16 January 2023

Demonstrieren schwer gemacht

Das Versammlungsgesetz in Nordrhein-Westfalen auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand

Am 6. Januar 2022 trat in Nordrhein-Westfalen das erste landeseigene Versammlungsgesetz (VersG-NRW) in Kraft. Obschon die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht seit der Föderalismusreform 2006 bei den Ländern liegt, galt in Nordrhein-Westfalen bis Anfang 2022 das Versammlungsgesetz des Bundes fort. Dass der Landesgesetzgeber im Bereich des Versammlungsrechts ein eigenes Landesgesetz vorgelegt hat, ist grundsätzlich begrüßenswert. Das Gesetz ist jedoch in vielerlei Hinsicht freiheitsbeschränkend und daher verfassungsrechtlich angreifbar. Es erweitert die polizeilichen Eingriffsbefugnisse und erschwert Versammlungen. Das angekündigte „moderne“ Versammlungsgesetz wurde nicht geschaffen.

Punktuelle Nachbesserungen reichen nicht aus

Die schwarz-gelbe Koalition, die bis Juni 2022 regierte, legte im Januar 2021 einen ersten eigenen Gesetzesentwurf vor, der rege und kritisch besprochen wurde. Die Kritik an dem Gesetzesentwurf entlud sich im Sommer 2021 in massivem Protest gegen den Entwurf des VersG NRW, woraufhin sich der Koalitionspartner FDP distanzierte („Reul-Entwurf“) und eine Überarbeitung ankündigte. Der nachfolgend eingebrachte Änderungsantrag von CDU und FDP griff die Kritikpunkte der Sachverständigen auf. Unter anderem wurde die Regelung gestrichen, dass Samstage, Sonn- und Feiertage bei der Berechnung der Anzeigefrist außer Betracht bleiben (§ 10 Abs. 1 Satz 4 VersG-E NRW), und das Gewalt- und Einschüchterungsverbot minimal geändert. So entfiel § 18 Abs. 1 Nr. 3 und damit die unbestimmte Formulierung „in vergleichbarer Weise“, nach der Kleidungsstücke, die vergleichbar wirken wie Uniformen oder paramilitärisches Auftreten, zu einem Verstoß gegen das Gewalt- und Einschüchterungsverbot geführt hätten. Eine Entschärfung ist durch diese Änderungen allerdings nur punktuell gelungen, wie Lisa Fürst und Marius Kühne zu Recht analysierten. Am 17. Dezember 2021 beschloss der nordrhein-westfälische Landtag mit den Stimmen von CDU und FDP das Gesetz; SPD, die einen eigenen Entwurf vorgelegt hatte, und Grüne stimmten dagegen, die AfD enthielt sich.

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hat in Zusammenarbeit mit dem Aktionsbündnis „Versammlungsgesetz NRW stoppen!“ am 4. Januar 2023 vor dem Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen Verfassungsbeschwerde gegen das VersG NRW erhoben. Insbesondere greift die Beschwerde die neuen Straftatbestände, die erweiterten Überwachungsbefugnisse der Versammlungsbehörden und das Totalverbot von Versammlungen auf Bundesautobahnen an. Die GFF zielt darauf ab, dass das Gericht die angegriffenen Normen für nichtig erklärt. Besonders an dem Totalverbot von Versammlungen auf Bundesautobahnen (§ 13 Abs. 1 Satz 3 VersG NRW) und dem Gewalt- und Einschüchterungsverbot (§ 18 VersG NRW) werden die freiheitsverkürzenden und -beschränkenden Tendenzen des Gesetzes deutlich.

Demonstrieren ja, aber nicht an jedem Ort?

Der Gesetzgeber schränkt in § 13 Abs. 1 VersG NRW das Selbstbestimmungsrecht der Grundrechtsträger:innen über den Ort der Versammlung ein, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwehren. Bundesausautobahnen werden pauschal als tauglicher Versammlungsort verboten (§ 13 Abs. 1 Satz 3 VersG NRW). Dieses Verbot sei im bundesweiten Vergleich ohne Vorbild, wie die GFF schreibt: „Nirgendwo sonst in Deutschland gibt es ein solches Totalverbot, das einen bestimmten Teil des öffentlichen Raumes prinzipiell von der Versammlungsfreiheit ausnimmt.“ Doch auch in Berlin gibt es nun vergleichbare Entwicklungen. Die oppositionelle CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hat am 12. Januar 2023 einen Antrag zur Änderung des Versammlungsfreiheitsgesetzes eingebracht, wonach auf allen Berliner Autobahnen Versammlungen verboten werden sollen. Nach Ansicht der Fraktion stellen Autobahnen keinen tauglichen Versammlungsort dar. In ihrem Antrag heißt es, Autobahnen seien „unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Orte kommunikativen Austauschs“. Und weiter: „Eine Güterabwägung durch den Gesetzgeber fällt daher zugunsten eines ausnahmslosen Verbots von Versammlungen auf Autobahnen aus.“

Grundrechte haben nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung nicht nur auf die Ausgestaltung des materiellen Rechts Einfluss, sondern setzen ebenso Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung. Dies sei, so das Bundesverfassungsgericht in der Brokdorf-Entscheidung, auch auf Art. 8 GG übertragbar. Als Freiheitsrecht enthalte die Versammlungsfreiheit keine Aussage zur inhaltlichen Gestaltung von Versammlungen und Aufzügen, sondern überlasse diese der freien Selbstbestimmung der Veranstalter:innen.

