Demokratische Proteste als Majestätsbeleidigung des Grundgesetzes
Über die maßlose und gefährliche Kritik am Klimaschutz-Aktivismus der "Letzten Generation"
Das „Grundgesetz 49“-Denkmal des israelischen Künstlers Dani Karavan unweit des Reichstags in Berlin zeigt die Art. 1-19 GG in ihrer Fassung von 1949 auf gläsernen Scheiben. Es mahnt zur Achtung und zum Schutz der Grundrechte. Am Samstag, den 4. März 2023 haben Klimaschutz-Aktivist:innen der „Letzten Generation“ es mit schwarzer Farbe übergossen. Auf die Glasscheiben klebten sie sodann Plakate mit den Aufschriften „Erdöl oder Grundrechte?“ und „In der Klimahölle gibt es keine Menschenwürde, keine Freiheit, kein Recht auf Leben“. Die breite und heftige Kritik, die die Aktion ausgelöst hat, hält einer juristischen Analyse nicht stand und stellt dem Zustand der freiheitlichen Demokratie in Deutschland kein gutes Zeugnis aus.
Adressaten des Protests, Adressaten von Grundrechten
Adressat des Protests ist ausdrücklich die Bundesregierung, deren Klimaschutzziele der „Letzten Generation“ nicht ambitioniert genug sind. Diese reagierte bemerkenswert empfindlich: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sah durch die Aktion „Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat (…) in den Schmutz gezogen“. Laut Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gebe es „keinerlei Rechtfertigung dafür, ausgerechnet die Grundrechte zu beschmieren“. Die „völlig unwürdige“ Aktion müsse „konsequent strafrechtlich verfolgt werden“. Aus dem Bundestag kamen nicht minder heftige Reaktionen: Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) zeigte sich “erschüttert”. Für Frank Müller-Rosentritt (FDP) sind die „Hasser der Freiheit der letzte Abschaum“. Um den Unrechtsgehalt der „Scheiß-Aktion“ (Konstantin von Notz, Grüne) einzufangen, verglich der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Michael Roth (SPD) die „billige, würdelose Aktion“ mit der Kunst zerstörenden Taliban. Auch für den verteidigungspolitischen Sprecher der Unionsfraktion Florian Hahn (der den Tweet allerdings mittlerweile gelöscht hat) waren die Klimaaktivist:innen „keinen Deut besser als die Taliban“.
Diese maßlosen Reaktionen sind vielleicht nicht überraschend, aber wegen des Einschüchterungseffekts, den sie auslösen können, erwecken sie gleichwohl Unbehagen. Entgrenzte Vergleiche mit einem Terrorregime, das laut UN-Angaben tötet, foltert, willkürlich festnimmt, Kunstwerke sprengt (!) und nicht zuletzt Frauen und Mädchen systematisch unterjocht, sollten nicht Teil des Instrumentenkastens demokratischer Auseinandersetzung sein. Ferner unterfallen nicht ohne Grund Stellungnahmen zu politischen Kundgebungen unter Inanspruchnahme der Autorität eines öffentlichen Amtes einem Neutralitätsgebot. Die Amts- und Mandatsträger:innen sind nicht nur Adressat:innen der Kritik, sondern auch der Grundrechte.
Auch ein Großteil der Presse und Teile der Rechtswissenschaft haben in ihrer Kritik an der Aktion offenbar jedes Maß verloren. Für Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung BILD ist die „Attacke“ (tagesschau) der „Klima-Extremisten“ eine „Demokratieverachtung in Öl“. Die FAZ sieht „formal“ keinen Unterschied zu den „völkischen Hetzern“ der „AfD-Flügelmänner“. Laut SZ sei bei dieser „dümmlichen“ Aktion „kein tieferes Ziel zu erkennen“. Der „Letzten Generation ist die Gesellschaft völlig egal“, findet auch der WELT-Chefredakteur. Der Bielefelder Verfassungsrechtler Franz Mayer rückt deren „Umgang mit der Verfassung“ gleich in die Nähe von Bücherverbrennungen. Welches Vokabular bleibt angesichts all dieser Verbalgeschosse eigentlich noch für tatsächliche Bücherverbrennungen?
