topic, gelöscht, d.Red.***
https://verfassungsblog.de/in-eigener-sache-unsere-kuenftige-kommentar-moderationspolicy/
“Bisher habe ich Kommentare erst gelöscht, wenn sie rassistisch, sexistisch oder beleidigend waren. Künftig werde ich deutlich eher einschreiten. Gelöscht werden insbesondere
– Off-Topic-Kommentare
– Quasi-off-Topic-Kommentare nach dem Motto „Apropos Unrechtsstaat in Ungarn, in Deutschland ist alles viel schlimmer…“”
Huch, was ist denn mit der Moderation hier los!!!
Die gelöschten Kommetare waren keinesfalls off-topic! Es waren scharfe Argumente, ja, aber on-topic halt. Keinerlei Grund die hier zu löschen.
Die gelöschten Kommentare verliefen nach dem Muster “Briten kritisieren, aber selber voll undemokratisch sein!”, was als Derailing-Strategie zerstörerisch auf die Debattenkultur wirkt und hier nicht geduldet wird (sofern ich es zeitlich schaffe, rechtzeitig einzuschreiten, bevor andere die Trolle zu füttern begonnen haben…)
Verstehe, was hier läuft:
– off-topic
– quasi off-topic
– passt mir nicht in den Kram
Danke, ich bin dann mal weg!
Vielen Dank für die interessante Analyse. Als Debattenanstoß hinsichtlich der ersten hier genannten Voraussetzung könnte man allerdings durchaus fragen, warum ein Referendum (offenbar allgemein vorausgesetz) eine Ja/Nein-Alternative vorgeben muss. Zugegebenermaßen abstrahiert diese Frage insoweit etwas vom Brexit, als dort Art. 50 Abs. 2 EUV wohl ein zweistufiges Verfahren der Verhandlung von Austritt und Assoziierung vorgibt, so dass die vorgelagerte Austrittsfrage tatsächlich als Ja/Nein-Frage zu stellen war.
Warum indes grundsätzlich keine differenzierteren Referendumsvorlagen, etwa mit 5 nuancierten Antwortmöglichkeiten, möglich sein sollen, erschließt sich nicht unmittelbar. Dem Mehrheitsbildungs-Einwand könnte durch eine Stichwahl Rechnung getragen werden.
Es sei hier dahingestellt, ob ein solches Verfahren praktisch erstrebenswert wäre (Abnutzung, Verdruss etc.). Dass jedoch “die Erarbeitung von Kompromissen und Zwischenlösungen in Volksabstimmungen von vornherein ausgeschlossen” sein soll, erscheint zumindest zweifelhaft.
@ Christian Cloppenburg
Interessanter Vorschlag, in der Tat. Dadurch würde zumindest eines gewisse Kompromissbildung möglich. Sie liefe aber immer noch sehr viel schlechter als im Parlament ab, wo ein durchgehender und vertiefter Diskurs möglich ist. Im Übrigen können auch bei Ihrem Vorschlag nur fertige Kompromissvorschläge zur Abstimmung gestellt werden. Was aber, wenn ich einen sechsten noch besser finde. Entsprechende Argumente kann ich dann nicht mehr vorstellen. Wie also kommen die einzelnen Kompromissvorschläge zustande, die zur Abstimmung gestellt werden? Wer darf diese einbringen und in welcher Form wird das Volk daran beteiligt. Insgesamt denke ich daher, dass komplexe Fragestellungen weiterhin besser vom parlament entschieden werden, da nur hier ein öffentlicher und transparanter Diskurs von Anfang an sichergestellt werden kann. Repräsentative Demokratie ist insofern ein gleichwertiges Volkswillenbildungsverfahren, das nicht undemokratischer ist, als direkt-demokratische Verfahren. Es hat bei komplexen Fragen Vorteile, weshalb es sich zu recht als demokratisches Regelverfahren durchgesetzt hat. Bei klaren Ja-/Nein Fragen spricht aber nichts gegen die Ergänzung durch direkt-demokratische Elemente aber nichts, wäre vielmehr zu begrüßen – sofern es sich wirklich um eine abschließende Ja-/Nein-Frage handelt.
