Das Private ist politisch
Warum das Mietendeckelurteil eine gute Nachricht für ein progressives Privatrecht ist
Der Berliner Mietendeckel ist nichtig. Zuständig ist nicht das Land Berlin, sondern der Bund, heißt es aus Karlsruhe. So weit, so erwartbar. Trotzdem ist der erste Aufschrei innerhalb des progressiven Lagers groß. Tim Wihl spricht gar von einem formalistischen „Fehlurteil“, das im Kern mit einer „wiederbelebten, aber schon immer falschen public private distinction“ operiere. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Mit dem Mietendeckelurteil hat das Bundesverfassungsgericht die Tür zu einem sozialen und nachhaltigen Privatrecht weiter aufgestoßen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt sich auf zweierlei Arten lesen. Zunächst als Absage, was die Länder alles nicht regeln können. Das ist die Kernaussage in Bezug auf den Mietendeckel. Berlin hat sich übernommen, der Mietendeckel ist nichtig. Umgekehrt enthält es aber auch eine Zusage, was der Bund alles regeln kann. Ganz konkret einen Mietendeckel, der dann auch in Hamburg oder München greifen würde. Aber hier bleibt das Urteil nicht stehen, und genau hier wird es besonders interessant. „Der Gesetzgeber“, heißt es in Randnummer 139 eher lapidar, „kann insbesondere mit der entsprechenden Ausgestaltung des bürgerlichen Rechts soziale und andere Ziele verfolgen“.
Das mag in den Ohren öffentlich-rechtlich geprägter Leser:innen unspektakulär klingen. Für privatrechtliche Ohren ist es eine kleine Sensation. Denn damit wiederbelebt das Urteil gerade nicht die „schon immer falsche public private distinction“. Sie wird mit einem Satz abgeräumt. Die public private distinction ist nämlich zuallererst eine inhaltliche Grenzziehung: Wer sich auf sie beruft, will damit regelmäßig soziale Ziele aus dem Privatrecht heraushalten. Privatrecht, so die These, ist ein unpolitischer „Freiheitstraum“, der die selbstbestimmten Individuen weitgehend gewähren lässt und nur rudimentär die Spielregeln definiert.
Diese These war in der Tat „schon immer falsch“. Aber das hat wenig daran geändert, dass sie im Privatrecht immer vertreten wurde und bis in die Gegenwart vertreten wird. Die wissenschaftliche Rezeption des Verbraucherschutzes oder des Antidiskriminierungsrechts sind klassische Beispiele: Da war von der „Tugendrepublik der neuen Jakobiner“ die Rede, einige riefen den „Anfang vom Ende der Privatautonomie“ aus, andere befürchteten eine „Erosion des Privatrechts“. Aber auch in der jüngeren Diskussion ist die public private distinction nicht tot zu kriegen. Beispiele sind Überlegungen für eine Klimahaftung von fossilen Energieerzeugern, Ressourcenschutz via Gewährleistungsrecht oder eine Lieferkettenverantwortlichkeit für im globalen Süden operierende Großunternehmen. Zwar leugnet kaum eine privatrechtliche Stimme, dass es sich dabei um wichtige Themen handelt, die nach rechtlichen Antworten verlangen. Aber dann doch bitte, wie es sich gehört, nämlich mit öffentlich-rechtlichen Mitteln wie sanktionsbewährten Ge- und Verboten oder Steuern. Privatrecht, heißt es dagegen, sei „kein adäquates Instrument“ zur Lösung des gesamtgesellschaftlichen Klimaproblems, manche sehen gar eine „Revolution“ aufziehen.
Dabei ist wichtig zu verstehen, dass jedenfalls die „radikale“ Lesart der public private distinction nicht nur ästhetische Einwände erhebt. Es geht also nicht nur darum, das System des „Freiheitsraums“ möglichst rein und kohärent zu halten. Es geht um ein überpositives, letztlich naturrechtliches Verständnis, wie Privatrecht sein darf. Der radikale Kern der public private distinction steht für ein feststehendes Sosein des Privatrechts: frei, unpolitisch – und vor allem immer und ewig. Und weil das so ist, muss sich dann auch der Gesetzgeber an dieses überzeitliche Sosein des Privatrechts halten. Tut er es nicht, lädt er das Privatrecht mit etwas auf, was nicht dorthin gehört, verfolgt „privatrechtsfremde“ Ziele, ja zettelt letztlich eine „Revolution“ an.