Den Protest missverstehen wollen
Die Aktion am Denkmal „Grundgesetz 49“ ist nicht Ausdruck eines demokratiefeindlichen Freiheitsverständnisses. Eine Sprecherin der Gruppe erläuterte die Botschaft: „Erdöl verfeuern oder Grundrechte schützen? Im Jahr 2023 geht nur eines von beidem.“ Kern der Aussage ist die Befürchtung, das weitere Verfeuern fossiler Brennstoffe wie etwa Erdöl mache den Gebrauch grundrechtlicher Freiheiten perspektivisch schwerer oder gar unmöglich. Dieser Gedanke ist keine dystopische Fantasterei. Er ist eine basale Einsicht in Randnummer 117 im Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts: „Die Beschwerdeführenden könnten in ihren Freiheitsrechten verletzt sein, weil das Klimaschutzgesetz erhebliche Anteile der durch Art. 20a GG gebotenen Treibhausgasminderungslasten auf Zeiträume nach 2030 verschiebt. Weitere Reduktionslasten könnten dann so kurzfristig zu erbringen sein, dass dies (auch) ihnen enorme Anstrengungen abverlangte und ihre grundrechtlich geschützt Freiheit umfassend bedrohte. Potentiell betroffen ist praktisch jegliche Freiheit (…).“ Je mehr also die Gegenwart auf fossile Brennstoffe setzt, desto kleiner wird das verfassungsrechtlich vorgezeichnete CO2-Restbudget und desto geringer die künftige Freiheit.
Das symbolische Übergießen der Grundrechte mit „Erdöl“ ist der Versuch, die durch großzügige CO2-Emissionen entstehende verfassungswidrige Freiheitsgefährdung zu veranschaulichen. Darin liegt keine Verächtlichmachung grundgesetzlicher Freiheiten, sondern ein Hinweis auf den drohenden Verlust gerade jener. Die Sachnähe des Protests zum Thema Klimaschutz, die bei nicht allen Aktionen der „Letzten Generation“ ohne Weiteres einleuchtet, ist hier eindeutig gegeben. (Ob man die Aktion geschmack- und wirkungsvoll findet, ist eine andere, in diesem Kontext aber vollkommen irrelevante Frage.)
Juristische Schnell-, Fehl- und Blattschüsse
Aber damit nicht genug. Verfassungsministerin Nancy Faeser macht sich für eine „konsequente strafrechtliche Verfolgung“ der Aktivist:innen stark. Die Polizei Berlin hat Strafverfahren wegen möglicher gemeinschädlicher Sachbeschädigung (§ 304 StGB) und Verstößen gegen das Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin (VersFG Berlin) und das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes (BefBezG) eingeleitet.
Die gemeinschädliche Sachbeschädigung setzt in § 304 Absatz 1 StGB die rechtswidrige Beschädigung oder Zerstörung von unter anderem öffentlichen Denkmälern oder öffentlich ausgestellten Gegenständen der Kunst voraus. Die Zerstörung fordert eine völlige Aufhebung der Gebrauchsfähigkeit der Sache. Für die Beschädigung bedarf es einer nicht ganz unerheblichen Verletzung der Substanz oder eine Beeinträchtigung ihres bestimmungsgemäßen Gebrauchs. Ein äußeres Verunstalten ohne Verletzung der Sachsubstanz ist grundsätzlich nicht von § 304 Absatz 1 StGB umfasst. Bei überdeckenden Substanzen wie Farbe ist eine Substanzbeeinträchtigung nur gegeben, wenn die Verbindung von Sache und Farbe eine unverhältnismäßigen Beseitigungsaufwand verursacht oder den Eingriff in die Substanz der Sache erfordert. Gemäß § 304 Absatz 2 StGB ist auch die unbefugte, nicht unerhebliche und nicht nur vorübergehende Veränderung des Erscheinungsbildes strafbar. Letzteres Merkmal ist nicht erfüllt, wenn die Veränderung binnen kurzer Zeit entfernt werden kann, so etwa bei leicht abwischbaren Verschmutzungen. Das Überplakatieren mittels wasserlöslichen Klebers ist nicht vom Tatbestand umfasst. Beim von der „Letzten Generation“ verwendeten „Erdöl“ handelte es sich nach Polizeiangaben um eine Mischung aus Tapetenleim und Farbe. Sechs Stunden nach der Aktion waren die Tafeln wieder gesäubert. Die Strafverfahren wegen Verstoßes gegen § 304 StGB dürften leerlaufen.
