Das Recht auf gute und schlechte Opposition
Zum Umgang mit einer obstruktiven Minderheit
Nicht erst, aber doch ganz besonders seit dem Erstarken der AfD, ihrer fortschreitenden Radikalisierung und der Entwicklung von einer rechtspopulistischen zu einer ausweislich der Einstufung mehrerer Landesämter für Verfassungsschutz mindestens in Teilen gesichert rechtsextremistischen Partei stellt sich die Frage, wie mit einer obstruktiven Minderheit umzugehen ist. Sie politisch zu beantworten, fällt nicht leicht. Verfassungsrechtlich ist die Lage zumindest im Ausgangspunkt klarer: Das Wirken als parlamentarische Opposition fällt unter den Schutz der Verfassung, die nicht grundsätzlich zwischen „guter“ und „schlechter“ Opposition differenziert. Ein Freibrief geht damit indes nicht einher; Oppositionsrechte gelten weder grenzenlos noch haben sie absoluten Charakter. Im Umgang mit obstruktiven oder gar antidemokratischen oppositionellen Kräften ist das Parlamentsrecht demnach nicht machtlos, aber auch nicht als erstes und einziges am Zug: Die freiheitliche demokratische Grundordnung zu bewahren, geht jede Bürgerin und jeden Bürger dieses Landes an.
Grund und Grenzen des Rechts auf effektive parlamentarische Opposition
Parlamentarische Opposition ist ein grundlegender Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Dabei handelt es sich um einen Allgemeinplatz sowohl der Verfassungsrechtswissenschaft als auch der Verfassungsrechtsprechung, den Art. 59 Abs. 1 der Verfassung des Freistaats Thüringen (im Folgenden: ThürVerf) ebenso wie viele weitere Landesverfassungen – nicht aber das Grundgesetz – nochmals ausdrücklich festhält, ohne dass damit indes ein besonderer normativer Gehalt verbunden wäre.1) Denn das Wirken als Opposition genießt bereits ohne eine solche „Oppositionsregelung“ umfassenden verfassungsrechtlichen Schutz. Dieser wurzelt zuvörderst im Demokratieprinzip, das die Bildung und Ausübung einer organisierten politischen Opposition als Verfassungsprinzip gewährleistet (vgl. BVerfGE 142, 25 [55 f. Rn. 86]). Eine Demokratie ohne die Möglichkeit zur Opposition wäre keine Demokratie; die Möglichkeit zur Opposition ist durch die Wahl der Staatsform Demokratie schon begrifflich mitumfasst.2) In einer Demokratie muss die Minderheit die realistische Chance haben, bei der nächsten Wahl zur Mehrheit zu werden. Zusätzlich verfassungsrechtlich abgesichert ist das Recht auf Opposition im Rechtsstaatsprinzip, namentlich im darin verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung (vgl. BVerfGE 142, 25 [56 Rn. 87]). Diese Annahme resultiert aus der Beobachtung, dass bei einer funktionalen Betrachtung die Linie zwischen Legislative und Exekutive im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland – und in den Systemen der Länder – im Wesentlichen nicht zwischen Parlament und Regierung, sondern zwischen den oppositionellen Akteuren einerseits und der Regierung sowie der sie tragenden Parlamentsmehrheit andererseits verläuft (sog. neuer Dualismus). Insoweit nehmen aber die Oppositionskräfte mit der Kontrolle der Exekutive auch eine rechtsstaatliche Funktion wahr. Schließlich wird der in objektiver Hinsicht durch Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip garantierte Schutz durch den Grundsatz des freien Mandats aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG – auf Ebene der Länder durch die entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Pendants (siehe exemplarisch Art. 53 Abs. 1 ThürVerf) – subjektiviert (vgl. BVerfGE 142, 25 [57 Rn. 89]).
