Das Ende des Hufeisens
Es ist viel zu früh, um die Ereignisse in diesem Thüringer und deutschen Winter abschließend zu bewerten. Nicht zu früh ist es dafür, einige falsche Gewissheiten endgültig zu verabschieden. Die erste ist parteipolitischer Art, die zweite demokratie- und staatspolitischer Natur. Jedenfalls die zweite hat weitreichende juristische Implikationen.
Parteipolitisch: „Man lernt die Leute kennen und wozu sie fähig sind“, wie es unnachahmlich lakonisch Dietmar Dath in der FAZ ausdrückt. Genug Beobachter*innen haben nun festgehalten, dass CDU und FDP ihre vermeintliche „Unschuld“ verloren haben, „gefährlich“ geworden sind (DIE ZEIT), sich „an der Republik vergangen“ haben (SZ). Alles nicht falsch. Ebenso richtig ist, dass sich – etwas ironisch – vor allem Rechte in der CDU in den Startlöchern sehen, Frau Kramp-Karrenbauer abzulösen, dass die FDP vielleicht endgültig bedeutungslos wird, dass Faschisten die CDU aus der Führungsposition im rechten Lager in Ostdeutschland verdrängen könnten. Das ist alles politisch weitreichend genug, aber juristisch weniger interessant. Die demokratische Verlässlichkeit von CDU und FDP steht fürderhin infrage, worüber sich niemand freuen kann, der an die Möglichkeit eines anständigen Konservatismus glaubt, der Fortschritt nur in verträglichen Dosen verabreichen will, aber gerade nicht zurück in schlechtere vergangene Zeiten strebt.
Ganz anders sieht es mit der juristischen Relevanz der demokratie- und staatspolitischen Einordnung aus. „Staatspolitisch“ traut man sich zwar kaum noch niederzuschreiben, weil die Neurechten den Ausdruck so gern verwenden; doch kann es sich um einen ganz präzisen, wenig verzichtbaren Begriff handeln – es geht um die politischen Grundlagen des Staates als spezifischer demokratischer Form (im Gegensatz etwa zur demokratischen Räterepublik oder anderen demokratischen „freien Assoziationen“ gleicher freier Wesen). Diese Grundlagen des demokratischen Staates als verfassungsgegründeter Organisation stehen auf dem Spiel, und das in einer Weise, die vielleicht überrascht, weil sie sich am besten dialektisch erklären lässt.
Die Geschichte muss mit Hans-Georg Maaßen (CDU) beginnen; der frühere Verfassungsschutzchef ließ sich dieser Tage derart zu Thüringen ein: „Hauptsache, die Sozialisten sind nicht mehr an der Regierung!“ (These!) Gemeinsam mit großen Teilen der CDU, etwa dem Berliner oder Brandenburger Landesverband, äußerte er sich ausnehmend wohlwollend gegenüber dem neuen Ministerpräsidenten und dem Coup der AfD. Überraschend ist daran weniger das Aufzucken eines eingeübten Antisozialismus, sondern die Bereitschaft, dieser oft gedankenlosen Obsession auf geschichtspolitischer Grundlage mit rechtsradikalem Beistand zu frönen.
Damit verbunden ist die Frage, wie Maaßen zu seiner zugrunde liegenden Einschätzung kommt, die linke Gefahr sei größer als die rechte. Alle Statistiken und Indizien sprechen ja dagegen. Dem massenhaft mörderischen Faschismus setzen Linke bisher keine Attentate entgegen. Es muss Maaßen daher um eine tieferliegende Angst vor weiteren Fortschritten gleicher Freiheit gehen – also eigentlich vor (linker, aber auch wohlverstanden konservativer) demokratischer Politik.
