16 August 2022

Das Prinzip Verantwortung

Zweifel waren seine Sache nie. Deswegen wird der ehemalige Bundeskanzler und Parteivorsitzende Gerhard Schröder die Entscheidung des Schiedsgerichts der SPD Hannover, ihn weder aus der Partei auszuschließen noch anders zu sanktionieren, bloß als Bestätigung seiner Person und Position verstehen. Warum denn auch nicht? Die Entscheidung, so las man vielerorts, kam angesichts der hohen Hürden eines Parteiausschlusses nicht überraschend. Schröder, der es nicht einmal für notwendig hielt, sich am Verfahren zu beteiligen, sei eben nicht mehr im Amt. Interessanter sei es jetzt, ihm die Altkanzlerausstattung, Büro und Mitarbeiter, zu streichen. Soll er doch, so lässt sich die ganze Sache aus Sicht der SPD-Spitze formulieren, sein Unwesen als in der Partei isolierter Privatmann treiben.

Und während sicherlich der Parteivorstand den Deckel auch dieser unseligen Akte am liebsten zügig schließen würde, bleibt ein Unbehagen, das nicht auf den Kreis derer, die den Parteiausschluss ursprünglich beantragt hatten, überhaupt auf den parteiinternen Bereich der SPD, begrenzt ist. Ist es wirklich so einfach? Kann man – wie Schröder es tat – über Jahre eine Partei anführen, ihr Regierungsverantwortung übertragen, sie formen und spalten, und dann, nicht nur aus dem Amt, sondern auch aus der Verantwortung scheiden? Ich denke nein. Die Frage schlägt nicht nur Licht auf die Begründung des Parteischiedsgerichts und die Debatte um die Streichung der Amtsausstattung, sondern auf die normativen Anforderungen, die an Amtsträger überhaupt zu richten sind.

Von Fehlern

Als insgesamt 17 Unterbezirke und Ortsvereine Anträge auf den Ausschluss Gerhard Schröders aus der SPD stellten, griffen sie eine Kritik auf, die schon auf seine Zeit im Kanzleramt datiert. Sie ist begründet in dem engen, schon seit über zwanzig Jahren als „Freundschaft“ titulierten Verhältnis zu Wladimir Putin (hier eindrucksvoll beschrieben), sie bekam aber spätestens mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 eine neue Qualität.

Die Antragsbegründungen bergen im Grunde drei Forderungen: Zurücktreten, Distanzieren, Positionieren. Schröder solle seine Ämter in russischen Staatsunternehmen wie Rosneft niederlegen. Er solle sich zudem von Putin lossagen und deutlich Position gegen einen Angriffskrieg einnehmen, über dessen Ursprung und Verlauf eine ausgezeichnete Informationslage besteht.

Was er aber stattdessen tat, ist eine Frage der Deutung. Doch selbst, wenn man die Einschätzung des Hannoveraner Schiedsgerichts zugrunde legt, lässt sich Schröders Verhalten als Lavieren, Relativieren, Aussitzen umschreiben. So stufte er den russischen Angriff zwar als „Fehler“ – eine merkwürdig strategische Kategorie – ein, ohne aber ebensolche der anderen „Seite“ zu verschweigen. Das Massaker von Butscha: aufklärungsbedürftig, wahrscheinlich ein lokaler Exzess. Putin: verhandlungsbereit. Der Rückzug aus dem Aufsichtsrat von Rosneft: angekündigt, aber zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl noch immer nicht vollzogen, geschweige denn auf den Weg gebracht.

Das Schiedsgericht, das darüber zu entscheiden hatte, ob darin ein vom Parteiengesetz für einen Ausschluss geforderter Verstoß gegen die Ordnung oder Grundsätze der Partei, oder, wie es in der Konkretisierung der SPD-Satzung heißt, gegen das Gebot der innerparteilichen Solidarität, fand daran einiges „bedauerlich“ und „befremdlich“, weniges „wünschenswert“, aber nichts, was einen Parteiausschluss rechtfertigen würde. Schröders Positionierung zum Krieg liege noch nicht außerhalb des Rahmens der Programmatik der SPD, die Freundschaft zu Putin sei ebenso Privatsache wie seine Posten in russischen Unternehmen. Durch ein bloßes Unterlassen könne Schröder schließlich die Grundwerte der Partei nicht verletzen.