Nach einer restriktiven Auffassung sollen Versammlungen auf Orte beschränkt werden, für die bereits ein Zugangsrecht besteht.1) Problematisch daran ist, dass der Staat insbesondere durch Widmung bestimmen könnte, welche Orte in den Schutzbereich des Art. 8 GG fallen.

Die besseren Argumente sprechen hingegen für eine extensive Auslegung des Selbstbestimmungsrechts zur Ortswahl, sodass es keine pauschal unzulässigen Versammlungsorte, mit Ausnahme privater Grundstücke, geben kann und Autobahnen somit in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG fallen. Hierfür streitet auch die Bedeutung der Versammlungsfreiheit. Ebenfalls in der Brokdorf-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in überzeugender Weise formuliert, dass die Meinungsfreiheit seit Langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens zähle; für die Versammlungsfreiheit verstanden als Freiheit zur kollektiven Meinungsäußerung könne, so das Gericht weiter, nichts anderes gelten.

Nichtsdestotrotz werden Versammlungen auf Autobahnen nicht schrankenlos gewährleistet. Wenn Rechtsgüter Dritter in empfindlicher Weise bedroht sind, können versammlungsrechtliche Verbote erlassen werden. Die Anforderungen an Versammlungen in Fußgängerzonen sind andere als solche für Versammlungen auf Autobahnen, da diesen gewisse Gefahren immanent sind (Schnellverkehr, Auffahrunfälle auf Stauenden). Nach Abwägung der Interessen obliegt es der Versammlungsbehörde, die Versammlung an einem anderen Ort zu verlegen – vorausgesetzt, der Versammlungszweck lässt dies zu. Besteht jedoch ein enger Konnex zwischen der Autobahn als Versammlungsort und dem Versammlungszweck, wie etwa bei den Demonstrationen gegen Autobahnausbauten, dann erscheint ein Ortswechsel nicht zumutbar. Der Schutz von Rechtsgütern Dritter muss in diesem Falle zurücktreten. Dies zeigt, dass es bei all diesen Erwägungen stets auf Umstände des Einzelfalls ankommt. Dass bei der Abwägung im Einzelfall Rechtsgüter Dritter zugunsten der Versammlungsfreiheit zurückstehen können, negiert § 13 Abs. 1 Satz 3 VersG NRW jedoch. Ein Totalverbot von Versammlungen auf Autobahnen kann nicht verfassungskonform sein, weder in Nordrhein-Westfalen noch in Berlin.

„Militanzverbot“ mit Bestimmtheits- und Kompetenzproblemen

Auch die §§ 18, 27 Abs. 8 VersG NRW sind Gegenstand der Kritik und der Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführenden. Danach sind öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel verboten, wenn durch das Tragen von Uniformen, Uniformteilen oder uniformähnlichen Kleidungsstücken (Nr. 1) oder durch paramilitärisches Auftreten (Nr. 2) Gewaltbereitschaft vermittelt wird und die Versammlung dadurch einschüchternd wirkt. § 18 VersG NRW normiert das sogenannte „Militanzverbot“, im Gesetz als „Gewalt- und Einschüchterungsverbot“ bezeichnet, das grundsätzlich von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als zulässig erachtet wird.2) Um ein solches Verbot zu normieren, seien jedoch strenge und hohe Anforderungen an die gesetzliche Regelung zu stellen; insbesondere seien bestimmte und enge tatbestandliche Voraussetzungen erforderlich.3)

Die Problematik des § 18 VersG NRW liegt in seiner Unbestimmtheit. In der Gesetzesbegründung wird explizit darauf hingewiesen, dass etwa eine Uniformierung dann nicht von dem Verbot erfasst sein soll, wenn die Versammelnden sich nur gleichförmig kleideten. Damit soll wohl eine Kriminalisierung von Berufsträger:innen in Berufungsbekleidung, wie etwa medizinisches Pflegepersonal in Kitteln verhindert werden. Vielmehr müsse zu der Gleichförmigkeit der Bekleidung das subjektive Element hinzutreten, einschüchternd und gewaltbereit wirken zu wollen. Wann jedoch diese Einschüchterungsschwelle überschritten worden ist, bleibt völlig unklar. Die Protestierenden können nicht wissen, wann sie nach Einschätzung der Versammlungsbehörde diese Schwelle übertreten und das Verbot verwirklicht haben. Das kann sie hemmen, von dem Versammlungsrecht tatsächlich Gebrauch zu machen. Durch diesen Abschreckungseffekt (“chilling effect“) wird mittelbar in Art. 8 Abs. 1 GG eingegriffen. Verstärkt wird die Abschreckung durch den drohenden Strafrahmen. So ordnet § 27 Abs. 8 VersG NRW eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe an.