Verfassungsrechtlich hat es mit dem „bloßen“ Recht auf Bildung und Ausübung von Opposition jedoch nicht sein Bewenden. Dieses bliebe konturen- und inhaltslos, wenn die oppositionellen Kräfte die Möglichkeit zur Opposition nicht auch wirksam ausüben könnten. Mit anderen Worten: Das bloße „Ob“ trägt den verfassungsrechtlichen Prinzipien, die für die Anerkennung des Rechts auf Opposition streiten, nicht hinreichend Rechnung; diese schlagen auch auf das „Wie“ durch. Insbesondere der Gewaltenteilungsgrundsatz ist insoweit in Ansatz zu bringen. Damit die in praxi – wie erwähnt – ganz überwiegend von der Opposition ausgeübte parlamentarische Kontrolle, wie es verfassungsrechtlich geboten ist (vgl. BVerfGE 67, 100 [130]), wirksam sein kann, bedarf es einer Auslegung des Rechts auf Bildung und Ausübung von Opposition dahingehend, dass dieses wirksam entfaltet werden kann. Das Grundgesetz erkennt somit, wie auch die Landesverfassungen, einen Grundsatz effektiver parlamentarischer Opposition an (vgl. erstmals BVerfGE 142, 25 [57 f. Rn. 90]; ausführlich hier, S. 108 ff.).
Das damit in Grundzügen umrissene Recht auf Bildung und Ausübung effektiver parlamentarischer Opposition gilt unterschiedslos für jede Art von Opposition. Das Verfassungsrecht nimmt keine inhaltliche Bewertung oppositioneller Strategien vor und differenziert nicht zwischen „guter“ und „schlechter“ Opposition. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Subjektivierung dieses Rechts ihren Ausgangspunkt in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hat, bei dem es sich um einen parlamentsbezogenen Grundsatz mit formalem Charakter handelt (vgl. nur BVerfGE 154, 354 [368 Rn. 44] m.w.N.). Der Schutz des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG beansprucht so lange Geltung, wie der Abgeordnetenstatus – etwa bis zu einem mit einem Parteiverbot gemäß Art. 21 Abs. 2 GG einhergehenden Mandatsverlust – anhält.
Vier Kollisionen
Das Recht auf (effektive) Bildung und Ausübung von Opposition gilt jedoch nicht grenzenlos. Es handelt sich nicht um einen absoluten Verfassungsgrundsatz, dem ein unbedingter Vorrang vor anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien zukäme. Bei der Ermittlung des Umfangs von parlamentarischen Minderheitenrechten sind auch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 70, 324 [363]).
Ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Verfassungsprinzipien kann nicht allgemeingültig aufgelöst werden. Die Lösung besteht nicht darin, einem Prinzip einen generellen Vorrang vor dem anderen Prinzip einzuräumen. Vielmehr bedarf es einer Abwägung im Einzelfall, wie die kollidierenden Prinzipien einem Ausgleich zugeführt werden können. Insofern können die mit dem Recht auf effektive Opposition konfligierenden Verfassungsprinzipien auch nicht abschließend im Sinne einer Berücksichtigung aller nur denkbaren Fallkonstellationen benannt werden. Besonders bedeutsam und praxisrelevant sind aber die folgenden vier Verfassungsprinzipien (näher dazu hier, S. 146 ff.):
Erstens kann das Recht auf effektive Opposition seine Grenze, obgleich es seinen Ursprung seinerseits ganz wesentlich in diesem Prinzip hat, im Demokratieprinzip finden. Denn dieses Prinzip ist im Ganzen nur dann gewahrt, wenn die Demokratie bei aller Bedeutung und bei allen Einflussmöglichkeiten der Opposition eine Herrschaft der Mehrheit bleibt. Der Geltungsanspruch der Minderheit reicht nicht so weit, die Wirkungsmöglichkeiten der Mehrheit im Ergebnis zu beeinflussen oder gar zu blockieren.