Maaßen scheint daher mit manchen (beileibe nicht allen!) Teilen von CDU und FDP einen Staat als Form verteidigen zu wollen, der keinen demokratischen Inhalt mehr hat. Darin weiß er sich mit der AfD einig. Deren Staat ist eine etatistische Hülle, die von jedem Bezug auf Menschenrechte als Verfassungsraison gelöst ist. Hochgehalten wird eine solche Persiflage von dem Deutschland, das in der verweigerten Grenzschließung 2015 einen „Rechtsbruch“ sieht, den es nicht gab; das gleichzeitig bereit ist, den Schießbefehl an den Grenzen zu erteilen; das damit die Staatlichkeit vor die menschenrechtlich fundierte demokratische Selbstbestimmung stellt. Theodor W. Adorno hat in seinem Vortrag „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ ein derartiges taktisch-formalistisches Verhältnis zum Recht als eine Eigenheit rechtsradikaler Politik entlarvt.
Ironischerweise schlägt der gescheiterte Thüringer Coup der Maaßen und Konsorten auf deren Legitimationsideologie zurück. Im Moment der Gefährdung, in der sich der Anführer einer Splitterpartei zum Ministerpräsidenten wählen lässt, spürt das Volk, dass seine Demokratie auf dem Spiel steht, und geht massenweise auf die Straße. Wie zitiert Dietmar Dath (s. o.) doch einen Politologen? „Demokratie wird nicht im Parlament verteidigt.“ Die Demokrat*innen vor den Parteizentralen und der Erfurter Staatskanzlei, von Jena bis Hamburg, haben den Druck maßgeblich erhöht, es in der Demokratie nicht beim Staatsschutz bewenden zu lassen. Es ging ihnen um die demokratische Substanz des Gleichheitsrechts, die den Respekt für demokratische (!) Mehrheiten einschließt (Antithese!).
Was bedeutet das für die „bürgerlich“ getarnten Rechten? Sie verlieren den letzten Rest ihrer Legitimationsideologie. Das Bundesverfassungsgericht hatten sie schon gegen sich – ironischerweise seit dem letzten gescheiterten NPD-Verbotsverfahren. Denn das Verdikt der Verfassungsfeindlichkeit (nicht: Verfassungswidrigkeit) der NPD stützten die Richter*innen maßgeblich auf deren Verachtung der Menschenwürde, die sich zuvörderst in einem ethnischen Volksbegriff und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit niederschlägt. Ähnliches trifft aber auch auf die Höcke-AfD zu, in der laut BfV-Gutachten (nicht nur im „Flügel“) Rassismus und Antisemitismus grassieren.
Nunmehr sind es auch die demokratische und nicht zuletzt die Parteien-Öffentlichkeit als deren staatsmachttragender Bestandteil, die sich von der noch mühsam weitergeschleppten Ideologie von der symmetrischen Gefahr von links und von rechts endgültig verabschieden – das war die große falsche staatspolitische Gewissheit der Bundesrepublik.
Wenn es im Staat als Organisationsform um dessen menschenrechtlichen, notwendig gleichheitlichen Inhalt geht, kann das auch das einzige gültige Kriterium dafür sein, wer in diesem Staat in Machtpositionen mitspielen soll. Das Tabu, mit Höckes AfD zusammenzuarbeiten, wurde gerade eindrucksvoll bestätigt – durch Volkszorn und dann auch durch Intervention der Kanzlerin und anderer maßgeblicher Akteur*innen.
Ganz anders steht es um die Partei DIE LINKE. Sie ist von nun an, sicher entgegen Maaßens Absicht, ein unhinterfragter Bestandteil des deutschen „Verfassungsbogens“ – ob sie nun sozialistisch oder linkssozialdemokratisch, antikapitalistisch oder wie auch immer tickt. Die Öffentlichkeit hat sich konsequenterweise mit dieser gleichfreiheitlich orientierten Vereinigung solidarisch gezeigt, wie (wenig) sympathisch sie den einzelnen Bürger*innen dabei auch sein mag.
