10 March 2023

Das Abgebildete

Sie ist ein Kunstwerk, ein Stück Parlamentsarchitektur, eine Schrift an der Wand, ein Verfassungsmonument: die Installation “Grundgesetz 49” von Dani Karavan vor dem Reichstag in Berlin, betstehend aus meterhohen Glasplatten, auf denen der Text der Artikel 1 bis 19 der bundesdeutschen Verfassung eingraviert ist, auf dass jede Regierungsvierteltourist*in, die an der Spreepromenade die parlamentarischen Mitte der Demokratie passiert, sozusagen im Vorbeispazieren mitgeteilt bekommt, worauf diese Republik sich gründet.

Es ist genau genommen gar nicht der geltende Verfassungstext, der da zu lesen ist, sondern seine Urfassung von 1949, als wären die Grundrechte auf Asyl und auf Unverletzlichkeit der Wohnung auch heute noch so hart und lapidar gefasst wie einst in mythischer Gründerzeit. Ein Denkmal eben. Es ist auch nicht so, dass da viele Menschen tatsächlich stehen bleiben und lesen, würde ich vermuten. Darauf kommt es auch gar nicht an. Es ist schließlich das Parlament, das dieses Denkmal errichtet hat, nicht die Bundeszentrale für politische Bildung. Hier spricht die Republik mit sich selbst. Da steht er, der Text, ob ihn jemand liest oder nicht. Ein Monument eben.

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Artikel eins bis neunzehn. Der Grundrechtekatalog. Der Teil, der die Menschen und ihr Recht betrifft, bevor die ganze eigentliche technische Staatsorganisiererei losgeht. Manche Artikel kennt man auswendig. Andere nicht so. Der Deutsche Bundestag zeigt auf seiner Website ausgerechnet die Scheibe mit Artikel 15: “Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.” Ja ja, Frau Giffey, ob Sie’s glauben oder nicht: Der gehört zum Monumentalbestand der Verfassung mit dazu.

Am letzten Wochenende haben die Klima-Aktivist*innen von der Letzten Generation dieses Kunstwerk mit einigen Kübeln “Erdöl” (in Wahrheit eingefärbter Kleister) übergossen, um zu demonstrieren, was die Grundrechte in Zukunft noch wert sein werden für diejenigen, die noch größere Teile ihres Lebens in der Klimahölle jenseits der 1,5-Grad-Schwelle werden zubringen müssen. Dagegen ist verfassungsrechtlich überhaupt nichts zu sagen. Das ist exakt der Gebrauch der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, den der in dem Kunstwerk monumentalisierte Verfassungstext schützt. Der Verfassung, auch wenn ihr Text vorübergehend hinter abwaschbarem Kleister verschwindet, droht nicht der allergeringste Schaden. Das zu erkennen, ist echt nicht schwer. Und doch führt sich der größere Teil der Politik und der Presse bis weit ins progressive Lager hinein auf, als hielten die Aktivist*innen eine Stalinorgel auf das Bundesverfassungsgericht gerichtet. Was ist da los?

Es ist offenbar nicht allein das Kunstwerk, nicht das Denkmal, nicht das Abbild, das hier als angegriffen wahrgenommen wird, sondern das Abgebildete, die Verfassung selbst. Die Letzte Generation “beschmutze das Grundgesetz”, heißt es. “Die Würde des Grundi ist unantastbar“, so ein Spaßvogel auf Twitter. Die Buchstaben auf den Glasscheiben verweisen nicht nur auf das Grundgesetz, nein: das ist der Text des Grundgesetzes selbst! Die heilige Schrift! Wer sich an ihr vergreift, begeht ein entsetzliches Verbrechen!

Die heilige Schrift also, Kennzeichen aller monotheistischen Religion? Mal sehen: Erstens ist das Grundgesetz, um das Offensichtliche auszusprechen, keine Offenbarung, sondern ein menschengemachtes Gesetz, ein grundlegendes zwar, aber doch eines aus unserer Zeit und für unsere Zeit, aus unserer Welt und für unsere Welt, gestaltbar und vergänglich. Zweitens ist ebenso kennzeichnend für die monotheistischen Religionen das Verbot des Götzendienstes. Das Verbot, sich einen Fetisch zu errichten, das Abbild zu verehren anstelle des Abgebildeten. Wer die Buchstaben auf den Glasscheiben mit der Verfassung gleichsetzt, fetischisiert das Grundgesetz.

Aber das scheint mir noch nicht die ganze Geschichte zu sein. Das Grundgesetz ist, anders als die Heilige Schrift, ein Bund mit uns selbst. Die Republik spricht mit sich selbst. Sie legt sich Bindungen an, Bindungen als Bedingung der Möglichkeit ihrer Macht. Sie bindet sich, die ihrer Macht unterworfenen Menschen Freie und Gleiche bleiben können zu lassen. Sie bindet sich an Grund- und Menschenrechte, die es erwartbar machen, dass diese Menschen das Wagnis eingehen, sich im Zweifel überstimmen zu lassen. Das macht die Republik zur Demokratie. Das ist es, dem der Bundestag durch Dani Karavan ein Denkmal errichten ließ. Das ist das Abgebildete.