Die Bundesinnenministerin kritisierte nicht nur die Aktion als solche, sie verurteilte zudem, dass sie „auch noch am Bundestag, dem Herz unserer Demokratie“ umgesetzt wurde. Dieser Zusatz ist aus zwei Gründen juristisch bedenklich. Erstens obliegt die Wahl des Ortes zur Meinungskundgabe und Versammlung grundsätzlich den Grundrechtsträger:innen. Eingeschränkt wird dies für fremden Privatgrund und öffentlichen Grund, der nicht dem Gemeingebrauch gewidmet ist. Zweitens sind weder Meinungskundgaben noch Versammlungen am Bundestag anrüchig oder generell verboten. Zwar ist das Gelände um das Reichstagsgebäude als Sitz des Verfassungsorgans Bundestag nach dem BefBezG ein Sonderfall: §§ 2, 4 BefBezG verbieten die Teilnahme an und das Aufrufen zu öffentlichen Versammlungen innerhalb der befriedeten Bezirke als Ordnungswidrigkeit. Gleichwohl sind gemäß § 3 BefBezG Versammlungen im Sinne einer gebundenen Entscheidung zuzulassen, wenn eine Beeinträchtigung der Tätigkeit des Deutschen Bundestags nicht zu besorgen ist. Die Aktion fand an einem sitzungsfreien Samstag statt, was erst einmal dafür spricht, dass die Aktion zulässig war, § 3 Absatz 1 Satz 2 BefBezG. Nach § 3 Absatz 2 Satz 1 BefBezG muss man allerdings einen Antrag stellen, was die Aktivist:innen nicht getan haben. Angesichts des jedenfalls an sitzungsfreien Tagen fraglichen Schutzguts des BefBezG spricht jedoch einiges dafür, diese Pflicht verfassungskonform auszulegen und eine Antragstellung für entbehrlich zu halten. Unabhängig davon ist im vorliegenden Fall das BefBezG nicht zwingend einschlägig. Macht gerade die Versammlungsform den Wirk- und Werkbereich einer hier nicht von vornherein auszuschließenden künstlerischen Betätigung der Aktivistengruppe aus, geht Art. 5 Absatz 3 Satz 1 GG vor. Für die Kunstfreiheit (und Meinungskundgaben im Sinne des Art. 5 Absatz 1 Satz 1 GG) gibt es rund um das Reichstagsgebäude keine Befriedung, vgl. § 5 BefBezG. Hinsichtlich der Strafverfahren auf Grundlage des VersFG Berlin kommt indes in der Tat eine Ordnungswidrigkeit nach § 27 Absatz 1 Nr. 1 mangels gemäß § 12 erforderlicher Anzeige der Versammlung in Betracht. Zwar entfällt eine Anmeldepflicht im Versammlungsrecht regelmäßig bei Spontanversammlungen, eine solche ist aber nicht gegeben bei Versammlungen, die lediglich spontan wirken sollen.
Bei dieser Gelegenheit sollte man sich erinnern, dass diese Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch “Bannmeilen” ein Anachronismus ist, der in einer selbstbewussten und stabilen freiheitlichen Demokratie eigentlich keinen Platz mehr hat.
Freiheitlich ist eine Demokratie in dem Maße, in dem sie Widerspruch gegenüber den Regierenden Raum gibt. Da demokratische Partizipation sich nicht im Wahlgang erschöpft, ist kommunikativer Druck, auch von der Straße, auch vor dem Reichstag, geradezu eine Funktionsvoraussetzung einer freiheitlichen Demokratie. Wird friedlicher Protest in einem gegenwärtig zentralen Politikfeld derart hemmungslos verdammt, besteht Grund, besorgt inne zu halten.
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