Das NetzDG und die Vermutung für die Freiheit der Rede
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) verstößt gegen die grundrechtliche Vermutung für die Freiheit der Rede. Das heißt nicht, dass die sozialen Netzwerke nicht reguliert werden dürften. Eine solche Regulierung darf aber nicht nur das „Zuwenig-Löschen“ bekämpfen, sondern muss zugleich dem „Zuviel-Löschen“ entgegenwirken.
1. Seit dem neuen Jahr gelten für das Internet in Deutschland neue Regeln. Das NetzDG ist zwar schon seit dem 1. Oktober 2017 in Kraft. Seine volle Wirkung wird das Gesetz aber erst jetzt entfalten, weil für seine zentrale Vorschrift eine Übergangsregelung galt: Das wirksame Verfahren zur raschen Löschung rechtswidriger Inhalte, das die sozialen Netzwerke vorhalten müssen (§ 3 NetzDG), musste erst innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes eingeführt sein (§ 6 II NetzDG).
Ob die jüngsten Reaktionen von Twitter auf die Tweets einer Bundestagsabgeordneten und des Satire-Magazins Titanic in Sachen „Barbarenhorden“ nun schon auf das Gesetz zurückgehen oder nicht: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich vergleichbare Fälle des Löschens und Blockens fortan mehren werden. In all diesen Fällen wird sich die Frage stellen, ob die Regelungen des Gesetzes mit der Meinungsfreiheit vereinbar sind.
2. Das NetzDG reagiert auf die massiven Schwierigkeiten, auf die die Durchsetzung von zivilrechtlichen und strafrechtlichen Unterlassungsansprüchen auch bei eklatanten und eindeutigen Verletzungen des Persönlichkeitsrechts in den sozialen Netzwerken stößt.
Werden solche Äußerungen erst nach mehreren Tagen gelöscht, so haben sie angesichts der Schnelligkeit der Netzkommunikation bis dahin oft schon den größten Teil ihres Schadens irreparabel angerichtet.
Das NetzDG verpflichtet deshalb die großen sozialen Netzwerke mit zwei Millionen oder mehr registrierten Nutzern im Inland, ein „wirksames und transparentes“ Verfahren für Beschwerden über rechtswidrige Inhalte vorzuhalten, das unter anderem „gewährleisten“ muss, dass der Anbieter des Netzwerks „offensichtlich rechtswidrige Inhalte“ grundsätzlich innerhalb von 24 Stunden und alle sonstigen rechtswidrigen Inhalte in der Regel innerhalb von sieben Tagen löscht oder sperrt (§ 3 I-III). Der Verstoß gegen die Pflicht, ein solches Verfahren vorzuhalten, kann mit einem Bußgeld von bis zu 5 Millionen Euro geahndet werden (§ 4 II).
3. Gegen das Löschen und Sperren rechtswidriger Beiträge ist nichts einzuwenden. Das grundrechtliche Problem entsteht daraus, dass der Versuch, es zu bewerkstelligen, stets auch rechtmäßige Beiträge treffen wird.
Die Gewährleistungspflichten und Sanktionsdrohungen des NetzDG sind aber allein darauf ausgerichtet, rechtswidrige Inhalte zu verhindern. Sie enthalten dagegen keinerlei Vorkehrungen dafür, rechtmäßige Beiträge vor einer Löschung und Sperrung zu schützen.
Nur das „Zuwenig-Löschen“ (von rechtswidrigen Beiträgen) wird mit Sanktionen bedroht, das „Zuviel-Löschen“ (von rechtmäßigen Beiträgen) bleibt dagegen sanktionslos. Das legt es zumindest nahe, dass die Anbieter der sozialen Netzwerke, um das drohende Bußgeld zu vermeiden, das Verfahren so strukturieren werden, dass im Zweifel eher ein Beitrag zu viel gelöscht wird als einer zu wenig. Das Regulierungsmodell des NetzDG läuft damit auf eine Aufforderung zum massiven „Overblocking“ hinaus. Es ist diese rechtliche Einseitigkeit des Regulierungsmodells, das Anreize ausschließlich in die eine Richtung – für das Löschen und Sperren – setzt, die es so eklatant verfassungswidrig macht (vgl. etwa auch die von einer Grundrechtswidrigkeit ausgehenden Beiträge hier, hier [650 f.] und hier [660 f.], sowie meinen Beitrag in: Marion Albers/Ioannis Katsivelas [Hrsg.], Recht & Netz, Nomos [im Erscheinen], auf den hier und im Folgenden teils zurückgegriffen wird).