Zweitens ist der formal zu verstehende Grundsatz der Abgeordnetengleichheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Ansatz zu bringen. Der Deutsche Bundestag nimmt seine Repräsentationsfunktion nicht durch einzelne Abgeordnete, Gruppen oder Fraktionen, sondern grundsätzlich in seiner Gesamtheit wahr (vgl. nur BVerfGE 142, 25 [60 Rn. 96] m.w.N.). Die Zuweisung spezifischer Rechte an oppositionelle Abgeordnete vertrüge sich damit – jedenfalls nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 142, 25 [60 ff. Rn. 95 ff.]) – nicht.
Drittens sind bei der Bestimmung der Reichweite des Grundsatzes effektiver Opposition berechtigte Belange der Regierung zu berücksichtigen. Zwar wird eine schlichte Beeinträchtigung der Arbeitsweise der Regierung regelmäßig hinzunehmen sein. Die Wahrnehmung der oppositionellen Rechte darf aber grundsätzlich nicht dazu führen, dass die institutionelle Funktionsfähigkeit der Regierung nicht mehr gewährleistet ist. Dessen ungeachtet sind politische Funktionsstörungen – etwa koalitionsinterne Verstimmungen infolge maßgeblich durch das Agieren der Opposition (zum Beispiel die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses) offengelegter, regierungsseitig zu verantwortender Missstände – selbstredend hinzunehmen. Ein Recht auf „ungestörtes Regieren“ existiert nicht.
Viertens kann auch die Funktionsfähigkeit des Parlaments ein in die Einzelfallabwägung einzustellender Faktor sein, der mit dem Recht auf effektive Opposition in Widerstreit gerät. Das Recht zum wirkungsvollen Opponieren reicht grundsätzlich nicht so weit, dass es der Opposition möglich wäre, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments jenseits von Sperrminoritäten systematisch zu blockieren. Eine so verstandene obstruktive Opposition genießt zumindest keinen spezifischen verfassungsrechtlichen Schutz. Ob ein obstruktives Verhalten im Einzelfall gleichwohl zulässig ist, weil sich die Obstruktion als bloße (Neben-)Folge des Gebrauchs oppositioneller Rechte erweist, ist damit indes noch nicht geklärt. Hierzu bedarf es einer Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung aller für und wider das konkrete Verhalten sprechenden Belange nebst ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung.3) Dabei kann insbesondere der Frage der missbräuchlichen Inanspruchnahme parlamentarischer Minderheitenrechte Bedeutung zukommen: Wer den Parlamentarismus verächtlich zu machen beabsichtigt, kann sich hierfür nicht auf den Schutz des Grundgesetzes berufen.
Vier Fallkonstellationen
Die Fallkonstellationen, in denen sich die Frage nach den Grenzen des Rechts auf effektive Opposition stellt, sind schon jetzt nicht abschließend auszumachen. Es ist zudem davon auszugehen, dass sich mit der weiterhin anhaltenden Fragmentierung der Parlamente und der verstärkten Repräsentation nicht koalitionsfähiger, bisweilen dem Verdikt der Verfassungsfeindlichkeit ausgesetzter Akteure künftig weiteres Anschauungsmaterial ergeben wird, das früher oder später Gegenstand verfassungsgerichtlicher Prüfung sein wird. Aus dem bislang diskutierten Repertoire an Fallkonstellationen können vier Fälle die praktischen Grenzen des Rechts auf effektive Opposition veranschaulichen. Soweit im Folgenden auf die Situation im Deutschen Bundestag rekurriert wird, ist dies auf die Ebene der Länder prinzipiell übertragbar.
