15 December 2023

Den Diskurs öffnen

Ende letzter Woche haben wir einen Text veröffentlicht, der sehr heftige Reaktionen ausgelöst hat – nicht allein wegen seines Inhalts, sondern weil er unter Pseudonym veröffentlicht wurde. Der Artikel von “Clara Neumann” beurteilt die Situation als eine “Diskursverengung”, die durch die Festlegung auf die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) im Ringen um die deutsche Staatsräson entsteht, und beruft sich auf ebendiese als Grund, mit diesem Argument nicht unter Klarnamen an die Öffentlichkeit gehen zu wollen.

Uns haben Zuschriften erreicht, wonach die Formulierung „Diskursverengung“ im Kontext von Israelkritik und Antisemitismus teilweise seinerseits als Anspielung auf antisemitische Verschwörungsmythen verstanden wird. Das war selbstverständlich nicht gemeint, aber wir können nachvollziehen, dass die Formulierung diesen Eindruck erwecken kann. Das tut uns sehr leid. Eine entsprechende Klarstellung in einer Redaktionsnotiz unter dem Artikel haben wir vorgenommen.

Die Diskussion auf Twitter drehte sich aber vornehmlich um einen anderen Punkt: Unter Pseudonym zu publizieren sei “unwissenschaftlich“. Das ist bei näherer Betrachtung sehr interessant.

Das “offene Visier” als Kennzeichen wahrer Wissenschaft – das klingt erst einmal plausibel. Aber warum eigentlich? Den DFG-Leitlinien geben jedenfalls nichts her für die These, Publikationen unter Pseudonym verstießen gegen wissenschaftliche Standards. Ebenso wenig die Leitsätze der Staatsrechtslehrervereinigung. Was nicht geht, ist fremde Gedanken unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Der umgekehrte Fall ist nicht erwähnt.

“Clara Neumanns” Position zur IHRA-Definition zu kritisieren, wie dies LOUISE MAJETSCHAK und LIZA CEMEL in dieser Woche mit großer Eindringlichkeit tun, ist auch ohne Kenntnis der Identität von “Clara Neumann” möglich. Auf dieser Kenntnis zu bestehen als Voraussetzung, sich mit der Überzeugungskraft ihres Argument überhaupt zu beschäftigen, scheint uns zunächst einmal ein simpler Fehlschluss ad personam zu sein.

Den Anschein von Plausibilität erhält dieser Fehlschluss erst durch die Vorstellung, die wissenschaftliche Kontroverse gleiche einer Art Duell-Konstellation zwischen satisfaktionsfähigen Kombattanten, die mit ihrem Namen für ihre Ehrenhaftigkeit einzustehen haben. In der Tat, um Patrick Bahners zu zitieren, war die Durchsetzung der Autorennamen ein Phänomen des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts und “ein Triumph des viktorianischen Ideals der Männlichkeit”. Das ist kein Ideal, dem wir uns verpflichtet sehen.

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Wir sind dazu da, den Diskurs zu öffnen. Wenn es Streit gibt, ob und in welchem Umfang eine “Diskursverengung” mit Blick auf Antisemitismus in Deutschland existiert, dann muss dieser Streit bei uns stattfinden können, und wer uns glaubhaft machten kann, an diesem Streit unter Klarnamen nicht ohne Risiken ad personam teilnehmen zu können, der darf das unter Pseudonym tun, sofern der Text ansonsten unseren Qualitätskriterien entspricht (dazu sogleich). Dass niemand die Deckung der Anonymität zu Untergriffigkeiten ausnützt, darauf passen wir im eigenen Interesse schon auf.