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Die demokratische Republik, die in und mit ihrer Verfassung und in und mit diesem Denkmal mit sich selber spricht, ist das Produkt einer bestimmten politischen Konstellation in einer bestimmten Zeit. Ihre Entstehung und Blütezeit fällt ziemlich genau mit der Ära der Industrialisierung zusammen. Den Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit auf produktive Dauer zu stellen, das war ihr Daseinszweck und ihr großer Erfolg. Industrialisierung, das heißt Verbrennen von Kohle, Öl und Gas. Um die Verteilung der unfassbaren Gewinne, die dadurch möglich wurden, ging der Konflikt. Die Gewinne versiegen, die vermeintlich externalisierten Kosten türmen sich unterdessen in schwindelnde Höhen. Nicht nur die Kolonisierung des Raums, auch die Kolonisierung der Zeit hat längst stattgefunden; eine ganze Generation konstatiert, dass ihre Zukunft bereits verfrühstückt ist, bevor sie überhaupt stattfinden konnte. Ein neuer Klassenkonflikt entsteht, eine neue ökologische Klasse, und darüber formiert das ganze politische Feld sich neu. Wer ist links? Wer ist rechts? Wer versucht noch eine Weile, sich im “juste milieu” durchzumogeln? Das ist noch nicht raus. Einigermaßen klar scheint mir jedenfalls zu sein, dass man die SPD wohl per saldo als rechte Partei wird betrachten müssen.

Was heißt das für die Demokratie, für die Grundrechte, für die Verfassung? Spannende Frage. Jedenfalls scheint mir ziemlich unwahrscheinlich, dass alles einfach immer so weitergehen wird. Verfassungen werden durch Klassenkonflikte geformt. Auch dieser wird Spuren hinterlassen. Tut es ja schon. Insoweit haben diejenigen, die die Letzten Generation mit einem Angriff auf die Verfassung in Verbindung bringen, in der Tat einen Punkt.

Naja. Dass den Menschen himmelangst wird bei diesen Aussichten, kann ihnen niemand verübeln. Aber dass sie vor lauter Angst denen, die die Botschaft übermitteln, an die Gurgel springen und sie mitsamt ihrer Botschaft zum Schweigen bringen wollen – das schon.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:

Nach der Veröffentlichung des Vorschlags für eine “Feministische Außenpolitik” durch die deutsche Bundesaußenministerin Annalena Baerbock untersuchen ROMY KLIMKE & CHRISTIAN TIETJE die darin vorgesehene Außenwirtschaftspolitik im Kontext des EU-Rechts. Sie argumentieren, das EU-Primärrecht bilde eine solide Grundlage für eine feministische Handelspolitik, weshalb die entscheidende Frage nicht laute, ob die EU-Außenpolitik feministisch gestaltet werden soll, sondern vielmehr wie.

Ein neues Kapitel in der Geschichte der Krise der europäischen Rechtsstaatlichkeit? LENA KAISER befasst sich mit der akademischen Debatte um den Versuch der EU-Kommission, Art. 2 EUV als eigenständige Bestimmung gegen Ungarn zu mobilisieren. Sie betont die Notwendigkeit glaubwürdiger Unionsinstitutionen und warnt, dass der Ansatz der Kommission mit Vorsicht zu genießen sei.

“No Jab, No Job” – in Italien wurden während der COVID-19-Pandemie weitreichende Maßnahmen ergriffen. MICHELE MASSA erörtert die italienischen Impfvorschriften, die vor kurzem vor dem italienischen Verfassungsgericht überprüft wurden.

Drei Jahre, nachdem die WHO COVID-19 als weltweiten Gesundheitsnotstand einstufte, haben wir zwar die Pandemie, nicht aber die großen globalen krisenhaften Umwälzungen hinter uns, meint THORSTEN KINGREEN. Sowohl im Hinblick auf das Verhältnis zwischen beratender Wissenschaft und entscheidender Politik als auch hinsichtlich Verhaltensweisen, die persönlichkeitsrechtlich geschützt sind, aber erhebliche negative Auswirkungen für die Allgemeinheit haben können, könnten wir für kommende Krisen noch lernen.

Laut JULIA WULFF geraten der Ausbau der erneuerbaren Energien und das Artenschutzrecht zunehmend in Konflikt. Die Novelle des Raumordnungsgesetzes (ROG) stifte in der Praxis eher Verwirrung als Erleichterung.

ADEMIR KARAMEHMEDOVIC setzt sich mit dem Vorschlag der „letzten Generation“ auseinander, einen gelosten Gesellschaftsrat einzusetzen. Pauschal verneinende Kritik daran hält er für „weder wissenschaftlich fundiert noch der Sache angemessen“ und rät zu Gelassenheit.