Darin kommt die Abkehr der deutschen Gesellschaft vom imaginierten „Hufeisen“-Modell der gefährlichen linken und rechten „Extremismen“ zum Ausdruck (Synthese!). Diese schon lange wissenschaftlich diskreditierte politische Legitimationsideologie – über die Verfassungsschutzbehörden ein essentieller Bestandteil der „Verfassungswirklichkeit“ – ist endgültig an ihre verfassungspolitischen Grenzen gestoßen; ihre Akzeptanz ist dahin, nicht zuletzt weil ihre letzten maßgebenden Träger CDU und FDP sich in der Causa Thüringen in dieser Hinsicht durch ihre Präferenz für rechten Extremismus unglaubwürdig gemacht haben. Die „Extremismustheorie“ ist gleichsam performativ widerlegt. An ihre Stelle tritt überfälligerweise die Normativität der Verfassung selbst.
Diese Abkehr erfolgt auf der linken Seite eher emphatisch, auf der rechten in einer quälenden Selbstbefragung, die weiterhin von Machttaktik überlagert wird. Auf kurz oder lang wird sich die staatliche Bürokratie einschließlich der Verfassungsschutzbehörden in Orientierung am Bundesverfassungsgericht dieser Logik des Grundgesetzes nicht verschließen können. Die gleiche Freiheit als Leitstern, juristisch symbolisiert in der Menschenwürdenorm mit ihrem radikalen Universalismus und ihrer unantastbaren Autonomiegarantie, kann nur zu der Forderung der radikalen politischen Ungleichbehandlung der Linken und der Rechtsradikalen/Faschisten führen. Dies selbstverständlich bei gleichmäßiger Anwendung allgemeiner Gesetze (etwa bezogen auf das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit des Staates). Wenn die deutsche Staatsraison identisch mit ihrer Verfassungsraison ist, also auf die Menschenwürde verpflichtet, ist es juristisch mindestens nahegelegt, Rechtsradikale von der auch indirekten Beteiligung an staatlicher Macht fernzuhalten. Das Volk hat alles Recht, seine Politiker*innen daran zu erinnern.
Wenn es darum geht, “das Volk” für seine Zwecke zu instrumentalisieren, sind sich Linke und Rechte ja sehr ähnlich.
Das Tabu, mit Höcke’s AfD zusammenzuarbeiten, wurde scheinbar durch den “Volkszorn” eindrucksvoll bestätigt. “Die Öffentlichkeit” habe sich konsequenterweise mit der Partei DIE LINKE solidarisch gezeigt. Im Moment der Gefährdung spüre “das Volk”, dass seine Demokratie auf dem Spiel stehe, und gehe “massenweise” auf die Straße („Demokratie wird nicht im Parlament verteidigt.“).
Natürlich handelt es sich dabei immer nur um eine kleine Minderheit des Volkes. Wie das Volk über eine Zusammenarbeit mit der AfD wirklich denkt, wird sich bei den nächsten Wahlen zeigen.
Ich wage zu behaupten, die AfD wird sich längerfristig in der deutschen Politik genauso etablieren wie rechts-populistische Parteien anderswo in Europa.
Sie haben völlig Recht, dass wir nicht damit rechnen können, dass die AfD verschwindet. Darum geht es auch nicht. Es geht um das Tabu, ihr Macht zu geben, wie einst in den 1930ern bei der NSDAP. Dieses Tabu hat gute Gründe, die mit der Verfassung zusammen hängen. Demokratie ist ja keine rein plebiszitäre Angelegenheit. Unter anderem darum geht es im Beitrag oben.
Die Macht hat die AfD aber sowieso. Es geht bloß drum, sie negativ umzuleiten. Insofern undemokratisch, sie unter solchen Umständen nicht zu verbieten.
Tim, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus! Die Macht erhält die AfD, wie auch die anderen Parteien, durch Stimmabgabe der Wähler.
Wenn sie davon sprechen, “ihr Macht zu geben”, von wem sprechen Sie da? Wer verteilt in einer Demokratie die Macht? Diese Frage sollten Sie sich beantworten, dann kommen Sie auch nicht auf Absurditäten wie Ihre Tabu-Brüche.
Meinen Sie das Ernst?