Als Beispiel für eine durch Gleichförmigkeit und Gewaltbereitschaft evozierte Einschüchterungswirkung zieht die Gesetzesbegründung die „uniformierte[n] rechts- oder linksextremistische[n] Verbände der Weimarer Republik wie die SA, die SS und ihre Untergliederungen“ heran, die heutzutage nicht nur in Ausprägung des sogenannten „Schwarzen Blocks“ linksradikaler Störer und Täter oder neonazistischer Gruppierungen aufträten, sondern ebenso in gleichfarbigen Overalls „wie bei den Garzweiler-Demonstrationen im Sommer 2019“.4) Damit stellt der Gesetzgeber anstandslos Aufmärsche der SS und der SA in eine Reihe mit Klimaprotestierenden.

Zweifelhaft ist zudem, ob dem nordrhein-westfälischen Gesetzgeber überhaupt eine Gesetzgebungskompetenz für den Erlass strafrechtlicher Normen zustand oder ob diese nicht vielmehr ausschließlich beim Bund liegt. Folgt man Ulrike Zaremba, wurde § 27 Abs. 8 VersG NRW, sofern er kongruent mit den §§ 28, 3 VersG ist, kompetenzwidrig erlassen, weil der Bund mit dem Erlass der §§ 28, 3 VersG von seiner Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG abschließend Gebrauch gemacht habe.5)

Insgesamt abschreckender Charakter des Versammlungsgesetzes

Das VersG NRW weist durch eine Reihe von teils unbestimmten, teils sehr weitreichenden Regelungen einen abschreckenden Charakter auf, durch die Personen potenziell von der Teilnahme an Demonstrationen abgehalten werden können. Dabei lässt insbesondere das Gewalt- und Einschüchterungsverbot in §§ 18, 27 Abs. 8 VersG NRW die Anforderungen an die Bestimmtheit einer (Straf-)Norm vermissen. Ferner bieten auch die polizeiliche Befugnis zur Aufnahme und Aufzeichnung bei Versammlungen unter freiem Himmel nach § 16 VersG NRW sowie das Störungsverbot in § 7 VersG NRW, worauf hier jeweils nicht eingegangen worden ist, ein Abschreckungspotenzial gerade nicht von der Versammlungsfreiheit Gebrauch zu machen.

Dass das VersG NRW einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unterzogen wird, kann nach der öffentlichen Kritik kaum überraschen. Eine freiheitliche Gesellschaft kann es sich nicht leisten, solcherlei Grundrechtseinschränkungen hinzunehmen. Denn gerade Grundrechte wie jene der Versammlungs- und Meinungsfreiheit stellen das Rückgrat einer starken, wachen und funktionierenden Demokratie dar. Die bereits erwähnte Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Versammlungs- und Meinungsfreiheit grundlegende und unentbehrliche Funktionselemente einer Demokratie darstellen, mag mittlerweile wie eine Binsenweisheit klingen, scheint jedoch, wie sich am Beispiel des VersG NRW zeigt, immer mal wieder aufgesagt werden zu müssen.

Nicht von der Hand zu weisen ist, dass das VersG NRW, wie von den Beschwerdeführenden vorgetragen wird, auch als ein Gesetz gegen den Klimaprotest in NRW gelesen werden kann. Die Gesetzesbegründung nennt explizit als Beispiel der gleichförmigen Bekleidung im Sinne des § 18 VersG NRW die „gleichfarbigen Overalls (wie bei den Garzweiler-Demonstrationen im Sommer 2019)“. Ob die damalige schwarz-gelbe Landesregierung auch mit dem Totalverbot, Autobahnen als Versammlungsort auszuschließen, die Klimaproteste im Sinn hatte, kann nicht mit Gewissheit gesagt werden. Anhaltspunkte dafür finden sich in der Gesetzesbegründung jedenfalls nicht. Die Klimabewegung trifft dieses Verbot jedoch nun am Stärksten. Dass Politiker:innen gewisse Protestformen und – anliegen wie in Nordrhein-Westfalen jene der Klimaaktivist:innen in den Tagebauregionen möglicherweise als unangenehm oder nachgerade störend empfinden, gehört zu einer lebendigen Demokratie dazu und muss – freilich nur so lange keine Gefahren für die öffentliche Sicherheit entstehen – ausgehalten werden.

References

References
1 BVerwGE 91, 135 (138 f.).
2 BVerfG NJW 1982, 1803.
3 Arzt, Stellungnahme zum GesetzE, LT-Drs. 17/3834, 35.
4 GesetzesE, LT-Drs. 17/12423, 77.
5 Zaremba, Das Gewalt- und Einschüchterungsverbot aus § 18 VersG NW, NWVBl 319 (324).