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09 October 2012

Das Kölner Beschneidungsurteil und das Judentum, Teil 1: Unbeschnittene Juden?

Seit Monaten ergießt sich auf allen Kanälen eine Flut von Stellungnahmen, Berichten und Aufrufen höchst unterschiedlicher Qualität zum Thema ‚religiöse Beschneidung‘. Erstaunlicherweise – und ich beschränke mich als Fachwissenschaftler hier auf die jüdische Tradition – wird die keineswegs neue, sondern seit gut 200 Jahren immer wiederkehrende Debatte von jüdischer Seite derzeit so geführt, dass der Eindruck entsteht es handle sich beim Judentum um eine fundamentalistische Religion.

Zweifellos besteht gerade hinsichtlich der Beschneidung und ihrer Ausgestaltung zwischen den sonst stark differierenden jüdischen religiösen Denominationen – der beiden großen Reformgruppierungen des liberalen und konservativen Judentums, des kleinen Anteils der Orthodoxie von maximal 10 % (außerhalb des Staates Israel) sowie einiger weiterer, insgesamt etwa gleichgroßer Sondergruppen – ein Schulterschluss. Dies erklärt sich nicht nur dadurch, dass man eine grundlegende gemeinsame Basis erhalten möchte: Auch bei säkularen und zu erheblichen Teilen sogar anti-religiösen Juden ist die Beschneidung immer noch eine Selbstverständlichkeit, da es als Zeichen einer säkularen Volkszugehörigkeit angesehen wird.

Dennoch bestehen auch jenseits privater Bewertungen wirkmächtige und sogar rechtliche Definitionen, die auch unbeschnittene männliche Personen als Juden anerkennen, so beispielsweise das israelische Staatsbürgerrecht. Und selbst wenn man nur die orthodoxe Sichtweise in den Blick nimmt – innerhalb der Reform wurden bereits durchaus weitere Änderungen insbesondere im Hinblick die medizinische Praxis etabliert –, so ist und bleibt der unbeschnittene Sohn einer jüdischen Mutter anders als vielfach gesagt wurde ganz fraglos ein Jude, denn die Beschneidung entscheidet lediglich über die Aufnahme in die religiöse Gemeinschaft. Sein Judesein bleibt davon unberührt, gleich aus welchen Gründen er nicht beschnitten wurde.

Ganz im Gegensatz zu dem stereotypen Reduzieren der Debatte auf das biblische Gebot der Beschneidung am achten Tag existiert auch in der Orthodoxie bis in ultra-orthodoxe Kreise hinein eine breite Diskussion, die ein ganz anderes Bild vermittelt. So  stellt sich die Beschneidungspflicht auf den geltenden religionsrechtlichen Grundlagen auch der Orthodoxie, die für die überwiegende Mehrzahl der deutschen Gemeinden den maßgeblichen Orientierungspunkt darstellt, durchaus anders dar: Sogar nach der konservativsten Auslegung des Religionsrechts gilt die Pflicht, sich beschneiden zu lassen, für einen männlichen Juden erst mit dem Erreichen der religiösen Mündigkeit, also des 13. Lebensjahrs. Davor obliegt diese Verpflichtung allein dem Vater und bei dessen Fehlen oder Weigerung der jüdischen Gemeinde.

An diesem Punkt treffen sich die religionsgesetzliche und die staatsrechtliche Bewertung tatsächlich: Auch aus religiöser Perspektive bedeutet das Zugeständnis, unmündige Jungen beschneiden zu können, ausschließlich das Recht, eine Körperverletzung an anderen vorzunehmen, woraus sich ein bleibender Rechtskonflikt mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ergibt. Erst nach dem 13. Lebensjahr stellt sich die Frage, ob der Staat Personen, die aus seiner Perspektive weiterhin unmündig sind, eine solche Entscheidung zugestehen möchte. Ob hier aus religiöser Perspektive wirklich wie vielfach angedeutet wurde den Forderungen des staatlichen Rechts nicht nachgegeben werden kann, ist unklar: In zahllosen anderen Fällen verdrängt das staatliche Recht das religiöse. Jenseits der Ultra-Orthodoxie ist kaum zu erwarten, dass man hinsichtlich der elterlichen Beschneidungspflicht Minderjähriger das gefestigte jüdische Verständnis des Verhältnisses von Staat und Religion insgesamt in Frage stellen würde, zumal wenn es lediglich um eine Verschiebung des Termins ginge. Etablierte religionsrechtliche Regelungen hierzu gibt es bislang nicht.

Insofern bleibt die Warnung, dass bei Verbot der Beschneidung jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich sei, unverständlich: Zum einen war sie dies bereits seit Gründung der Bundesrepublik, ohne dass man Einschränkungen hinnehmen musste. Zum anderen ist nicht ersichtlich, dass insbesondere die fast durchgehend a-religiöse jüdische Gemeinschaft in Deutschland eine derart fundamentalistische Position einnehmen würde.

