11 July 2016

Das Brexit-Referendum: Sieg für die Demokratie?

Der Ruf nach mehr direkter Demokratie ist in den letzten Jahren auch in Deutschland immer lauter erklungen. Nach dem Brexit-Referendum sind diese Stimmen nun schlagartig leiser geworden. Hintergrund dieser Kritik bildet nicht zuletzt der vermeintlich „falsche“ Ausgang des Referendums – obwohl natürlich kein Referendum die Gewähr dafür bietet, dass sich die Mehrheit des Volkes auch für die „richtige“ Ansicht ausspricht. Richtige oder unrichtige, gute oder schlechte Entscheidungen kann es in einer Volksabstimmung von vornherein nicht geben. Ein Referendum kann und will nicht den Anspruch erheben, stets die vernünftigste Entscheidung herbeizuführen. Es bietet vielmehr eine Möglichkeit dazu, in politischer Gleichheit gemeinwohlrelevante Entscheidungen zu treffen. Über deren Qualität sagt das überhaupt nichts aus. Wer Mehrheitsentscheidungen will – und in einer Demokratie ist nichts anderes denkbar – muss auch knappe Mehrheiten akzeptieren. Auch die knappe Mehrheit ist größer als die unterlegene Minderheit. Also war das Referendum doch zumindest ein Sieg für die Demokratie? Im Ergebnis wohl nicht. Demokratietheoretisch darf die Kritik freilich nicht beim Ergebnis, sondern bei der Entscheidung für das Referendum ansetzen: War die Austrittsfrage eine für ein Referendum geeignete Frage, oder hätte diese dem Parlament vorbehalten sein müssen? Vieles spricht hier für Letzteres.

Demokratische Entscheidungen können prinzipiell auf zwei Wegen getroffen werden: entweder in direktdemokratischen Verfahren oder im Parlament im Wege der Repräsentation. Keines der beiden Verfahren ist dabei als das „demokratischere“ anzusehen. Der Umstand, dass in größeren Gemeinwesen die repräsentative Demokratie die notwendige Regel darstellt, geht also nicht mit einem Verlust an Demokratie einher. Direkte und indirekte Demokratie sind vielmehr spezifische Verfahren zur Bildung – nicht zur bloßen Ermittlung – des Volkswillens, bei denen die politische Gleichheit aller umfassend gewahrt werden kann. Jedes dieser Verfahren hat dabei Vor- und Nachteile: Während die direkte Demokratie tatsächlich eine Beteiligung des gesamten Volkes an der konkreten Entscheidung ermöglicht, leidet hier zwangsläufig die Diskurskultur. Anders als im Parlament ist nämlich weder eine umfassende Diskussion noch die Entwicklung einer diskursiven Kompromisslösung möglich. Wie schon Carl Schmitt zutreffend festgehalten hat, kann das Volk bei Abstimmungen eben nur auf eine vorformulierte Frage mit Ja oder Nein antworten. Was aber, wenn ein „Ja, aber“ besser wäre? Ein solchermaßen verdichteter Diskurs mit Kompromissfähigkeit ist nur im verkleinerten Parlament möglich, was allerdings zugleich bedeutet, dass an der eigentlichen Entscheidung nicht mehr der gesamte Demos beteiligt ist.

Von diesen Überlegungen ausgehend leuchtet schnell ein, warum die repräsentative Demokratie in größeren Gemeinwesen tatsächlich „alternativlos“ ist. Das bedeutet allerdings keineswegs, auf direktdemokratische Elemente vollständig verzichten zu müssen. Sinnvoll sind sie aber nur dort, wo sie ihre Stärken ausspielen und dadurch zugleich der vielfach festgestellten Politikverdrossenheit entgegenwirken können. Eine Volksbefragung sollte unter diesem Aspekt daher vornehmlich in Betracht gezogen werden, wenn die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sind.

Erstens muss es um eine Fragestellung gehen, die einer schlichten Ja-/Nein-Antwort überhaupt zugänglich ist. Hintergrund dieser Forderung bildet nicht eine vermeintliche Überforderung des Demos mit komplexeren Problemen, sondern der Umstand, dass die Erarbeitung von Kompromissen und Zwischenlösungen in Volksabstimmungen von vornherein ausgeschlossen ist. Wenn keine klare Ja-/Nein-Frage gestellt wird, kann diese in Volksbefragungen nicht sinnvoll beantwortet werden. Sie wird damit eher zur politischen Frustration, denn zu dessen Auflösung beitragen. Bei einer wirklichen Ja-/Nein-Frage ist zugleich sichergestellt, dass im Vorfeld eine angemessene öffentliche Debatte durchgeführt werden kann. Wo innerhalb dieser Debatte hingegen weitere Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden, die jedoch nicht zur Abstimmung stehen, wird dies die Akzeptanz der letztlich getroffenen Entscheidung erheblich erschweren.