Der einseitige Regulierungsansatz des NetzDG ist unabhängig davon problematisch, wie groß genau seine tatsächlichen Auswirkungen nun sein werden (immerhin mag es ja auch einen gegenläufigen ökonomischen Anreiz geben, Image-Schäden aufgrund von Beeinträchtigungen der Meinungsfreiheit und damit verbundenen Umsatzeinbußen zu vermeiden). Wie auch bei der möglichen Abschreckungswirkung („chilling effect“) geht es hier weniger um eine empirische Behauptung über „große Zahlen“ als um eine normative verfassungsrechtliche Bewertung: Selbst wenn nur einige wenige ihre Meinung nicht mehr unbeeinträchtigt äußern können, obwohl die Meinungsfreiheit ihnen das Recht dazu gibt, ist das verfassungsrechtlich schon hochproblematisch.
4. Denn in der Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und anderen Rechtsgütern spricht eine Vermutung für die Freiheit der Rede. Das gilt nach der zustimmungswürdigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls bei Angelegenheiten, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren (ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 7, 198 [212] – Lüth [1958]; vgl. aber auch, diese Vermutung auf alle Bereiche erstreckend: BVerfGE 7, 198 [208]; 124, 300 [342] – Wunsiedel [2009]).
Diese Vermutung für die Freiheit der politischen Rede bindet (mittelbar) auch die großen privaten Internet-Unternehmen wie Facebook, Google und Twitter. Schon im Lüth-Urteil war sie auch auf die sog. mittelbare Drittwirkung der Meinungsfreiheit im Verhältnis unter Privaten bezogen. Für die Anbieter der großen sozialen Netzwerke muss sie jedoch in besonderem Maße gelten.
Was bei Facebook, Youtube oder Twitter verhindert oder gelöscht wird, wird häufig effektiver zensiert oder eingeschränkt als dies durch ein staatliches Verbot möglich wäre. Der Schutz von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz liegt in der Praxis schon heute ganz maßgeblich – und in den so entscheidenden ersten Tagen wahrscheinlich auch unausweichlich – in der Verantwortung der privat betriebenen sozialen Netzwerke.
Die grundrechtlichen Gewährleistungspflichten müssen mit dieser Entwicklung Schritt halten. In seinem Fraport-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht klargestellt, dass der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit auch in privatisierten öffentlichen Räumen eröffnet ist, die wie der Frankfurter Flughafen ein allgemein zugängliches öffentliches Forum („public forum“) bilden (vgl. die Aussagen in BVerfGE 128, 226 [250-255], die nicht auf eine unmittelbare Grundrechtsbindung des Eigentümers abstellen, sowie die Erwähnung des Urteils in den abweichenden Meinungen zu dieser EGMR-Entscheidung von 2012).
Der Grundgedanke dieser Entscheidung greift in den privatisierten öffentlichen Foren des Internet gleichermaßen: Je mehr sich die öffentliche Debatte auch dort in privat beherrschte Räume der Netzkommunikation wie Facebook, Instagramm oder Twitter verlagert, desto stärker müssen auch die grundrechtlichen Gewährleistungspflichten werden, die jene Großunternehmen treffen, die diese Räume zu kommerziellen Zwecken gestalten, eröffnen und verwalten.
5. Müssen aber nicht die Erfolge der Populisten und die unheilvolle psychologische Dynamik der enthemmenden Gruppenpolarisierung in den virtuellen Echokammern des Netzes dazu führen, die rechtlichen Grenzen der Meinungsfreiheit zu überdenken und sie enger zu ziehen als es bislang jedenfalls unter dem Grundgesetz weithin anerkannt ist?
Gerade der Rechtspopulismus befördert eine Wiederbelebung von Konfliktlinien entlang ethnischer und religiöser Identitäten nicht zuletzt auch, indem er sich der psychologischen Mechanismen des intuitiven „Gruppendenkens“ bedient, das unsere ohnehin vorhandene Neigung verstärkt, Argumente und Informationen zu bevorzugen, die uns in unseren Auffassungen bestätigen (s. zum „confirmation bias“ nur Kahnemann, hier, S. 80 f; zur Gruppenpolarisierung etwa Sunstein, hier, S. 111-145): In den Filterblasen der sozialen Netzwerke finden bislang verstreute Gleichgesinnte zusammen und radikalisieren sich in ihrem Hass auf andere Gruppen, indem sie sich ungebremst von öffentlicher sozialer Kontrolle wechselseitig in ihren Überzeugungen bestärken.
Auf der Grundlage einer eingehenden Analyse dieser Gruppendynamiken hat Stefan Magen auf der letzten Staatsrechtslehrertagung in Saarbrücken vorgeschlagen, die Grenzen der Meinungsfreiheit angesichts dieser Bedrohungen neu zu justieren. Bei Herabwürdigungen „identitätsgeprägter Gruppen“ seien Eingriffe auch schon unabhängig von der Größe der angegriffenen Gruppe als gerechtfertigt anzusehen. Für die Ehrverletzungsdelikte sei „die soziale Ehre als Mitglied einer identitätsgeprägten Gruppe“ als eigenständiges (individuelles) Schutzgut anzuerkennen, die Volksverhetzungsdelikte seien schon bei jeder Herabwürdigung einer solchen Gruppe als verwirklicht anzusehen. Die Löschungspflichten des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes und sein Auskunftsanspruch über die Nutzeridentität seien entsprechend auszulegen.
