13 February 2014

Identitätskontrolle auf Britisch

Der Europäische Gerichtshof braucht sich derzeit über einen Mangel an Herausforderern nicht zu beklagen. Noch vor dem Ultimatum in Vorlagegestalt des deutschen Bundesverfassungsgerichts letzte Woche hat der britische Supreme Court ein europapolitisches Grundsatzurteil gefällt. Und zwar eines, das dem aus Karlsruhe an Wucht kaum nachsteht.

Es geht dabei um ein verkehrspolitisches Großprojekt, das u.a. die Frage aufwarf, ob das Parlament dabei die maßgeblichen EU-Umweltrichtlinien befolgt hatte. Die fordern in der Interpretation des EuGH, dass das Parlament sich angemessen über die umweltpolitischen Folgen des Projekts informiert und sie abwägt.

Die Gegner des Projekts hatten das in Frage gestellt: Die Fraktions- und Parteidisziplin lege den Abgeordneten Fesseln an, die sie daran hindern, ihre Pflichten zu erfüllen.

Den Supreme Court bringt das in eine schwierige Situation: Soll er tatsächlich unter die Lupe nehmen, ob die Art und Weise, wie Parlamentarismus im Mutterland des Parlamentarismus funktioniert, mit irgendwelchen EU-Umweltrichtlinien zu vereinbaren sind?

Das, so die Richter Lord Neuberger und Lord Mance in ihrem Votum, könne man mit dem Vereinigten Königreich nicht machen. Die Bill of Rights von 1689 – “one of
the pillars of constitutional settlement which established the rule of law in
England” – schließe es aus, parlamentarische Debatten und Vorgänge vor Gericht in Frage zu stellen.

It is, putting the point at its lowest, certainly arguable (and it is for United Kingdom law and courts to determine) that there may be fundamental principles, whether contained in other constitutional instruments or recognised at common law, of which Parliament when it enacted the European Communities Act 1972 did not either contemplate or authorise the abrogation.

Die ganz harte Konfrontation vermeiden die Lordrichter, indem sie sich auf die Generalanwälte einschießen: Die seien in ihren Schlussanträgen zu Schlüssen gekommen, die mit dem britischen Parlamentarismus nicht vereinbar seien. Die Urteile des EuGH dagegen ließen, ebenso wie die Richtlinien selbst, versöhnlichere Interpretationen zu.

It is not conceivable, and it would not be consistent with the principle of mutual trust which underpins the Union, that the Council of Ministers should, when legislating, have envisaged the close scrutiny of the operations of Parliamentary democracy suggested by the words used by Advocates General Sharpston and Kokott. The Court will also have been well aware of the principles of separation of powers and mutual internal respect which govern the relations between different branches of modern democracies (…). The Court cannot have overlooked or intended to destabilise these.

Das ist ganz ähnlich konstruiert wie das Urteil des BVerfG zur Antiterrordatei, in der der Erste Senat den EuGH aufgefordert hatte, seine extensive Grundrechtsrechtsprechung zurückzustecken. Der Supreme Court zitiert aus dieser Entscheidung sogar wörtlich:

In a not so dissimilar context, the German Federal Constitutional Court noted in its judgment of 24 April 2013 – 1 BvR 1215/07, (para 91) – that decisions of the European Court of Justice must be understood in the context of the cooperative relationship (“Im Sinne eines kooperativen Miteinanders”) which exists between that Court and a national constitutional court such as the Bundesverfassungsgericht or a supreme court like this Court.

Gestern war der jährliche Presseempfang beim Bundesverfassungsgericht. Dort ist man sehr mit sich zufrieden, jedenfalls was die sechs Mehrheitsrichterinnen und -richter des Vorlagebeschlusses vom letzten Freitag betrifft. Die Entscheidung aus London kam da wohl gerade zur rechten Zeit.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Identitätskontrolle auf Britisch, VerfBlog, 2014/2/13, https://verfassungsblog.de/identitaetskontrolle-auf-britisch/, DOI: 10.17176/20170707-145055.

No Comments

  1. Aufmerksamer Leser Thu 13 Feb 2014 at 15:54 - Reply

    @Max: “Dort ist man sehr mit sich zufrieden”? Ich hätte liebend gern eine Spezifikation von “man” gehört, kommt evtl. noch ein Nachschlag? Oder waren die enthusiasmierten (ich vermute:) Herren nur in einer vertraulichen Hintergrundgrund-Partylaune?

  2. Maximilian Steinbeis Thu 13 Feb 2014 at 16:11 - Reply

    Letzteres. Aber Partylaune ist dann auch wieder übertrieben. Dazu saß dem Senat das Lübbe-Wolff-Votum noch zu sehr in den Knochen.

  3. Aufmerksamer Leser Thu 13 Feb 2014 at 16:21 - Reply

    Hehe. Danke. Das mit den Knochen kann ich nun wiederum sehr gut verstehen…

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