Es kann noch nicht gewiss scheinen, warum Debatten Entscheidungen vorausgehen und mit der Entscheidung zum Abschluss kommen müssen. Debatten können eventuell gut noch nachfolgen. Warum nur solche Ja/Nein-Themen für Abstimmungen geeignet sein sollen, bei welchen die Diskussion mit der Abstimmung zum Ende kommen kann, kann noch etwas unklar scheinen. Nachträgliche Debatten können sogar teils zu gewissen, gegensätzliche Positionen berücksichtigenden Annäherungen bei der Durchsetzung von Abstimmunsgergebnissen führen. Inwieweit eine Debatte zum Ende kommt, kann doch noch mit von anderen Umständen abhängen, als allein von der Art und dem Zeitpunkt einer Abstimmung. Es kann noch nicht klar scheinen, warum Bevölkerungen keinesfalls über grundsätzliche Ausrichtungen bei gewichtigeren, komplexeren Themen mit abstimmen können sollen.
Grüss Gott,
wenn ich mich hier als Nicht-EU-Bürger einmischen darf, dann sage ich zunächst mal Folgendes:
Das Votum in Grossbritannien und ähnliche, vorangegangene Volksabstimmungen in der EU, waren für die Wähler Ausnahmen von der Regel. In der Regel gibt es bei euch parlamentarische Gesetzesbeschlüsse und Personenwahlen.
Es ist schon klar, dass so etwas gewöhnungsbedüftig ist, vor allem, wenn tatsächlich etwas entschieden wird und einem danach einfällt, dass man nicht abstimmen war.
Dagegen gibt es aber ein bei uns bewährtes Rezept: Mehr solcher Voten abhalten, damit die Leute spätestens beim zweiten oder dritten Mal ihre Teilnahme nicht mehr vergessen.
Dem Herrn Cloppenburg möchte ich eine Empfehlung meines alten Herrn Professors mitgeben: Lernen Sie einfach zu denken!
Betonung auf “einfach”.
Die Aussagekraft jeder Volksabstimmung lebt vom Ja oder Nein. Wenn Sie das als Mulitple Choice gestalten, wird es total intransparent.
Aber an Transparenz muss man sich halt erst mit der Zeit gewöhnen – oder? Ich meine wo Ihr herkommt, da sagen Politiker manchmal schon selsame Dinge. Der, der euch CETA und TTIP verpasst hat, hat glaube ich zum EU Lissabon Vertrag mal gesagt: Die Verfassung hat Klarheit zum Ziel gehabt, während der jetzige Vertrag unklar sein musste. Das ist ein Erfolg.
Ich erinnere mich an den, weil der 2011 bei der Bilderbergkonferenz bei uns ganz in der Nähe war.
Von dem anderen Schwergewicht fällt mir der Name gerade auch nicht ein, aber sein Spruch der bei mir im Gedächtnis geblieben ist, war:
Wenn’s kein grosses Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter.
Also, habt keine Angst vor Volksabstimmungen, auch bei uns gibt’s keine Todesstrafe.
Schönen abend wünscht
Murrhart Gfeller
Sehr geehrter Herr PD Dr. Thiele,
Sie bemängeln: „Was am Ende steht, wusste also letztlich niemand, der sich am 23.6. für den Austritt entschieden hat.“
Hätte man das denn vorher „wissen“ können?
Was sagt dazu der Vertrag von Lissabon im Artikel 50:
(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.
(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird…
Das bedeutet, dass erst nach der Absichtserklärung der britischen Regierung „Einzelheiten des Austritts“ und der „Rahmen für künftige Beziehungen“ verhandelt werden. „Was am Ende steht“, hätte man am 23.06.2016 doch gar nicht wissen können.
Dagegen konnte jeder wissen, dass Verhandlungen über Einzelheiten des Austritts und den Rahmen für künftige Beziehungen erst nach der Austrittserklärung der britischen Regierung erfolgen können.
@A.Thiele
Mir ist (wie offenbar auch anderen Kommentatoren) nicht ganz klar. warum die Debatte durch ein Referendum beendet werden können muss. Warum kann nicht das Referendum (mit einer Ja-Nein-Entscheidung) die Debatte in eine wesentliche Richtung lenken und die Ausgestaltungsfragen dann wieder dem Parlament zuweisen.
Letztlich finde ich eine solche Abschichtung von komplexen Entscheidungen recht reizvoll. Das Volk gibt die Richtung vor, das Parlament/die Regierung versucht in einem auf dieser Entscheidung aufbauenden Diskurs eine Lösung zu finden.