Die bereits erwähnte Aktion der „Letzten Generation“ am „Grundgesetz-49“-Denkmal unterzieht LORENZ WIELENGA einer juristischen Untersuchung. Die „maßlose und gefährliche Kritik am Klimaschutzaktivismus“ halte weder einer juristischen Analyse stand noch stelle sie dem Zustand der freiheitlichen Demokratie in Deutschland ein gutes Zeugnis aus.

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Am 15. März 2023 um 18 Uhr widmet sich Alexandra Kemmerer in der nächsten Veranstaltung der Ukraine-Vortragsreihe, einer Kooperation zwischen dem Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und der Württembergischen Landesbibliothek, dem Thema „Kriegsverbrechen in der Ukraine: Ermittlung und Ahndung zwischen Recht und Politik“.

Für die Teilnahme im Vortragssaal der WLB ist keine Anmeldung erforderlich. Online können Sie hier teilnehmen.

Mehr Informationen finden Sie hier.

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Vor zwei Monaten haben Chile und Kolumbien bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ein gemeinsames Ersuchen um ein Gutachten zum Klimanotstand und den Menschenrechten eingereicht. Laut VERENA KAHL ebnen sie damit den Weg für die erste bahnbrechende Entscheidung des Gerichtshofs zu diesem Thema.

MARIANA VELASCO RIVERA sieht die mexikanische Demokratie an einem Scheideweg. Die mexikanische Wahlbehörde, das Instituto Nacional Electoral, sei eine Säule der mexikanischen Demokratie, die nun von Präsident López Obrador angegriffen werde. Er und seine Partei stellten die Widerstandsfähigkeit der mexikanischen Demokratie, ihrer Verfassung und des Obersten Gerichtshofs auf die Probe.

Vor vier Jahren entzog der britische Innenminister Shamima Begum die britische Staatsbürgerschaft, nachdem sie in einem Flüchtlingslager in Nordsyrien unter (ehemaligen) IS-Mitgliedern entdeckt worden war. Begum legte gegen diese Entscheidung vor der speziellen Berufungskommission für Einwanderungsfragen Berufung ein. Obwohl die Kommission davon ausging, dass sie wahrscheinlich ein Opfer von Kinderhandel ist, bestätigte sie die Entscheidung des Innenministers. ANJA BOSSOW kommentiert diese “himmelschreiend ungerechte” Entscheidung, die nicht nur “ein Opfer des Kinderhandels ungerecht bestraft, sondern auch auf einen gefährlichen Rückgang des Engagements des Vereinigten Königreichs für die Rechtsstaatlichkeit hinweist”.

Nach den Erdbeben in der Türkei reichte eine Kinderrechts-NGO Klage gegen die staatliche Direktion für religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) und Mitglieder der Sufi-Sekte “İsmailağa” ein, weil sie aus der Not der jungen Erdbebenopfer Kapital schlugen. Vor diesem Hintergrund erklärt  AYTEKIN KAAN KURTUL, wie theokratische Praktiken in einem verfassungsmäßig säkularen Land dazu führen, dass “die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen getreten wird und Kinder missbraucht werden”.

Das südkoreanische Parlament ist mitten in einer Debatte über eine Wahlreform. JOSEPHINA LEE beleuchtet ein Urteil des südkoreanischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2022, das ihrer Meinung nach bedeutende Veränderungen in der politischen Kultur anerkennt und einen großen Einfluss darauf haben könnte, wie künftige Wahlkämpfe in Südkorea durchgeführt werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich einen weiteren Band mit übersetzten Leitentscheidungen veröffentlicht, dieses Mal zum “Allgemeinen Persönlichkeitsrecht” (Art. 2 Abs. 1 GG). Dieser Band beweist, so DIETER GRIMM, dass ein Mittelweg zwischen einer sehr weiten und einer engen Auslegung von Art. 2(1) – wie in seiner abweichenden Meinung im BVerfG-Urteil Reiten im Walde vorgeschlagen – “gangbar und treffend” gewesen wäre.

Nach einer Entscheidung des Landgerichts Berlin, darf die Akademie der Künste die Zeitschrift Sinn und Form nicht mehr herausgeben, da deren staatliche Förderung den freien Wettbewerb behindere. LUISA CELINE ZIMMER bespricht das Urteil. Sie meint, man könne den Sachverhalt zwar als bloßes „formaljuristisches“ Problem deuten, dabei solle man sich aber nicht darüber täuschen, dass das Überleben mehrerer Kulturzeitschriften auf dem Spiel stünde.

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Soweit für diese Woche. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal! Bitte versäumen Sie nicht zu spenden!

Ihr

Max Steinbeis

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SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Das Abgebildete, VerfBlog, 2023/3/10, https://verfassungsblog.de/das_abgebildete/, DOI: 10.17176/20230311-065218-0.

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