Eine solche Eingrenzung des Schutzes der Meinungsfreiheit dürfte jedoch, von Zweifeln an der Wirksamkeit einer Bekämpfung des Populismus auf diesem Wege abgesehen, dem Leitbild der verfassungsgebenden Gewalt des Grundgesetzes nicht entsprechen. Schließlich normierte diese die Meinungsfreiheit noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Menschheitsverbrechen, zu denen der rassistische Gruppenhass des Nationalsozialismus geführt hatte. Auch wenn die sozialen Netzwerke ein neues Phänomen sind, das die verfassungsgebende Gewalt kaum vorhersehen konnte und dessen Risikopotential schwer zu ermessen ist – die Bedrohung von Menschenwürde und Demokratie durch ein populistisches, von fremdenfeindlicher Demagogie entfesseltes Gruppendenken als solches ist es nicht.
6. Die Vermutung für die Freiheit der politischen Rede sollte jedoch nicht nur gelten, soweit die Kommunikationsfreiheiten des Grundgesetzes anwendbar sind (oder es sogar bleiben müssen, weil ihre Ordnung zu den Sachbereichen gehört, in denen den Mitgliedstaaten ein ausreichender Gestaltungsraum verbleiben muss, vgl. BVerfGE 123, 267 [358] – Lissabon [2009]), sondern sie folgt richtigerweise ebenso aus der Meinungsfreiheit nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und nach Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht zu Recht von einem besonders hohen Gewicht der politischen Rede in der Abwägung mit gegenläufigen Interessen aus (s. dazu etwa hier, S. 112-114), auch wenn er bislang, soweit mir bekannt, nicht ausdrücklich von einer entsprechenden Vermutung für die Freiheit der Rede spricht.
Jedoch hat er sich in seinem Delfi-Urteil von 2015 (§ 147) gleichwohl ausdrücklich auf das Google-Urteil des EuGH von 2014 bezogen, das ja genau umgekehrt von einer Vermutung für das Persönlichkeitsrecht und für die Löschung der jeweiligen Suchergebnisse ausgeht (vgl. dort §§ 87, 91). Sowohl das Google-Urteil des EuGH als auch das Delfi-Urteil des EGMR bedürfen insoweit einer Korrektur: Im Zweifel sollte, jedenfalls soweit es um Äußerungen zu Angelegenheiten von öffentlicher Bedeutung geht, der Meinungsfreiheit der Vorrang zukommen.
7. Das NetzDG bedarf deshalb, soweit daran und an seinem regulatorischen Grundmodell festgehalten werden soll, ergänzender Sicherungsmechanismen, die gewährleisten, dass die Freiheit der Rede in politischen Fragen nicht unter die Räder gerät.
Wie weit die besondere grundrechtliche Verantwortung genau reicht, die die großen Anbieter der sozialen Medien angesichts ihrer neuartigen, zentralen Rolle für die Gewährleistung der Meinungsfreiheit zu schultern haben, wird in Zukunft mit Blick auf die jeweilige Einzelfrage zu debattieren sein.
Jedenfalls eine so einseitige Regulierungsstruktur, wie sie das NetzDG kennzeichnet, kann jedoch mit der Meinungsfreiheit nicht vereinbar sein. Die Anbieter der sozialen Netzwerke dürfen jedenfalls nicht besonderen hoheitlichen Sanktionsdrohungen unterworfen werden, die allein auf das Löschen rechtswidriger Beiträge ausgerichtet sind, ohne dass dieser regulatorische Anreiz durch Schutzmechanismen zugunsten der Meinungsfreiheit ausgeglichen wird. Andernfalls ist die grundrechtswidrige Schieflage vorgezeichnet: An die Stelle der Vermutung für die Freiheit der politischen Rede tritt sonst die Vermutung für ihre Unfreiheit.
Soll es also bei den auf die Löschung zielenden regulatorischen Verpflichtungen bleiben, könnte ein solcher Ausgleich etwa darin liegen, dass mindestens gleichgewichtige Sanktionsdrohungen vorgesehen werden, die der Löschung rechtmäßiger oder offensichtlich rechtmäßiger Beiträge entgegenwirken. Das erhöht zwar den Prüfungsaufwand für die sozialen Netzwerke – und würde ihnen etwa abverlangen, qualifizierten juristischen Sachverstand für die notwendigen rechtlichen Bewertungen einzukaufen. Es spiegelt aber letztlich nur die gesteigerte faktische Gewährleistungsverantwortung der Anbieter von Facebook & Co. für die so bedeutsame Balance der grundrechtlichen Interessen. Die Unternehmen sitzen zwar, grundrechtlich gesehen, in der Klemme zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Für übertriebenes Mitleid besteht allerdings angesichts der enormen wirtschaftlichen Gewinnchancen, die ihnen ebenfalls offen stehen, kein Anlass.