Jedenfalls: Danke für den Beitrag.
Vielen Dank für die Anmerkungen!
Mir geht es vor allem darum, dass ein Referendum nicht etwas vorgeben sollte, was es am Ende nicht halten kann. Es besteht die große Gefahr, dass Brexit-Befürworter sich am Ende frustriert von demokratischen Prozessen abwenden, weil ihre Austrittsentscheidung durch das abzuschließende Abkommen völlig verwässert wird, nach dem Motto: “Da wurden wir schon gefragt und dann kommt doch etwas ganz anderes” (nämlich ein Brexit-light, oder vielleicht sogar gar keine wesentliche Veränderung). Ich sage insofern nicht, dass diese Entscheidung per se undemokratisch war. Ich befürchte nur, dass sie der Demokratie keinen großen Gefallen tut, eben weil man in der Tat nicht wissen konnte, was der Austritt eigentlich bedeuten wird. Auch von dem Vorschlag, Referenden als “richtungsweisend” einzusetzen, bin ich insofern nicht überzeugt. Das liefe auf eine Mischung direkter und indirekter Demokratie hinaus, von der ich lieber absehen würde, um ähnlichen Akzeptanzproblemen aus dem Weg zu gehen. Richtungsweisend wird das Volk bei der Wahl seiner Repräsentanten tätig, die dann die notwendigen Diskurse führen und durch diesen offenen Meinungsaustausch, der die Positionen der Bevölkerung aufnimmt, die erforderliche Akzeptanz auch letztlich geschlossener Kompromisse herstellt.
Bei Referenden soll das Volk hingegen konkrete Fragen entscheiden, denen dann aber kein Diskurs folgen sollte (da dieser ja auch vom Volk nicht in der gleichen Weise geführt werden kann). Daher muss aber auch eine endgültige entscheidungsfähige Frage gestellt werden, die sich ohne Weiteres umsetzen lässt, damit das Volk auch das Gefühl hat, selbst entschieden zu haben. Auch in der Schweiz ist das aus meiner Sicht zu beachten, wenngleich die schweizerische Tradition hier selbstverständlich zu berücksichtigen ist. Dennoch gibt es auch hier zweifellos bessere und schlechtere Fragen für Referenden. Und beim Brexit würde ich daher dabei bleiben wollen, dass diese für ein Referendum nicht sonderlich geeignet war.
@Claire: Allgemein scheint mir das Problem bei einem solchen Referendum, das eine Debatte anstoßen soll, die Formulierung der Frage. Behandelt diese nämlich auch das Endergebnis, kann das dazu ermittelte Meinungsbild im Zuge der Debatte nicht so einfach aktualisiert werden. Ein Parlament kann etwas für eine gute Idee halten, eine Debatte führen und die Idee dann aufgeben oder modifizieren. Das ließe sich ja sogar als Zweck der Debatte beschreiben. Aber das geht nur, wenn Idee und Ergebnis durch dasselbe Verfahren zustande kommen. Ein späterer Parlamentsbeschluss ist eben kein actus contrarius zum Referendum.
Für den schlichten Auftrag zur Debatte schließlich braucht es kein Referendum. Dafür reicht jede Online-Petition. Berühmtes Beispiel: Die Petition für ein zweites Referendum, die nach dem ersten über 4 Mio. Unterschriften erreichte, wird am 5. September im Parlament debattiert werden.
Auch konkret beim Brexit hätte man die Frage dann zumindest bescheidener formulieren können. Ihrer Lesart (“… sind uns im Klaren, dass über die zukünftige Ausgestaltung keine Einigkeit erzielt werden kann”) wäre dann durch die Frage Ausdruck verliehen worden.
“Soll ein Antrag nach Art. 50 EUV gestellt werden?”, wäre eine eindeutige Variante gewesen. Sie hätte den Ausgang offengelassen, aber zur Einleitung des Verfahrens verpflichtet. Diese Einleitung ist ja auch der einzige Verfahrensschritt, den die britische Regierung unter ihrer alleinigen Kontrolle hat. Aus gutem Grunde werden völkerrechtliche Verträge NACH ihrer Aushandlung durch die Regierung (agent) dem Parlament (principal) vorgelegt.