Zumal – und hieran scheitert spätestens auch ein weiteres Argument – die soziale Integration nicht-beschnittener Juden gerade in den deutschen Nachkriegsgemeinden ausgesprochen liberal gehandhabt wird. Dies erklärt sich nicht allein aus dem sehr hohen Anteil religiös gemischter Ehen, welchen nicht nur nicht-jüdische Kinder, sondern auch nicht-beschnittene jüdische Jungen entstammen.

Mit der Immigration von Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion (inzwischen etwa 90 % allein der Gemeindemitglieder, wobei ein überwiegender Teil der männlichen Zuwanderer nicht beschnitten war bzw. ist) wurde diese kaum beschränkte Offenheit sogar zur offiziellen Politik der Gemeinden: So werden diese Kinder in das soziale Leben, den Religionsunterrichten und teilweise sogar in das religiöse Ritual einbezogen, da man hofft, dass eine Stärkung des jüdischen Erbes zu einem vollständigen Bekenntnis zum Judentum, auch zur Beschneidung, führe.

Ein unbeschnittener Erwachsener hat zudem selbst nach orthodoxem Religionsrecht nur den Ausschluss von einigen Ritualen zu befürchten. Am empfindlichsten ist, dass ihm die religiöse Eheschließung untersagt bleibt: Er müsste sich jedoch nur der Beschneidung unterziehen und wäre – anders als etwa ein Konvertit – bereits ein vollgültiges Mitglied der Gemeinschaft.

So sehr das Geschilderte natürlich nicht der eigentlichen religiösen Vorstellung entspricht, stellt sich für die jüdische Gemeinschaft die schon vor gut 150 Jahren diskutierte Frage, weshalb man gegenüber Beschneidungsverweigerern andere Maßstäbe anlegen sollte als bei anderen Häretikern, so all jenen, die nicht koscher essen, die Schabbatregeln oder die Vorschriften zur rituellen Reinheit von Frau und Familie nicht einhalten – heute zweifellos die ganz überwiegende Mehrheit der Mitglieder  der deutschen Gemeinden.

Teil 2 folgt!

Prof. Dr. Andreas Gotzmann ist Professor für Judaistik an der Universität Erfurt.


SUGGESTED CITATION  Gotzmann, Andreas: Das Kölner Beschneidungsurteil und das Judentum, Teil 1: Unbeschnittene Juden?, VerfBlog, 2012/10/09, https://verfassungsblog.de/das-klner-beschneidungsurteil-und-das-judentum-teil-1-unbeschnittene-juden/, DOI: 10.17176/20171117-145512.

88 Comments

  1. […] Beitrag der Debatte um die religiös motivierte Beschneidung von Jungen. Er wirft einen Blick auf den Umgang des Judentums mit unbeschnittenen Juden und beleuchtet kritisch die Beschneidungspraxis sowie die vom Ethikrat zu ihrer Regulierung […]

  2. Elke Midi Wed 10 Oct 2012 at 09:47 - Reply

    Sehr geehrter Herr Gotzmann – vielen Dank für diesen aufklärenden, sehr abgewogenen und differenziert betrachtenden Artikel, der mir auch nochmal einiges klargemacht hat!
    Wenn Sie diesen doch einmal direkt an den Deutschen Bundestag mit all seinen Abgeordneten zukommen lassen könnten… !!!
    Dort fehlt es an allen Ecken und Enden, eine wahrhaft differenziert abgewogene Entscheidung zu einem Beschneidungsgesetz zu fällen, das – bis jetzt – nahezu vollkommen an den Rechten der Kinder und auch an der Einschätzung der Bedeutung von Beschneidungen vorbeischießt.
    Ihr Artikel wäre ein sehr wertvoller Beitrag, die Debatte auf das Niveau zu heben, das dieses Thema verdient!
    Zum WAHREN Wohle unserer, auch jüdischer und muslimischer Kinder!

  3. ThomasRoth Thu 11 Oct 2012 at 12:51 - Reply

    Wenn ein unbeschnittener Jude nicht religiös heiraten kann,wer kontrolliert da? Der Rabbiner? In meinem Klosterinternat haben die Mönc he, die ja eine Nachfolgereligion des Judentums betreiben, auch Zipfelkontrolle gemacht. Hat das irgendwas miteinander zu tun? 😉

  4. ClausChuzpe Fri 12 Oct 2012 at 07:02 - Reply

    Interessante Frage, Thomas Roth! Das wüsste ich auch gerne.