Zweitens sollte die zugrunde liegende Thematik möglichst jeden Einzelnen in besonderer Weise individuell und vorhersehbar betreffen. Denn nur dann besteht auf Seiten der Wahlberechtigten ein gesteigertes individuelles Interesse daran, sich an der Abstimmung zu beteiligen und auf diesem Wege die eigenen Lebensumstände mitzugestalten. Zudem wird es für die tatsächlich Betroffenen immer schwerer das Ergebnis einer Volksabstimmung zu akzeptieren, je größer der Anteil derjenigen Wahlberechtigten ist, die von der Angelegenheit in keiner oder allenfalls marginaler Weise betroffen sind. Volksabstimmungen dürften sich in Deutschland daher auf Bundesebene nur selten anbieten und erweisen sich vor allem bei regionalen oder kommunalen Fragestellungen als sinnvoll (Stuttgart 21/Olympia-Bewerbung).

Schließlich und drittens sollte die Umsetzung des Ergebnisses der Volksabstimmung zügig und für den Einzelnen sichtbar erfolgen können. Dadurch erhöht sich das Vertrauen in die Steuerungskraft demokratischer Prozesse. Sofern die Umsetzung einer Volksabstimmung hingegen von zahlreichen weiteren politischen Entscheidungen und damit unsicheren Vollzugsakten abhängt, könnte sich die Politikverdrossenheit eher noch einmal steigern, wenn die Umsetzung des Ergebnisses der Volksabstimmung letztlich scheitert oder allzu lange verzögert wird.

War die Frage nach einem Austritt aus der EU nach diesen Kriterien eine sinnvolle Frage für ein Referendum? Wohl kaum. Zwar wird man nicht bestreiten können, dass ein möglicher Austritt weitreichende Auswirkungen auf praktisch die gesamte britische Bevölkerung haben wird. Schon diese Auswirkungen dürften aber in den unterschiedlichen Regionen überaus unterschiedlich ausfallen. Allerdings wird man eine solchermaßen unterschiedliche Betroffenheit bei einem landesweiten Referendum nie vollständig vermeiden können. Sie bleibt dadurch zwar fragwürdig, man wird diesem Umstand jedoch nicht vorrangig gegen das Referendum ins Feld führen können.

Als wirklich problematisch erweisen sich jedoch die beiden anderen Voraussetzungen. So wurde in dem Referendum zwar eine scheinbar eindeutige Ja-/Nein-Frage zur Abstimmung gestellt. Tatsächlich war aber von Anfang an klar, dass eine vollständige Lösung von der restlichen EU zu keinem Zeitpunkt wirklich zur Debatte stand. Die Angelegenheit war also tatsächlich sehr viel komplexer als die einfache Fragestellung implizierte – die aktuellen Debatten belegen diesen Umstand eindrücklich. Bei der Abstimmung fehlte damit ein wesentlicher Punkt, ohne den die Austrittsentscheidung unvollständig war: Wie soll das neue Verhältnis Großbritanniens zur EU ausgestaltet sein. Diese Frage stellte sich denn auch im unmittelbaren Anschluss an die Abstimmung – und wie zu erwarten war, bestand dazu auf Seiten der Brexit-Anhänger keine Übereinstimmung. Während einige von einer völligen Loslösung träumten, gingen andere vom schweizer oder norwegischen Modell aus oder hatten gänzlich andere Vorstellungen. Akzeptanzprobleme waren damit programmiert. Zusätzlich verschärft werden diese nun durch den Umstand, dass der Austritt eben nicht so einfach zu vollziehen sein wird, wie die gestellte Frage vorgibt. Es wird zahlreiche Verhandlungsrunden und Kompromisse auf allen Seiten geben müssen, die das vermeintlich „reine“ Austrittsbegehren des Volkes zunehmend verwässern. Was am Ende bleibt, weiß niemand. Sicher ist allerdings, dass das Referendum das Vertrauen in demokratische Entscheidungsprozesse nicht steigern wird. Das kann man allerdings nicht dem Referendumsverfahren als solchem anlasten. Man muss auch wissen, was man tut. Und damit sind nicht die vermeintlich ungebildeten Brexit-Anhänger gemeint, sondern die tatsächlich bemerkenswert blauäugigen Eliten Großbritanniens.

