Das Volk – ein „Problem“ der Demokratie?
Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass die neuen rechten Parteien oder Bewegungen, die in Europa in den letzten Jahren entstanden und teilweise auch an die Macht gekommen sind, darauf aus seien, das Liberale der liberalen Demokratie anzugreifen. So ist es etwa ein gängiger Topos in Russland, in Ungarn, aber auch unter AfD-Anhängern in Deutschland, die Presse zu verunglimpfen, Minderheiten zu beschimpfen und Kompromisse geringzuschätzen. Wir wollen den Blick weg von diesem liberalen Element und hin zum Kern von Demokratie, dem Träger von Demokratie, dem Volk oder auch Legitimationssubjekt der Demokratie lenken und fragen, welchen politisch-praktischen, aber auch begrifflichen Herausforderungen die Bürgerinnen und Bürger als Träger der Demokratie aktuell ausgesetzt sind. Das Irritierende ist, dass sich heute weite Teile des Volks in der Tat als ein Problem der Demokratie erweisen: man denke nur an die Mehrheit der Anhänger Trumps, die diesen für einen größeren Präsidenten als Lincoln hält. In der ältesten konstitutionellen Demokratie der Welt jubelt das Volk einer kleptokratischen Elite zu, die mit der ganzen Palette populistischer Instrumente und mafiotischer Machenschaften die Verfassung aushöhlt, verstärkt durch eine völlig neue Medienstruktur. Und dort, wo das Volk es doch wagt, sich einer populistischen Regierung zu widersetzen und dieser zum Problem zu werden droht, versucht die Regierung ganz im Sinne der Lösung im gleichnamigen Gedicht von Bertold Brecht, sich das Volk quasi neu zu wählen – durch Gerrymandering, durch Restriktionen im Wahlrecht und nicht zuletzt durch Verweigerung der Staatsbürgerschaft für neu Hinzukommende.
Kaum etwas treibt uns also als sozial- und rechtswissenschaftlich denkende Menschen derzeit so um, wie die aktuelle Bedrohung demokratischer Rationalität durch ein bestimmtes Verständnis von Volk. Daher soll in diesem Symposion darüber diskutiert werden, wer das Volk eigentlich ist, wie es sich integriert und wie es zu einem politischen Willen und legitimen politischen Entscheidungen kommt.
Die populistischen Bewegungen unserer Tage sehen das Volk als eine Einheit und die Anführer dieser Bewegungen behaupten, dass nur sie diese Einheit repräsentieren würden. Opposition, Minderheitenrechte, Rechtsbindung – alle Verfahren, die der Kontrolle der politischen Mehrheit dienen und die die interne Pluralität des Volks verdeutlichen – gelten dieser politischen Richtung nichts. Der Wert von Institutionen als regelgeleitetem Verhalten, ebenso wie die formalisierten Verfahren und die vorgelagerten Prozesse pluraler Willensbildung in der Bürgergesellschaft wird von diesen Kräften nicht geschätzt.
Die parlamentarische Demokratie lebt davon, dass der Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Staat permanent über Kommunikation, Diskursivität, Kanalisierung, Assoziierung, Organisation und schließlich formalisierter Willensbildung in repräsentativen Institutionen vermittelt und in beide Richtungen immer wieder neu hergestellt wird. Die demokratische Gesellschaft wird im öffentlichen Diskurs und schließlich den Institutionen ihrer Willensbildung repräsentiert, aber auch konstruiert. Sie verständigt sich mit sich selbst und erfindet sich dabei immer wieder neu. Entscheidend für den Grad ihrer Freiheitlichkeit ist dabei das spezifische Verhältnis von Pluralität und Einheit: Nur wenn die Pluralität alternativer politischer Artikulationen offen gehalten wird, ist der Anspruch allgemeinverbindlicher und einheitlicher Rechtsetzung und -anwendung weder autoritär noch paternalistisch. Und nur wenn politische Interessenwidersprüche letztlich in überwiegend akzeptierten und sachlich angemessenen Kompromissen resultieren, kann eine Gesellschaft sich als politische Gemeinschaft wahrnehmen und erfolgreich selbst steuern.
Gegenwärtig scheint das fragile Gleichgewicht von Pluralität und Einheit mehrfach herausgefordert: Angesichts zunehmend partikularer Identitäten schwindet die Akzeptanz von Mandatsträgern als Repräsentanten des Ganzen. Das zeigt sich nicht zuletzt an der schwindenden Bedeutung der Volksparteien. Gleichzeitig ist die Frage, wer eigentlich als kollektives Subjekt politisch-rechtlicher Legitimation repräsentiert werden soll, in Zeiten permanenter Migration von zunehmender Dringlichkeit. Dies alles steht im Zeitalter der Globalisierung vor dem Hintergrund, dass politisch zu bearbeitende Herausforderungen vielfach den nationalen Rahmen überschreiten und Repräsentation auch jenseits von staatlichen Institutionen gedacht werden muss, auf der wissenschaftlichen wie politischen Agenda.