Bei der gewählten Formulierung hingegen stellt sich durchaus die Frage, welchen Anspruch diese an das Endergebnis stellt. Wann bleibt das Vereinigte Königreich “Mitglied der Europäischen Union”? Gewiss, dass mag den auf eine formale Betrachtungsweise geschulten Juristen unter uns eindeutig vorkommen. Das ändert sich aber, wenn man sich die Argumente des Leave-Lagers anschaut.
Würde eine Norwegische Lösung dem genügen? Oder wäre ein solches Ergebnis angesichts der Sorge vor angeblicher europäischer Überregulierung ohne befriedigende demokratische Mitbestimmung nicht sogar ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung? Immerhin ist Norwegen an einen Großteil der europäischen Vorschriften gebunden, ohne an ihrer Entstehung beteiligt zu sein. Würden nicht zwangsläufig Stimmen laut, dass solch ein Ergebnis kein echter Austritt, sondern eine Mogelpackung sei? Muss oder kann sich ein britischer Unterhändler zu einem “Austritt im materiellen Sinn” verpflichtet fühlen?
Andersherum: Wäre eine absolute Loslösung vom gemeinsamen Markt ein zufriedenstellendes Ergebnis? Warum wurde es dann von vielen als Drohung empfunden, als Schäuble sein “raus heißt raus” sprach? Gerade diese Reaktion macht doch sehr deutlich, dass es eigentlich nicht um zwei klare Alternativen ging.
@Alexander Thiele
Es ging mir in der Tat nicht darum, die Überlegenheit der repräsentativen Entscheidungsfindung als Regelmechanismus in Frage zu stellen. Insoweit sind auch Ihre Voraussetzungen 2) und 3) für die ausnahmsweise Ergänzung durch Volksabstimmungen sehr gut nachvollziehbar. Die Argumente, die Sie gegen eine Mehralternativen-Abstimmung anführen (vertiefter Diskurs im Parlament, mangelnde Beteiligung an der Formulierung der Vorschläge), können aber grundsätzlich gegen jede direkt-demokratische Entscheidung ins Feld geführt werden. Im Ergebnis liefe es damit doch auf die Frage der Komplexität der Entscheidung hinaus. Diese wäre m.E. aber nicht mit der Beschränkung auf Ja/Nein gleichzusetzen. Aus dieser Perspektive könnte man sich daher ggf. mit Ihren Voraussetzungen 2) und 3) begnügen. Mein Beitrag sollte allerdings auch nur als Gedankenanstoß verstanden sein und ist noch nicht zu Ende gedacht. Vielen Dank für die interessanten Ausführungen.
Bei Pro-/-Contra-Entscheidungen muss eine Seite (in der Bevölkerung) zwangsläufig unterlegen übergangen frustriert sein. Das ebenso bei Entscheidungen durch Parlamente. Bei Entscheidungen durch Parlamente können Bürger nur indirekt durch Wahlen und Debattenteilnahme beteiligt sein. Sie können hierbei trotzdem genauso übergangen und frustriert sein.
Bei Beteiligung an Grundsatzfragen kann eine Bevölkerung dagegen wenigstens ein klein wenig mehr beteiligt sein. Deshalb kann hier ein Frustrationspotenzial nicht unbedingt viel größer scheinen, als bei Parlamentsentscheidungen.
Vielleicht sind sich ein gewisser Anteil von Brexit-Anhängern der eventuell beschränkten Realisierungsmöglichkeiten ihrer Abstimmungsentscheidung bewusst gewesen, oder würden dies sogar begrüßen. Das Argument möglicher Demokratiefrustration kann eher nur als kaum näher belegte Vermutung scheinen. Dem Anschein nach scheinen momentan Frustrationen auf Seiten überstimmter Brexit-Gegner größer, als bei Brexitbefürwortern wegen vielleicht beschränkter Brexit-Möglichkeiten. Eine entsprechende Bevölkerungsbeteiligung an Grundsatzentscheidungen kann eben die Möglichkeit belassen, überstimmte, frustrierte Abstimmende wieder ein Stück weit zurück mit ins Boot zu nehmen, wie etwa durch relative kompromisshafte Annäherung an solche Positionen. Das Maß möglicher Frustrationen auf Seiten von Abstimmungsgewinnern über beschränkte Realisierungsmöglichkeiten eines Abstimmungsergebnisses kann durch mögliche Frustrationsminderung auf Seiten von Überstimmten teils wieder ausgleichbar sein. Im Übrigen kann dies alles eher spekulativ scheinen.
