07 March 2023

Zwischen den Stühlen

Der Gesetzgeber als Kampfrichter im Umweltschutzrecht

Der Ausbau der Erneuerbaren Energien und das Artenschutzrecht geraten zunehmend in Konflikt. Am Freitag hat der Bundestag gemeinsam mit der Novelle des Raumordnungsgesetzes (ROG) die Einführung bzw. Änderung dreier unscheinbarer Paragraphen beschlossen: § 43m Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), § 72a Windenergie-auf-See-Gesetz (WindSeeG) und § 6 Windenergieflächenbedarfsgesetz (WindBG). Die drei Regelungen dienen der Umsetzung der EU-Notfallverordnung, die im Dezember auf EU-Ebene kurzfristig verabschiedet wurde. Sie soll zur Bewältigung der Energiekrise und Beschleunigung der Energiewende beitragen und ermöglicht befristet den weitgehenden Verzicht auf Umweltverträglichkeitsprüfung und Artenschutzprüfung. Klarer Sieger durch K.O. in der ersten Runde: Die Erneuerbaren Energien.

Erstmals tiefgreifende Änderungen im materiellen Recht

Die Geschichte beginnt Ostern 2022. Mit dem „Osterpaket“ legte die neue Bundesregierung den Entwurf für ein umfangreiches Maßnahmenpaket vor, das endlich den erhofften Durchbruch in Sachen Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren bringen sollte. Am 7. Juli 2022 beschloss der Deutschene Bundestag das Paket. Die Regelungen sind teils bereits im letzten Jahr, teils kürzlich zum 1. Februar 2023 in Kraft getreten.

Nachdem man in Sachen Beschleunigungsgesetzgebung über Jahrzehnte vor allem auf Modifikationen von Verwaltungsverfahren, Verwaltungsprozess und Rechtsschutzmöglichkeiten gesetzt hatte, brachte das „Osterpaket“ nun erstmals auch umfangreiche Eingriffe in das materielle Umwelt- und Naturschutzrecht mit sich. So erkennt der neue § 2 Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in der Errichtung und dem Betrieb von Anlagen der Erneuerbaren Energien ein überragendes öffentliches Interesse und das Anliegen öffentlicher Sicherheit. Außerdem legt er fest, dass dem Ausbau Erneuerbarer Energien im Rahmen einer jeden Abwägungsentscheidung Vorrang eingeräumt werden soll – also auch gegenüber anderen umwelt- und naturschutzrechtlichen Belangen. Das ist neu, denn bisher lag es allein in der Verantwortung der Genehmigungsbehörde, die betroffenen Belange zu bewerten, die Abwägung durchzuführen und einen angemessenen Ausgleich zu finden. Und es weckt Begehrlichkeiten: So entbrannte plötzlich eine Diskussion, ob nicht vielleicht auch die Modernisierung und der Ausbau des Straßennetzes im überragenden öffentlichen Interesse liegen.

Die Novelle des BNatSchG – vergebene Liebesmüh?

Mit dem § 2 EEG als Generalklausel im Rücken wagte sich der Gesetzgeber im Rahmen des „Osterpakets“ dann auch an das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG). Denn vor allem der besondere Artenschutz nach den §§ 44 ff. BNatSchG ist es, der in der Praxis als schier undurchdringlich empfunden wird und Vorhabenträger sowie Behörden regelmäßig zur Verzweiflung bringt. Fast in jedem Gerichtsverfahren zu einem großen Infrastrukturprojekt – ganz egal ob Straßen, Schienen, Wasserwege, Energieleitungen oder Windenergieanlagen – geht es immer auch zu einem großen Teil um den Artenschutz.

Auch die Artenschutzprüfung basiert auf Europarecht, insbesondere auf der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) und der Vogelschutz-Richtlinie (VS-RL). Anders als etwa die Umweltverträglichkeitsprüfung verfügt sie jedoch über kein formalisiertes Prüfungsverfahren, sondern schlägt sich vor allem in einer materiell-rechtlichen Vorschrift nieder: dem artenschutzrechtlichen Tötungsverbot in § 44 Abs. 1 BNatSchG. EuGH und BVerwG kämpften über Jahre um Grenzen und Methodik und haben inzwischen eine dezidierte Rechtsprechung entwickelt, die in der Praxis nicht unbedingt zum besseren Verständnis beiträgt.

Also fasste sich der Gesetzgeber ein Herz und fügte den § 45b BNatSchG neu in das BNatSchG ein. Die ersten fünf Absätze sollen – zumindest für Windenergieanlagen an Land – die artenschutzrechtliche Prüfung strukturieren und standardisieren. Sie arbeiten mit Vermutungsregeln für oder gegen das Überschreiten der in der Rechtsprechung entwickelten sog. „Signifikanzschwelle“ abhängig von der Entfernung des Brutplatzes bestimmter Brutvogelarten von der Windenergieanlage.