Wenn der Deutsche Bundestag seine Ausschüsse besetzt, besteht ungeachtet der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments und des damit einhergehenden weiten – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren – Gestaltungsspielraums grundsätzlich4) ein verfassungsrechtliches Gebot, alle im Bundestag vertretenen Fraktionen zu berücksichtigen; dies gilt auch und gerade für Oppositionsfraktionen. Dieses Gebot ist in der Praxis so umzusetzen, dass den Ausschüssen zahlenmäßig eine solche Größe zugrunde gelegt wird, die einerseits eine Repräsentation aller Fraktionen ermöglicht, andererseits aber auch das Spiegelbildlichkeits- und mit ihm das Mehrheitsprinzip wahrt (näher dazu hier, S. 155 ff.). Ein damit vergleichbarer justiziabler Anspruch von (Oppositions-)Fraktionen, bei der Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen entsprechend ihrer Stärke berücksichtigt zu werden, ergibt sich aus dem Recht auf effektive parlamentarische Opposition von vornherein nicht. Denn den Ausschussvorsitzenden kommt lediglich eine repräsentativ-koordinierende, nicht aber eine politische und schon gar keine oppositionelle Funktion zu.5) Ihnen obliegt die Vorbereitung, Einberufung und Leitung der Ausschusssitzungen sowie die Durchführung der Ausschussbeschlüsse (§ 59 Abs. 1 GOBT). Selbst diese weitgehend formalen Befugnisse kann der Vorsitzende jedoch nicht vorbehaltlos in Anspruch nehmen, da sie in einer Wechselwirkung zu vielfältigen Kontroll- und Korrekturbefugnissen der Ausschussmitglieder stehen, denen im Zweifel Vorrang zukommt (siehe nur die Regelungen in §§ 59 bis 61 GOBT; vgl. dazu auch BVerfGE 162, 188 [205 Rn. 48]). Ohnehin hat ein Ausschussvorsitzender seine Aufgaben neutral wahrzunehmen, was ein Opponieren aus dem Amt gerade ausschließt (vgl. für das Amt des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter BVerfGE 160, 411 [425 Rn. 43]). Ist vor diesem Hintergrund schon nicht ersichtlich, inwiefern das Amt eines Ausschussvorsitzenden dazu dienen könnte6), oppositionelle Funktionen zu verwirklichen, kann sich ein etwaiger Anspruch einer Fraktion auf die Benennung oder Wahl eines Ausschussvorsitzenden denklogisch nicht aus dem Recht auf effektive parlamentarische Opposition ergeben.7)
Eine Oppositionsfraktion hat selbst dann keinen Anspruch darauf, den Bundestagspräsidenten zu stellen, wenn sie die stärkste Fraktion im Bundestag stellt.8) Zwar kommt der stärksten Fraktion nach parlamentarischer Übung ein Vorschlagsrecht für dieses Amt zu. Ungeachtet der Unverbindlichkeit dieser Vorschlagspraxis ist damit jedoch kein Anspruch auf Wahl des vorgeschlagenen Kandidaten verbunden. Denn der gemäß Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG vorgesehene Wahlakt des Bundestagspräsidenten ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts frei. Er unterliegt – ebenso wie der Wahlakt der Stellvertreter des Bundestagspräsidenten und der Schriftführer – grundsätzlich keiner über Verfahrensfehler hinausgehenden gerichtlichen Kontrolle, weswegen sein Ergebnis auch nicht begründungs- oder rechtfertigungsbedürftig ist (BVerfGE 160, 411 [421 Rn. 31]). Das beeinträchtigt Rechte der parlamentarischen Opposition schon deshalb nicht, weil das Amt des Bundestagspräsidenten unparteiisch zu führen ist. Im Umkehrschluss ist es nicht geeignet, die Oppositionsfunktionen in spezifischer Weise zu verwirklichen (vgl. BVerfGE 160, 411 [425 Rn. 43]).
Eines der zentralen Instrumente zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen ist das aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgende Frage- und Informationsrecht der Abgeordneten, mit dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Regierung korrespondiert. Dieses Recht findet seine Grenze zum einen im Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung und zum anderen in der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Regierung. In einem solchen Fall, der von der Regierung nicht bloß behauptet, sondern substantiiert dargelegt werden müsste, hätte das parlamentarische (hier: oppositionelle) Informationsinteresse zurückzutreten. Gleiches gilt bei einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Fragerechts.