Nochmals Grüss Gott,
also was die Frage der Frustration anbelangt, wäre ich am meisten frustriert, wenn weder Parlament noch Volk befragt wird und eine Person entscheidet.
Der treffendere Ausdruck ist dann aber Autokratiefrust nicht etwas Demokratiefrust. Denn die Demokratie ist in diesem Fall bereits ausgesetzt.
Ist mir erst jetzt aufgefallen:
Seid Ihr Euch in Euren Argumenten so unsicher, dass bei Euch der Widerspruch gelöscht werden muss?
Es war übrigens ein deutsche Jurist (von Holtzendorf) der mal folgendes gesagt hat:
Jede Meinung hat einen Anspruch, entweder mit Schweigen aufgenommen zu werden oder wirksam widerlegt zu werden.
Beides fällt Euch schwer. Warum?
Schönen Tag für Euch
Murrhart Gfeller
Der Artikel stützt sich auf die Annahme, das im Parlament eine umfassende Diskussion und die Entwicklung einer diskursiven Kompromisslösung möglich ist.
Und das ist auch schon der große Schwachpunkt des Artikels. Man brauch sich doch nur mal eine Debatte im Fernsehen anschauen. Letztens, bei der Debatte des BKA-Gesetzes hat die Opposition sogar demonstrativ den Saal verlassen, weil Debatten im Bundestag nur noch unwürdige Shows sind. Viele Redebeiträgen werden sogar nur noch zu Protokoll gegeben.
Richtig ist, dass die Volkssouveränität sic entweder im Parlamentsmehrheitswillen oder durch Referendum äußern kann. Richtig ist auch, dass der Parlamentswille der Normalfall sein muss. Bei grundlegenden Fragen – und die Teilnahme an der EU oder nicht ist das zweifellos – kann das Parlament aber selbstverständlich dem Volk durch Volksabstimmung seinen Willen zurückgeben. Die Frage kann nur einfach sein und jede Volksabstimmung setzt die Kompetenz des Bürgers schon voraus. Hätte man etwa fragen sollen: “Wollen Sie, dass GB im Binnenmarkt bleibt, auch wenn damit die Binnenfreizügigkeit verbunden ist?” Das ist ja nur Teil der Debatte. Es geht ja auch um Sozial- und Umweltstandards, die Kompetenz des EUGH etc. etc. Wesentlich problematischer ist doch, dass Cameron das GAnze nur zur Beruhigung des euroskeptischen Parteiflügels gemacht hat. Parteipolitik dominiert hier Verantwortungsethik. Aber im Parteienstaat wohl hinzunehmen. Eine “immer engere Union” ohne (national-)demokratische Rückbindung ist eben legitimatorisch per se problematisch.
Richtig ist, dass die Volkssouveränität sic entweder im Parlamentsmehrheitswillen oder durch Referendum äußern kann. Richtig ist auch, dass der Parlamentswille der Normalfall sein muss. Bei grundlegenden Fragen – und die Teilnahme an der EU oder nicht ist das zweifellos – kann das Parlament aber selbstverständlich dem Volk durch Volksabstimmung seinen Willen zurückgeben. Die Frage kann nur einfach sein und jede Volksabstimmung setzt die Kompetenz des Bürgers schon voraus. Hätte man etwa fragen sollen: “Wollen Sie, dass GB im Binnenmarkt bleibt, auch wenn damit die Binnenfreizügigkeit verbunden ist?” Das ist ja nur Teil der Debatte. Es geht ja auch um Sozial- und Umweltstandards, die Kompetenz des EUGH etc. etc. Wesentlich problematischer ist doch, dass Cameron das GAnze nur zur Beruhigung des euroskeptischen Parteiflügels gemacht hat. Parteipolitik dominiert hier Verantwortungsethik. Aber im Parteienstaat wohl hinzunehmen. Eine “immer engere Union” ohne (national-)demokratische Rückbindung ist eben legitimatorisch per se problematisch.
31.01.2020 ein geschichtsträchtiger Tag!
Frau Dr. Von Storch kann auch philosophisch… Und obwohl Rechtsanwältin, trotzdem verständlich, offen, klar und deutlich:
https://jungefreiheit.de/debatte/kommentar/2020/triumph-der-demokratie
.