Die Tatsache, dass das deutsche Volk zur Bezeichnung der Träger der Demokratie nur über den emphatisch aufgeladenen Einheitsbegriff „Volk“ einerseits und den technokratischen Terminus „Legitimationssubjekt“ andererseits verfügt, offenbart auch eine begriffliche Leerstelle, die es in diesem Forum aus verschiedenen Blickwinkeln näher zu beleuchten gilt. So ist mit Blick auf die Verfasstheit und die „Verfassung“ der Parteien als nicht exklusive aber doch wesentliche Träger der politischen Willens- und Entscheidungsbildung die Transformation von Parteiensystemen in westlichen Demokratien derzeit ein hervorstechendes Merkmal. Tim Wihl konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf die Sozialdemokratie, der für die Bewältigung der weitenteils ökologisch determinierten Klassenfrage eigentlich noch eine Chance verbleibt, sollte sie den im Klimaschutz angelegten Schlüssel der Lastenverteilung unter Abkehr von einer fatalen Wachstumslogik erkennen und das Problem beherzt angehen. Für die anstehenden Konflikte in der Bewältigung des Klimawandels und die vielleicht bislang nur erahnten, sich aber mit voller Wucht stellenden Verteilungsfragen eine Antwort zu geben, ist schon deshalb eine Aufgabe für eine erneuerte Sozialdemokratie, weil anderenfalls möglicherweise Barbarei an die Stelle trete. Vielleicht braucht die deutsche Sozialdemokratie einen neuen Erhard Eppler?
Wie gesellschaftlicher Pluralismus und politische Repräsentation miteinander vermittelt werden können, erörtern Verena Frick und Dana Schmalz jeweils mit unterschiedlichem Akzent. Verena Frick fragt in ihrem Beitrag nach den demokratischen Potentialen lokaler Repräsentation und Partizipation und die dahinter stehenden Annahmen über interne Struktur und Verortung des Trägers eines solchen Teilhaberechts. Dana Schmalz erkennt eine inhärente Spannung zwischen dem potentiell universellen Prinzip demokratischer Selbst-Regierung eines jeden Individuums und der schon aus Gründen der Funktionalität notwendigen Begrenztheit (nicht nur demokratischer) Institutionen. Beide favorisieren klar eine Öffnung des vom Bundesverfassungsgericht und kürzlich auch Bremer Staatsgerichtshofs vertretenen Einheitsbegriffs vom Volk, die dieses in strikter Anlehnung an die Staatsbürgerschaft definieren. Als solchermaßen absolute Kategorie wird „Volk“ von diesen Gerichten nach wie vor als ungeteilter Träger von Demokratie, der sich lokalen oder funktionalen Ergänzungen oder Teilungen versperrt, gesehen.
Die Krisen der Demokratie, aber natürlich auch die Hoffnungen, die sich mit dieser politischen Ordnung in dem langen 20. Jahrhundert mit seinen vielen Brüchen verbunden haben, werden von David Abraham, Dieter Grimm und Christine Landfried behandelt. David Abraham geht auf die fortwährende Bedeutung der sozioökonomischen Voraussetzungen ein. Schon für die Weimarer Republik schien es den Eliten unwiderstehlich, das Recht zu regieren, gegen das Recht zu handeln zu tauschen, was bekanntlich im Ende der Republik mündete. Für die heutige Gefährdungslage der Demokratie empfiehlt er, die Kulturalisierung der Politik, die die Linke betreibt – Stichwort Intersektionalität – zu überwinden und sich wieder mehr um redistribution statt vornehmlich um recognition zu kümmern.
Die Krisen und Versprechen der Demokratie werden von Dieter Grimm mit Blick auf die deutschen Verfassungsumbrüche diskutiert, die sich mit den Jahren 1919, 1949 und 1989 verknüpfen – wie stand das Volk hier jeweils zur Verfassung? Weimar: noch nicht verinnerlicht, Grundgesetz: zwar im Lauf der Zeit verfassungspatriotisch getragen, aber auch nicht vor große Bewährungsproben gestellt, Wiedervereinigung: die Chance der symbolischen Wirkung einer gemeinsamen Verfassungsgebung ausgeschlagen. Dabei hängt am Ende, wenn denn eine populistische Partei sich ans Werk setzt, mit Verfassungsbrüchen die Demokratie umzudefinieren, alles davon ab, wie Dieter Grimm schreibt, „ob sich das Volk auf die Seite der Verfassung stellt“.