Diese und andere Einwände mag man als Schwanengesänge einer untergehenden Welt abtun – psychologisch mitunter interessant, positivrechtlich aber weitgehend belanglos. Wenn der Privatrechtsgesetzgeber einen Mietendeckel oder eine Lieferkettenhaftung einführen möchte, dann tut er das halt einfach. Das wird der Wirkungsmacht der public private distinction aber nicht gerecht. Sie ist immer noch eine Flagge, um die sich viele Privatrechtler:innen versammeln. Wer dazugehört, lässt sich die Familie eben ungern vorschreiben. My backyard, my rules!
Und damit wären wir wieder bei der Mietendeckel-Entscheidung. Natürlich wird sie nicht jahrzehntelang eingeübte Selbstverständnisse von heute auf morgen erschüttern. Aber sie kann bei gegenwärtigen und zukünftigen Debatten über vermeintlich „privatrechtsfremde“ Inhalte als wichtiger Stichwortgeber dienen. Einerseits im Gesetzgebungsprozess, weil die public private distinction von Gegnern hier gerne zur vermeintlich unüberwindbaren Grenzlinie hochgerüstet wird – siehe die seinerzeitige Debatte um das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz oder heute CSR. Vor allem aber in Gerichtsverfahren, wo das Argument häufig dazu genutzt wird, Gerichte von neuartigen Anspruchskonstruktionen abzuhalten. Ein Beispiel ist der aktuell vor dem OLG Hamm laufende Prozess des Peruaners Saúl Luciano Lliuya, der die RWE-AG auf Aufwendungsersatz mit der Begründung verklagt, wegen des von RWE mitverursachten Klimawandels sei sein Eigentum vor Überflutung bedroht. Auch hier wird von der Gegenseite die public private distinction als vermeintlich schlagendes Argument bemüht: Klimaschutz ist zwar wichtig und richtig, aber doch bitte durch öffentlich-rechtliche Mittel. Für gesellschaftspolitische Anliegen ist Privatrecht schlicht nicht gemacht. Auf nähere Gedanken zu Kausalitäts- oder Zurechnungsfragen kommt es daher sowieso nicht an, Ende der Debatte.
„Der Gesetzgeber kann insbesondere mit der entsprechenden Ausgestaltung des bürgerlichen Rechts soziale und andere Ziele verfolgen“. Das wussten zwar viele schon vorher, mitunter selbst die Anhänger:innen der public private distinction. Aber jetzt ist die These vom privatrechtlichen „Freiheitsraum“ von höchster Stelle als das identifiziert, was sie ist und immer war: ein Traumschloss. Wer – wie ich es tue – für ein Privatrecht eintritt, das neben dem klassischen Freiheitsversprechen auch für Klimaschutz oder verbesserte Lebensbedingungen im globalen Süden eintritt, hat nun mit Karlsruhe einen prominenten Fürsprecher. Was sich heute wie eine Niederlage anfühlt, könnte morgen eine wichtige Grundlage für ein soziales und nachhaltiges Privatrecht sein.
I couldn´t agree more, als Außenstehender, was das Selbstverständnis des Privatrechts angeht. Das ist auch richtig beobachtet, dass ich “public private distinction” im Blogartikel heute nicht inhaltlich verwende, sondern eher formal – das Gericht tut das ja implizit in weiten Teilen des Beschlusses auch. Aber die schöne, destabilisierende Bemerkung zum Privatrecht verdient die Hervorhebung, die der Artikel von Schirmer ihr zukommen lässt. Unsere Perspektiven ergänzen sich ganz gut – die hiesige weist gewiss konstruktiver in die Zukunft.