Verantwortung und ihre Übernahme

Juristisch scheint diese Argumentation auf eine Art und Weise bestechend zu sein, dass sich gegen sie eigentlich gar nichts einwenden ließe. Doch hier nimmt das eingangs beschriebene Unbehagen ihren Ursprung. So wird niemand, auch nicht das angerufene Schiedsgericht, ernsthaft behaupten können, dass die „Freundschaft“ Schröders und Putins wirklich nur Privatsache sei. Sie ist gewachsen zwischen Männern in höchsten Staatsämtern, als außen- und wirtschaftspolitische Strategie und diplomatische Pose. Die Beziehung zu Putin ist deswegen auch keine rein private, sondern, wenn man den Begriff schon verwenden möchte, eine auch-öffentliche Freundschaft, die von Schröder entsprechend inszeniert wird – etwa wenn er nach Moskau reist, um persönlich seinen Einfluss auf Putin im Sinne der „deutschen Interessen“ geltend zu machen. Schröders Agieren in und mit Russland lässt sich nur nachvollziehen, wenn man seine Amtszeit als Bundeskanzler und seine Russlandpolitik in den Blick nimmt. Seine Person ist mit dem Amt verbunden, auch wenn er aus diesem geschieden ist. Deswegen ist sein Verhalten angesichts des Krieges von öffentlichem Interesse – und dem der SPD.

Wenn die SPD (und Parteien allgemein) vor der Frage eines Parteiausschlusses steht, ist von ihr nicht nur eine rechtserhebliche Entscheidung in Form eines Vereinsausschlusses gefordert, sondern auch eine genuin politische, eine punktuelle Festlegung ihrer Grundsätze (dazu ausführlich hier). Das fällt politischen Parteien notorisch schwer. Politik ist Handeln unter Ungewissheit, sie fordert laufend Reaktionen, weswegen ohne Pragmatik dieses Geschäft wohl nicht zu betreiben sein wird. Verbindliche Aussagen zum nicht Verhandelbaren sind angesichts dessen anspruchsvoll, zugleich aber notwendig, um ein Mindestmaß ideologischer Geschlossenheit herzustellen beziehungsweise zu wahren.

Deswegen läge es nun an der SPD zu definieren, in welchem Umfang Positionierungen von einem ehemaligen Parteivorsitzenden angesichts eines Angriffskrieges in Europa politisch als Akt der Verantwortungsübernahme zu fordern sind. Gerhard Schröder ist, ob der Vorstand nun will oder nicht, eine Größe der SPD. Wie kaum eine Person steht er für ihr Aufstiegsideal, er hat die Partei mit wirtschaftlichen Realitäten versöhnt, zu einer Neubestimmung einer Sozialdemokratie jenseits des Möglichkeitsdenkens und der Abspaltung eines Teils des linken Parteiflügels beigetragen. Und, hier besonders wichtig: er hat die für die Partei Willy Brandts und Egon Bahrs traditionsreiche Russlandpolitik maßgeblich und über seine Amtszeit hinaus geprägt.

Auch wenn der SPD dieses Erbe nun schwer geworden ist, hat Schröder viele Zöglinge und Bewunderer in der Partei, nicht nur in Niedersachsen. Seine Verbannung in eine bloß formal verstandene Privatheit und die Verweigerung, seine politische Verantwortlichkeit rechtlich zu fassen, muten angesichts dessen in zweifacher Hinsicht als Ausweichversuche an. Denn nicht nur die Personalie ist in der Partei kontrovers, sondern auch die Frage des richtigen Umgangs mit Russland im Krieg und die Unterstützung der Ukraine mit Waffen. So entsteht der irrwitzige Eindruck, Schröders offen monetär getriebenes Engagement bei Rosneft stünde in irgendeiner Verbindung zur traditionsreichen, friedens- und dialogbemühten Ostpolitik der SPD. Das schiedsgerichtliche Verfahren hat Möglichkeiten geboten, hier klare Grenzen zu ziehen. Diese hat aber weder der unbeteiligte Parteivorstand genutzt noch das Schiedsgericht. Es ist als zeigt sich in dieser Affäre das ganze Elend der deutschen Sozialdemokratie: vor lauter Müssen nicht mehr zu wissen, was eigentlich gewollt werden soll.

Mit all dem soll nicht gesagt werden, dass die Entscheidung, den ehemaligen Parteivorsitzenden nicht aus der Partei auszuschließen, im Ergebnis zwingend falsch ist. Auch angesichts des Ukraine-Kriegs kann es nicht heißen, dass wir keine Parteien mehr kennen, nur noch Deutsche. Das gilt auch für Gerhard Schröder, der frei darin ist, sich zu Putin und Russland zu positionieren. Das Schiedsgericht dürfte aber seiner Aufgabe nicht hinreichend nachgekommen sein, die Grundsätze der Partei zu einem effektiven rechtlichen Prüfungsmaßstab für diese Position zu machen. Diese Aufgabe ist essenziell, die Schiedsgerichtsbarkeit kann in einer Partei ein Gegengewicht bilden zur Flüchtigkeit und Interessenfixierung des politischen Geschäfts und dem organisationalen Selbstverständnis in Bezug auf inhaltliche Grundsätze Geltung verleihen. Im Fall Schröder nicht nur hinsichtlich der Frage, was genau die SPD angesichts eines Angriffskrieges als „Friedenspartei“ ausmacht, wie viel Relativierung und wie wenig Distanzierung zulässig ist, sondern auch, ob und inwieweit solche von einem ehemaligen Vorsitzenden gefordert werden können.