Christine Landfried schließlich sieht für die Freiheitlichkeit der Demokratie nicht so sehr das Verhältnis von Pluralität und Einheit, sondern von Pluralität und Allgemeinheit als entscheidend an, da im Prozess der demokratischen Repräsentation die gewählten politischen Eliten im Austausch mit den Bürgern und in demokratischen Verfahren das allgemeine Interesse in verbindliche Beschlüsse zu fassen suchen – wie kann hier noch Verbundenheit „als Voraussetzung der Legitimität von Verbindlichkeit unter den Bedingungen von „zunehmender Differenz und eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der Politik“ erzeugt werden, fragt Christine Landfried.
Die Beiträge sind aus einem zu Ehren des 80. Geburtstages von Ulrich K. Preuß veranstalteten Symposiums am 6. Dezember 2019 an der Hertie School of Governance hervorgegangen. Sein demokratie- und verfassungstheoretisches Werk bildete den ertragreichen Spannungsbogen für die diversen Stellungnahmen und lebhaften Debatten des Symposions, das Ulrich K. Preuß selbst als soziale Plastik verstanden hat, im Sinne der Idee, dass der Mensch durch Denken und Sprechen als ein kontinuierlicher kreativer Prozess eine soziale Struktur entwickeln kann. Wie „UKP“ die Lage der Demokratie heute beurteilt, geht aus seinem Schluss-Statement hervor, das hier dokumentiert ist und in dem er mit Hegel die nicht eben leichtfüßige Frage nach dem Ziel der Geschichte aufwirft. Die normativ überzeugende Antwort auf diese Frage ist bei Preuß freilich nicht Preußen, sondern die liberale Demokratie als eine Form politischer Vergesellschaftung, in der individuelle Freiheit und kollektive Solidarität glücklich verbunden werden. Aber diese Antwort birgt heute ein Problem, das mit dem Begriff der Demokratie selbst zu tun hat. Denn wie Preuß darlegt, fließen hier abstrakt-allgemeine Prinzipien wie Mehrheitsregel, Minderheitenschutz und Kompromissorientierung mit etwas höchst Konkretem und Besonderem in eins – dem Volk als Träger der Demokratie, das immer ein historisch situiertes und umgrenztes Subjekt ist. Wie gelingt die Verbindung von individueller Freiheit und kollektiver Solidarität, wenn die Welt nicht mehr „eine Pluralität von einzelnen jeweils umgrenzten Gesellschaften ist, sondern die Welt eine Welt geworden ist? Wie lösen wir die Probleme der einen Welt“? Mit dieser Frage entlässt uns Ulrich K. Preuß, the legendary, wie es einmal auf dem Verfassungsblog hieß, in die Zukunft.
Das Postulat, wonach die Beantwortung von UKPs Frage allein mit den Mitteln der demokratischen Rationalität möglich ist, möchte ich mit Hinweis auf Heinrich Heine und seine Ausführungen zur menschlichen Komponente anzweifeln:
“Sonderbar! Und immer ist es die Religion, und immer die Moral, und immer der Patriotismus, womit alle schlechten Subjekte ihre Angriffe beschönigen! Sie greifen uns an, nicht aus schäbigen Privatinteressen, nicht aus Schriftstellerneid, nicht aus angebornem Knechtsinn, sondern um den lieben Gott, um die guten Sitten und das Vaterland zu retten.
Die meisten aber unter jenen Franzosenhassern sind Schelme, die sich diesen Haß absichtlich angelogen, ungetreue, schamlose, unehrliche, feige Schelme, die entblößt von allen Tugenden des deutschen Volkes, sich mit den Fehlern desselben bekleiden, um sich den Anschein des Patriotismus zu geben, und in diesem Gewande die wahren Freunde des Vaterlandes gefahrlos schmähen zu dürfen.
Ich habe gesagt, daß bei unseren Teutomanen der affichierte Franzosenhaß ein doppelt falsches Spiel ist. Sie bezwecken dadurch zunächst eine Popularität, die sehr wohlfeil zu erwerben ist, da man dabei weder Verlust des Amtes noch der Freiheit zu befürchten hat. Das Losdonnern gegen heimische Gewalten ist schon weit bedenklicher. Aber um für Volkstribunen zu gelten, müssen unsere Teutomanen manchmal ein freiheitliches Wort gegen die deutschen Regierungen riskieren, und in der frechen Zagheit ihres Herzens bilden sie sich ein, die Regierungen würden ihnen gern gelegentlich ein bißchen Demagogismus verzeihen, wenn sie dafür desto unablässiger den Franzosenhaß* predigten.”
Heinrich Heine, in: Über den Denunzianten, Eine Vorrede zum dritten Teile des „Salons“
http://www.heinrich-heine-denkmal.de/heine-texte/denunziant.shtml