Die Dramatik an der fragwürdigen Zuweisung eines Regelungsbereiches in das Zivilrecht liegt darin, dass 16 Bundesländern die Regelungskompetenz genommen worden ist kurzerhand und dem Bund zugesprochen. Das ist eine föderale Festlegung und es erscheint deshalb etwas neben der Sache, nun den ‘Gewinn’ für das Zivilrecht als Materie gegen das Öffentliche Recht anzuführen als abstrakt bereichernd für ein potenziell progressiveres Privatrecht.
Im Beschluss ist daneben ausdrücklich offengehalten worden, ob der Mietendeckel als materiell verfassungsgemäß einzustufen ist. Es enthielt also keine “Zusage”, wie es heißt. Vielleicht der Kompromis zwischen den Senaten? Wenn ihr uns in Eurer Zuständigkeit die Voraussetzung nehmt materiell zu entscheiden, dann bleibt auch nur bei der formellen Prüfung und nehmt uns nicht auch noch unseren materiellen BEreich weg?
Ob das Gerich Türen zu einem sozialeren Privatrecht weiter öffnen wollte als zuvor, darf deshalb auch bezweifelt werden.
Kompetenziell weiß und wusste es, dass es über die inhaltlichen Fragen des “sozialen Mietrechts” als 2. Senat ohnehin nicht entscheiden würde und es auch in anderen Zivilrechtsbereichen in aller Regel nicht um Kompetenzfragen wird gehen, sondern um grundrechtliche.
Wann ist denn faktisch auch vorgekommen, dass soziale oder ausgleichende Regeln zu einer zivilrechtlichen Kompetenzfrage wurden oder weitergehenden Regelungen entgegengehalten worden wären?
Glückwunsch zu diesem scharfsinnigen Beitrag. Dass die “Tür zu einem sozialen und nachhaltigen Privatrecht” erst jetzt aufgestoßen worden wäre und aufgestoßen werden musste (so sinngemäß der erste Absatz), scheint mir dann aber doch ein bisschen zu viel Getöse.
Gibt es in der heutigen Zivilrechtswissenschaft wirklich noch viele Vertreter:innen der Vorstellung eines apolitischen, dem demokratischen Gesetzgeber entzogenen Privatrechts? Oder handelt es sich nicht vielleicht um ein Zerrbild – das dem Zweck dient, immer neue Aufsätze zu rechtfertigen, in denen diese Vorstellung mit großer Geste als naiv oder gefährlich entlarvt wird?
Belege dafür, dass die besagte Vorstellung in der Zivilrechtswissenschaft noch sehr lebendig ist, bleibt der Blog-Post m.E. schuldig. Die zitierten wissenschaftlichen Aufsätze stammen, wohl nicht zufällig, allesamt von Wissenschaftler:innen, die – nicht erst seit kurzem – emeritiert sind. (Den NJW-Artikel zur Climate-Change-Litigation zähle ich nicht dazu, da es sich um einen Praktiker-Aufsatz handelt; er scheint im Übrigen weniger mit der Public-/Private-Distinction zu argumentieren als vielmehr mit der Aufgabenteilung zwischen Legislative und Judikative). Die AGG-Debatte liegt nun auch schon 15 Jahre zurück. Und dass in der Debatte um Climate-Change-Litigation die public-private-distinction als zentrales, schlagendes Argument bemüht würde, geht aus den zitierten Quellen für mich nicht klar hervor: In den zitierten Beiträgen geht es, anders als der Blog-Post nahelegt, ziemlich ausführlich um Zurechnungsfragen – also um Fragen, die sich nur stellen, wenn man sich innerhalb des Privatrechts bewegt (und nicht etwa von vornherein seine Unzuständigkeit behauptet).
Um nicht missverstanden zu werden: Ich teile die Überzeugung, dass sich die die Privatrechtswissenschaft zu wenig mit Verteilungs- und Steuerungsfragen beschäftigt. Ich bezweifle nur, dass dafür die Überzeugung ursächlich ist, das Privatrecht sei seinem Wesen nach apolitisch