Diese Vorgehensweise ist insbesondere bei den anerkannten Umwelt- und Naturschutzverbänden auf Kritik gestoßen. Denn in die Liste der kollisionsgefährdeten Arten (Anlage 1 zu § 45 BNatSchG), für die die Neuregelungen nun gelten, haben es nur fünfzehn Brutvogelarten geschafft. Verlangt worden waren bis zu dreimal so viele. Zunächst war unklar, was das für die übrigen Arten bedeutet. Inzwischen hat das OVG Münster als erstes Oberverwaltungsgericht bestätigt, dass alle übrigen Arten erst einmal als nicht gefährdet gelten und daher auch nicht eingehend zu prüfen sind.

EU-Gesetzgeber überholt Bundestag

Soweit, so unklar. Während nun der § 45b BNatSchG auf sein Inkrafttreten wartete, die Literatur sich in Diskussionen stürzte und die Praxis weitgehend verunsichert war, zog der europäische Gesetzgeber kurzerhand auf der Überholspur an Deutschland vorbei. Am 19. Dezember 2022 erließ der Rat der Europäischen Union die Verordnung EU 2022/2577 zur Festlegung eines Rahmens für einen beschleunigten Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien – umgangssprachlich „EU-Notfallverordnung“.

Darin vorgesehen: Der Verzicht auf Umweltverträglichkeitsprüfung und Artenschutzprüfung im Rahmen der Zulassungsentscheidung für Erneuerbare Energien – also auch das, was der deutsche Gesetzgeber sich in § 45b BNatSchG gerade mühevoll zurechtgelegt hatte. Die Verzichtsmöglichkeit gilt – zunächst befristet auf 18 Monate – umfassend für den gesamten Bereich der Erneuerbaren Energien, der Energiespeicherung und der Stromnetze, soweit das Projekt in einem Gebiet liegt, das der jeweilige Mitgliedsstaat als Gebiet für Erneuerbare Energien oder Stromnetze ausgewiesen hat und für das bereits eine Strategische Umweltprüfung (SUP) durchgeführt worden ist.

Umsetzung in EnWG, WindSeeG und WindBG

Trotz Rechtsform der Verordnung brauchte es nun eine Umsetzung dieser Verzichtsmöglichkeit. Denn Artikel 6 der EU-Notfallverordnung ist als „kann“-Vorschrift formuliert, überlässt es also den Mitgliedstaaten, ob, in welchem Umfang und in welchen Gebieten sie von der Verzichtsmöglichkeit Gebrauch machen wollen. Obwohl der neue § 45b BNatSchG damit – zumindest für die kommenden 18 Monate – weitgehend seinen Anwendungsbereich verliert, zeigte sich der Gesetzgeber nicht beleidigt und schritt umgehend zur Tat.

Die nun beschlossenen § 43m EnWG, § 72a WindSeeG und § 6 WindBG wurden nach bereits durchgeführter erster Lesung über die Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen in das laufende Verfahren zur Novellierung des Raumordnungsgesetzes (ROG) eingebracht und am vergangenen Freitag gewissermaßen im Schnelldurchlauf beschlossen. Sie gelten für Energieleitungen sowie Windenergieanlagen an Land und auf See.

Vorgesehen ist der Verzicht auf die Umweltverträglichkeitsprüfung und Artenschutzprüfung für diese Anlagen hauptsächlich in Gebieten

  • die im Rahmen der Bundesfachplanung nach den §§ 4 ff. Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG) oder als Präferenzraum nach § 12c Abs. 2a EnWG ermittelt wurden,
  • die im Rahmen eines Flächennutzungsplans als Flächen für Windenergie auf See ausgewiesen sind, soweit sie nicht in der Ostsee liegen,
  • oder die als Windenergiegebiet an Land im Sinne des § 2 WindBG ausgewiesen sind.

Artenschutzrechtliche Vermeidungs- und Minderungsmaßnahmen müssen trotz Wegfall der artenschutzrechtlichen Prüfung angeordnet werden. Hilfsweise (WindSeeG, WindBG) oder sogar zusätzlich (EnWG) soll der Vorhabenträger in das nationale Artenhilfsprogramm einzahlen. Dieses nationale Artenhilfsprogramm ist zwar seit Juli 2022 in § 45d BNatSchG vorgesehen ­– eingerichtet ist es aber noch nicht.

Auch für Photovoltaik-Anlagen gibt es Erleichterungen. Der neue § 14b UVPG ermöglicht aber nur den Verzicht auf die Umweltverträglichkeitsprüfung und gerade nicht auf die Artenschutzprüfung. Zur Begründung verweist der Gesetzgeber darauf, dass bei PV-Anlagen regelmäßig weniger Konflikte mit dem Artenschutz aufträten und daher dort kein Beschleunigungspotenzial liege.

Ein Schritt in die richtige Richtung?

Mit der EU-Notfallverordnung und der kurzfristigen Umsetzung in EnWG, WindSeeG und WindBG beweisen der europäische und der deutsche Gesetzgeber Mut – und drehen an den richtigen Schrauben. Denn jahrzehntelange kleinteilige Herumbastelei an einzelnen Vorschriften hat gezeigt, dass im Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess nicht mehr viel zu holen ist. Helfen würde hier langfristig nur eine Aufstockung und bessere Qualifizierung des Personals, das mit den komplizierten Vorschriften umgehen muss – oder eben eine Herabsetzung oder sogar Außerkraftsetzung der materiell-rechtlichen Anforderungen.