Amtsgedanken

Mit diesen politischen Fragen steht nun die SPD nicht allein. Vor dem gleichen Hintergrund entschied der Bundestag, Konsequenzen aus dem Verhalten Schröders zu ziehen und ihm die bisher allen Altkanzlern zukommende Ausstattung mit einem Büro und fünf Mitarbeitern mit der Begründung zu streichen, er nehme keine Verpflichtungen aus seiner Zeit als Bundeskanzler mehr wahr. In der Sache geht es aber auch hier um sein Verhalten im Ukraine-Konflikt.

Das Vorgehen, das von Schröder bereits beklagt wird, hat Fragen aufgeworfen, etwa danach, was überhaupt der Grund und Grundlage für diese Ausstattung sein soll. Erklären lässt sie sich wohl als republikanischer Ausdruck, als Folge der Gewissheit, dass einen Kanzler mit Ende der Amtszeit keine besonderen Rechtspflichten mehr, gleichwohl aber spezifische Erwartungen treffen. Die Unsicherheit, wie mit der offensichtlichen Unterfüllung dieser Erwartungen umgegangen werden soll, offenbaren, dass die Anforderungen an Amtsträger – nicht nur in der Situation des Scheidens – an Unbestimmtheit leiden.

Sicher ist, dass anders als die SPD, sich die Bundesrepublik nicht von Schröder trennen kann, weder von ihm als Bürger noch als Altkanzler, weswegen der Entzug der Ausstattung vielleicht rechtmäßig ist, trotzdem aber als sinn- und hilflose Bestrafung erscheint. Die Ausstattung ist Reflex der Verantwortung, die für einen Bundeskanzler daraus folgt, dass er nicht nur als Amt, sondern auch als Person notwendig Entscheidungen mit Reichweite trifft und deswegen auch nach Amtsende politisch verpflichtet bleibt, ob er will oder nicht. Diese Verantwortung, die Herrschaft als solcher innewohnt, sollte sowohl die SPD ernst nehmen, wenn sie sein Handeln auf die politische Verantwortbarkeit hin zu überprüfen hat, als auch der Staat, indem er Gerhard Schröder nicht-zeremoniell aus ihr entlässt.

Eine Staatsrechtslehre, die nicht mit der Verantwortungsdimension politischer Ämter umzugehen weiß, offenbart, dass sie keinen Begriff vom Normativen hat. Vielleicht kommt genau das zum Vorschein, wenn etwa der aus dem Bundesverfassungsgericht heraus geäußerte Vorschlag, die verfassungsrechtliche Verpflichtung von Regierungsmitgliedern, sich im Amt bei Äußerungen gegenüber der parteipolitischen Konkurrenz zurückzuhalten, ganz aufzugeben, geradezu bejubelt wird, auch wenn damit die Integrationsverantwortung der Regierung ein Stück weit preisgegeben würde. Bei aller Berechtigung der Kritik an der Neutralitätsdogmatik darf nicht übersehen werden, dass diese Verpflichtung im Grunde Anspruchsvolles, aber nichts Unmögliches von Amtsträgern fordert: sich der besonderen Stellung bewusst zu werden, die man im politischen Gemeinwesen einnimmt, sie zu reflektieren, vom Tagesgeschäft zu abstrahieren und schließlich das Handeln danach auszurichten.

Dass dieser Verantwortung nicht immer entsprochen wird, lässt sie nicht entfallen. Das gilt natürlich auch für Gerhard Schröder.


SUGGESTED CITATION  Jürgensen, Sven: Das Prinzip Verantwortung, VerfBlog, 2022/8/16, https://verfassungsblog.de/das-prinzip-verantwortung/, DOI: 10.17176/20220816-181620-0.

One Comment

  1. Pyrrhon von Elis Wed 17 Aug 2022 at 13:05 - Reply

    Ein guter Artikel, der zum Glück auch zwischen moralischen und rechtlichen Verpflichtungen trennt.

    Eines bleibt mir aber immer ein Rätsel bei derartigen Diskussionen – welcher Mehrwert hat die Beurteilung eines normativen, wesentlich politischen Konflikts für einen Rechtsgelehrten? Der Jurist muss sich ja gerade auch bei Entscheidungen zur Vereinbarkeit der Person mit dem Parteiprogramm zurückhalten. Hier sind ein paar Smendismen benutzt worden, insbesondere “Verantwortung” und “Integration”. Um Kelsen als Antipode zu entstauben – der Blick hinter das Gesetz auf das “Gorgonenhaupt der Macht” ist, zumindest für mich, deutlich weniger attraktiv als der Blick auf das Gesetz.

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