    Aber zu dem Unverständnis der anderen bez. Der politischen Entscheidung muss man einfach nur Bedenken, dass unsere führende Partei ein gewisses Interesse daran hat, die religiösen Freiheiten in einem (fast) säkularen Staat so gut wie möglich zu erhalten. Da tut man sich quasi gegenseitig einen Gefallen 🙂

  5. Peter Claudius Sun 14 Oct 2012 at 09:48 - Reply

    Sehr geehrter Prof. Gotzmann,

    ich finde ihre Äußerung hoch interessant.

    Weshalb vertritt in der Öffentlichkeit keiner sonst diese Behauptung ? Das würde Befürworter und Gegner der Beschneidung sehr helfen.

    “Sogar nach der konservativsten Auslegung des Religionsrechts gilt die Pflicht, sich beschneiden zu lassen, für einen männlichen Juden erst mit dem Erreichen der religiösen Mündigkeit, also des 13. Lebensjahrs.”

  6. Balanus Wed 17 Oct 2012 at 18:53 - Reply

    @Mark Swatek-Evenstein

    »…eher der durch das schlecht begründete Fehlurteil aufgerissene Abgrund an Intoleranz, in den gesellschaftlich nicht ganz unbedeutende Minderheiten blicken, seit die Mehrheitsgesellschaft mal wieder zur “Zivilisierung” der “Barbaren” aufruft. «

    Das ist zwar schön formuliert, geht aber an der Sache vorbei. Gleiches kann man auch von den Befürwortern der weiblichen Beschneidung hören.

    »Da versucht der Gesetzgeber dann eben mit einem juristisch gesehen nicht notwendigen Gesetz sich ein weiteres Mal an der Erziehung des eigenen Staatsvolks zu Toleranz. Minderheitenschutz durch symbolische Gesetzgebung. «

    Ich denke, das ist eine ziemlich steile These. Gibt es dafür einen Beleg? Nicht ohne Grund wurde nach dem Urteil in vielen Kliniken die religiös oder traditionell begründete Beschneidung erst mal eingestellt. Bei einem allgemein anerkannten Fehlurteil hätte dazu keine Veranlassung bestanden. Soweit ich das überblicke, verbietet nach mehrheitlicher juristischer Auffassung die aktuelle Gesetzeslage ausnahmslos medizinisch nicht indizierte chirurgische Manipulationen am kindlichen Genital (das ärztliche Ethos verbietet es sowieso). Erst das geplante Gesetz stellt klar, welche Formen der genitalen Verletzungen bei Säuglingen und Kindern in Zukunft erlaubt sein sollen.

    Im Übrigen sind die Minderheiten, von denen Sie reden, immer noch die Kinder. Und denen hilft das geplante Gesetz kein bisschen.

    In Ihrem Blog-Beitrag, Herr Swatek-Evenstein, stellen Sie die Frage: „Was, wenn einer der Großväter der Verfassung beschnitten war?“

    Gegenfrage: Was, wenn eine der Großmütter der Verfassung beschnitten war? Wären dann etwa milde Formen der weiblichen Beschneidung gesetzlich erlaubt? Ich denke, nicht.

    Die Vorstellungen darüber, was dem Kindeswohl dient, haben sich in unserer Gesellschaft ganz offensichtlich in positiver Richtung weiterentwickelt. Man mag das beklagen. Ich jedoch halte es für einen Fortschritt, wenn der Vollzug blutiger Rituale an wehr- und hilflosen Kindern endlich in Frage gestellt wird. Nicht von ungefähr halten es viele jüdische Mütter für unerträglich, der Beschneidung ihres neugeborenen Sohnes beiwohnen zu sollen.

  7. Christian Boulanger Wed 17 Oct 2012 at 20:43 - Reply

    Es ist ja eigentlich alles gesagt; trotzdem geht die Debatte munter weiter – und das obwohl hier ja schon die objektive Wahrheit gefunden wurde (auch wenn manche Narren ideologisch verblendet in ihrer kognitiven Dissonanz verharren).

    Scherz beiseite, wenn wir schon bei der Wahrheit sind, scheint es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass das Kölner Urteil keineswegs die geltende Rechtslage widerspiegelte, sondern eine neue schuf. Man könnte im Gegenteil sagen, dass das jetzt geplante Gesetz die alte Rechtslage wiederherstellen. Recht wird nicht gefunden, es wird hergestellt. Wenn über 60 Jahre niemand daran denkt, die Beschneidung zu kriminalisieren, dann ist sie nicht rechtswidrig. Die Meinung von Herrn Putzke war und ist eine Mindermeinung in der Rechtswissenschaft, die vor dem Kölner Urteil von keinem anderen Gericht übernommen wurde. Man kann sich darüber unterhalten, ob es durch das Kölner Urteil einen Rechtswandel gegeben hat, und diese Entwicklung gut oder schlecht finden. Aber geltendes Recht war es sicherlich nicht.

  8. Balanus Wed 17 Oct 2012 at 22:25