Wie so oft trifft der gut gemeinte europäische Ansatz aber auf ein deutsches Rechtssystem, das dafür nicht bereit ist. Denn natürlich will auch die EU-Notfallverordnung nicht, dass der Artenschutz und sonstige Umwelt- und Naturschutzbelange in Zukunft gar nicht mehr berücksichtigt werden. Die Prüfung und Konfliktlösung sollen vielmehr auf vorgelagerten Planungsebenen stattfinden. Wurden dort eine Strategische Umweltprüfung bereits durchgeführt und der Artenschutz bedacht, muss das auf nachfolgender Ebene ja nicht noch einmal geschehen – so der zutreffende Gedanke von Artikel 6 der EU-Notfallverordnung.

Nur gibt das deutsche Planungsrecht das gar nicht her. Artenschutzbelange werden auf Ebene der Bundesfachplanung, in Flächennutzungsplänen und Raumordnungsplänen, die wohl hauptsächlich die Ausweisung der Windenergiegebiete nach § 2 WindBG übernehmen werden, allenfalls überschlägig berücksichtigt. Mehr ist auch gar nicht möglich, denn es gibt in Deutschland keine landesweiten oder auch nur überregionalen artenschutzrechtlichen Kartierungen und Bestandsdaten. Im Normalfall wird die Erfassung konkret projektbezogen in einem kleinräumigen Umfeld durchgeführt. Zwar sieht § 8 Abs. 5 ROG bereits seit dem vergangenen Jahr eine Verordnungsermächtigung zugunsten des Bundesumweltministeriums vor, um Vorgaben zur Berücksichtigung des Artenschutzes auf Raumordnungsebene zu erlassen. Die Verordnung selbst aber fehlt bisher.

Etwas besser sieht es bei den Umweltprüfungen aus: Im Rahmen der Bundesfachplanung und Netzentwicklungsplanung, bei der Aufstellung von Flächennutzungsplänen und Raumordnungsplänen wird regelmäßig eine Strategische Umweltprüfung (SUP) durchgeführt. Im Falle der Bundesfachplanung und der Festlegung von Präferenzräumen nach § 12c Abs. 2a EnWG allerdings ohne daran anknüpfende Rechtsschutzmöglichkeiten, in deren Rahmen die Umweltprüfung überprüft werden könnte.

Verwirrung statt Erleichterung in der Praxis

Wer nun das Gefühl hat, nicht mehr ganz durchzublicken, ist sicher nicht allein. Der Gesetzgeber ist auf dem richtigen Weg, wenn er endlich die komplexen materiell-rechtlichen Anforderungen reduzieren will, die ein EE-Vorhaben bis zu seiner Zulassung durchlaufen muss. Die jetzt vorliegende, mit der heißen Nadel gestrickte Umsetzung der EU-Notfall-Verordnung wirft aber mehr Fragen auf als sie löst.

Denn wer einen Windenergie-Unternehmer fragt, wie viele Projekte er mithilfe der Neuregelungen nun einfacher umsetzen kann, wird nur ein müdes Lächeln ernten. Um die Erleichterungen in Anspruch zu nehmen, muss der Zulassungsantrag bis zum 30. Juni 2024 gestellt sein. Die Vorbereitung der Antragsunterlagen für große EEG-Anlagen nimmt jedoch in der Regel deutlich mehr als 18 Monate in Anspruch. Für bereits in der Planung befindliche Vorhaben sind Umweltverträglichkeitsprüfung und Artenschutzprüfung hingegen wahrscheinlich bereits durchgeführt oder zumindest beauftragt.

Für Windenergieanlagen an Land kommt hinzu, dass die Windenergiegebiete, die in § 2 WindBG gerade erst neu geregelt wurden, noch gar nicht existieren. Die Ausweisungspflichten für die Bundesländer laufen bis Ende 2027 bzw. Ende 2032. Zwar muss die Gebietsausweisung erst im Zeitpunkt der Zulassungsentscheidung vorliegen. Die Antragsunterlagen muss der Vorhabenträger aber trotzdem bis zum 30. Juni 2024 einreichen.

Das Ganze hat etwas von einer Lotterie: Reiche ich die Unterlagen ohne Umweltverträglichkeitsprüfung und Artenschutzprüfung ein und setze darauf, dass mein Bundesland mit der Ausweisung schnell und die Genehmigungsbehörde mit der Zulassungsentscheidung langsam genug ist oder gehe ich auf Nummer sicher und mache alles wie gehabt, einschließlich vollständiger Umweltverträglichkeitsprüfung und Artenschutzprüfung?

Am Ende also vielleicht doch ein Punktsieg für den Artenschutz.


SUGGESTED CITATION  Wulff, Julia: Zwischen den Stühlen: Der Gesetzgeber als Kampfrichter im Umweltschutzrecht, VerfBlog, 2023/3/07, https://verfassungsblog.de/zwischen-den-stuhlen/, DOI: 10.17176/20230307-185251-0.

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