Staatsrechtlich gesehen wurde in Thüringen in geheimer Wahl vom Landtag im dritten Wahlgang ordnungsgemäß ein Ministerpräsident gewählt. Punkt. Faktisch ist es seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland üblich, dass sich ein Ministerpräsident oder eine Bundeskanzlerin nur dann vom jeweiligen Land- oder Bundestag ins Amt wählen lässt, wenn er oder sie eine gesicherte Mehrheit hinter sich hat. In der Regel nach erfolgreich abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen, wählen die Abgeordneten der koalierenden Parteien den Regierungschef*in ins Amt. Bei Minderheitsregierungungen, die es auf Bundesebene in Deutschland seit 1949 noch nie gab, (ausser beim Bruch einer Regierungskoalition, wo, wie z.B 1982 die SPD für sehr kurze Zeit alleine weiterregierte bis zum konstruktiven Misstrauensvotum im Oktober), wusste der gewählte Ministerpräsident, von wem er unterstützt/toleriert wurde. (z.B. Sachsen-Anhalt 1994 und 1998) Es bestand also immer eine mehr oder weniger solide Basis im jeweiligen Landtag zur Verfügung. Ohne jegliche vernünftige parlamentarische Basis wurde zu Beginn einer Legislaturperiode noch nie ein Ministerpräsident ins Amt gewählt, da ja klar war, ohne parlamentarische Basis kann keine volle Legislaturperiode gestartet werden, denn wie sollen unter solchen Umständen ordentliche Finanzhaushalte verabschiedet werden im laufe der kommenden vier/fünf Jahre, so lange ja bekanntlich eine Legislaturperiode dauert. Die FDP nennt sich bürgerlich, sie steht für ordentliche Regierungsführung und es ist die FDP, die sofort aufschreien würde, wenn eine Regierung ins Amt käme, die fern jeglicher Möglichkeit wäre, ordentliche Haushalte zu verabschieden. Es ist geradezu eine bürgerliche Tugend, eine Regierung zu bilden, die in der Lage sein muss, ordentliche Haushalte zu verabschieden. Die Thüringer FDP verlautbarte im Vorfeld der Ministerpräsidentenwahl, dass weder mit der AFD noch mit den Linken regiert werden könnte, egal in welcher Form. Die AFD und die Linke haben aber nun mal die absolute Mehrheit im Thüringer Landtag. Somit ergibt sich für die FDP gar keine parlamentarische Grundlage um zu regieren, weil gar keine Mehrheit da ist, um der urbürgerlichen Tugend, der ordentlichen Haushaltsverabschiedung nachzukommen, vor allem im Sinne der FDP. Die FDP hat in all den Jahrzehnten, in der ich die Deutsche Politik verfolge (seit Ende 1989), immer nach Wahlen gesagt, dass sie nur in handlungsfähigen Koalitionsregierungen mitregieren würden. Entweder ist die FDP jetzt völlig gaga geworden und hat ihre jahrzehntelangen Grundsätze einfach vergessen oder sie plante im ernst eine Minderheitsregierung mit der CDU unter Tolerierung der Höcke-AFD. Eine andere Erklärung gibt es eigentlich nicht. Das ordentlich regieren war und ist für die FDP bis dato immer ein heilliges Mantra gewesen. Auch ist es für die FDP bis heute jenseits jeglicher Vorstellung, mit der AFD oder den Linken zu regieren oder sich auf diese zu stützen. Es macht mich Fassungsloss zu sehen, dass sich die FDP mit solchen, für sie eigentlich
unmöglichen parlamentarischen Mehrheiten, nun an die Spitze der Regierung stellt. Nichts, was der FDP eigentlich heilig wäre, kann sie mit solchen Mehrheiten im Landtag erreichen und gerade der FDP waren gründliche Koalitionsverhandlungen im Vorfeld einer Regierungsbeteiligung immer äußerst wichtig. Alles was diese Partei ausmachte, hat sie über den Haufen geworfen, um endlich einmal, seit über sechzig Jahren, wieder einen Ministerpräsidenten zu stellen…… Die einzige Gewinnerin ist die rechtsradikale Thüringer AFD, mit der man ganz sicher nicht ordentlich regieren und schon gar nicht solide Haushalte verabschieden kann. Die FDP hat der im Grunde v