 


SUGGESTED CITATION  Thiele, Alexander: Das Brexit-Referendum: Sieg für die Demokratie?, VerfBlog, 2016/7/11, https://verfassungsblog.de/das-brexit-referendum-sieg-fuer-die-demokratie/, DOI: 10.17176/20160711-180422.

27 Comments

  1. Claire Mon 11 Jul 2016 at 15:04 - Reply

    Schön und gut. Aber wäre es nicht auch so zu lesen: Das Volk hatte eine klare Ja/Nein-Entscheidung. Austritt oder nicht. Und – um die Begrenztheit der Gestaltungskraft der direkten Demokratie wissend – sagt das Volk: Wir wollen alle aus unterschiedlichen Gründen austreten und sind uns im Klaren, dass über die zukünftige Ausgestaltung keine Einigkeit erzielt werden kann. Diese Unsicherheit ist aber hinnehmbar, denn für die Ausgestaltung ist dann wieder die repräsentative Demokratie zuständig und das trauen wir dieser auch zu.

    Zugegeben, das ist ein sehr idealisiertes Bild. Aber ganz klar ist es mir nicht, warum man nicht akzeptieren kann, dass unterschiedliche Lager unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft des Landes haben, aber offenbar allen der Austritt wichtiger war als ein Konsens über die Ausgestaltung der Zukunft. Wie demokratisch sollte also die Entscheidung darüber sein, was man der direkten Demokratie zutraut/vorwirft?
    Eine ganz andere Frage ist natürlich diejenige nach der Lauterkeit des Wahlkampfs…

  2. Heinrich Niklaus Mon 11 Jul 2016 at 19:32 - Reply

    Die Rechtsgrundlagen des britischen Referendums (EU Referendum Act) sind eindeutig. Das House of Commons stimmte am 09.06.2015 mit überwältigender Mehrheit (544 dafür, 53 dagegen) für die Annahme des Gesetzes.

    Die von der Electoral Comission gewählten und von der britischen Regierung akzeptierten Abstimmungsfragen waren klug gewählt, weil sie klar, verständlich und neutral waren.

    Die Kritik von PD Dr. Thiele, es habe bei der Abstimmung der „Punkt gefehlt“, wie „das neue Verhältnis Großbritanniens zur EU ausgestaltet sein soll“, ist nicht nachvollziehbar.

    Wie hätte der nun zwischen EU und Großbritannien folgende Ausgestaltungsprozess des EU-Austritts in eine klare, verständliche und neutrale Abstimmungsfrage gekleidet werden können?

    Generell gilt, was Olof Palme, der 1986 ermordete schwedische Ministerpräsident, formuliert hat: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan. Politik ist zugänglich, ist beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“

  3. Peter Camenzind Mon 11 Jul 2016 at 21:35 - Reply

    Historisch betrachtet, sollte man in Deutschland vielleicht lieber etwas zurückhaltender damit sein, sich gegenüber Großbritannien etc. zu sehr als Schulmeister aufspielen zu wollen, wie Demokratieverständnis richtig zu sein haben muss.

  4. Maximilian Steinbeis Mon 11 Jul 2016 at 23:22 - Reply

    @Camenzind: das ist neu, dauernd kommt jemand und bezichtigt einen hier der nationalen Schulmeisterei, nur weil man sich kritisch mit Vorgängen in anderen EU-Ländern auseinandersetzt. Wenn es so wäre, dass diese Art von Kritik als Besserwisserei von Leuten, die das Kritisierte überhaupt nichts angeht, abgetan werden könnte, dann hätten in der Tat die Kritisierten den Sieg davon getragen…

  5. Peter Camenzind Mon 11 Jul 2016 at 23:50 - Reply

    Kritik ist sicher Ok. Ebenso vielleicht kritische Anklänge bzgl. solcher Kritik. Dies selbst ohne Einmaligkeitswert.
    “Briten” mag man einen gewissen Hang zur “Spleenigkeit, Selbstzerstörung o.ä.” nachsagen. Historisch können sie sich darin und in Ähnlichem, vom Demokratieverständnis gesehen, vielleicht weniger etwas vorzuwerfen haben. Dies etwa gegenüber gelegentlich eher vermeindlich rein vernünftig “obrige, gesetzliche Generalstabspläne” auf Gedeih und Verderb durchziehenden Deutschen. Vielleicht können Briten daher sogar ein wenig Sympathie verdient haben. Zumindest können ja Herzen manchmal ein wenig mit für “Verlierer” schlagen.

  6. Alexander Thiele