Anders sieht es aus, wenn es nicht um Argumente geht, sondern um Fakten. Dass die stimmen, darauf muss man vertrauen können. Dafür hat man als Autor*in mit seinem Namen zu bürgen. Wenn die Namenszeile fehlt, wie früher beim SPIEGEL und heute noch beim Economist, dann bürgt um so mehr der Name der Publikation für die Faktentreue, weshalb Medienhäuser von Rang und Namen im Interesse ihrer Reputation seit jeher in Kapazitäten für ein umfassendes Factchecking investieren (oder jedenfalls investieren sollten). Wir können das nicht. Wir stecken viel Aufwand in die Qualitätskontrolle, und das umfasst auch Factchecking, aber nicht umfassend. Generell ist bei wissenschaftlichen Publikationsmedien unüblich, die Korrektheit aller faktischen Behauptungen in jedem Artikel noch einmal im Detail nachzuprüfen. Auch im Peer Review wird allenfalls ein Plausibilitätscheck vorgenommen, aber dass alles nachgerechnet und jede Quelle geprüft wird, kann niemand erwarten, um so weniger bei “kollegialen Herausgeberentscheidungen”, wie sie in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht die Staatsrechtslehrervereinigung als ebenso guten Standard genügen lässt. Wenn wir keine Kapazitäten für ein umfängliches Factchecking haben, dann heißt das: wir können diese Bürgschaft nicht übernehmen. Das ist der Fehler, den wir gemacht haben. Der Artikel von “Clara Neumann” enthielt mehrere faktische Unrichtigkeiten, die wir im Nachhinein richtig stellen mussten – keine davon extrem gravierend, aber doch nichts, was man einfach durchgehen lassen könnte. Das geht jetzt zu unseren Lasten. Das wird uns nicht wieder passieren.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von MAXIMILIAN STEINBEIS:

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat die EU mit seinem Veto gegen die Ukraine-Hilfen erfolgreich erpresst, die wegen des Mangels an richterlicher Unabhängigkeit gesperrten Fonds-Milliarden zu einem erheblichen Teil freizugeben. Was macht die Gerichte in Ungarn jetzt plötzlich unabhängig genug für die EU-Kommission? RENÁTA UITZ filetiert das Gesetzespaket, das Orbán zu diese Zweck hat beschließen lassen, und lässt wenig Zweifel daran, dass es der EU-Kommission eigentlich mehr Anlass zur höchsten Besorgnis als zur Zufriedenheit hätte liefern müssen. ERIKA FARKAS und ANDRÁS KÁDÁR listen die Tricks auf, mit denen Orbán die Kommission an der Nase herum geführt hat. AGNES KOVACS nimmt speziell den Obersten Gerichtshof unter die Lupe, dessen Unabhängigkeit Orbán angeblich ebenfalls gestärkt hat – in der Praxis ist das Gegenteil der Fall. LAURENT PECH zieht die Summe aus dem kollossalen Versagen der EU-Kommission und prophezeit eine Zukunft der Rule-of-Law-Kontrolle, die ihm Wesentlichen bloß mehr aus zahnlosem Reporting besteht, nach dem Muster des jährlichen Rule-of-Law-Dialogs des Rats, dessen absolute Nichtsnutzigkeit BENEDETTA LOBINA hervorhebt. God help us!

Orbáns Gesetzespaket nimmt die Zivilgesellschaft an die Kandare, wenn sie Gelder aus dem Ausland (auch aus anderen EU-Mitgliedstaaten) erhalten. In Sachsen hat der Rechnungshof die Finanzierung der Zivilgesellschaft mit staatlichen Mitteln geprüft und befunden, das geschehe zu politisch und lasse die gebotene Neutralität vermissen. Damit werde versucht, der Zivilgesellschaft als Grundrechtsträger die Neutralitätspflichten des Staates als Grundrechtsverpflichtetem überzustülpen, so JONAS DEYDA. “Die rechtspolitische Saat der AfD geht auf.”

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Bundeskanzler Olaf Scholz hat ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD angekündigt – aber nicht der echte Scholz, sondern nur seine Deep-Fake-Version. Das Zentrum für politische Schönheit, das diese Aktion verantwortet, beruft sich auf die Kunstfreiheit. Aber ist das überhaupt Kunst? BENJAMIN POLIAK hält das nicht für ausgemacht.

In Polen hat der Regierungswechsel stattgefunden. Wir gratulieren unserem Autor und Freund Adam Bodnar, dem unbeugsamen Ombudsman zu dunkelsten PiS-Zeiten und jetzt der neue Justizminister! Noch ist allerdings die Justiz und auch die Staatsanwaltschaft vollgepackt mit PiS-Leuten, die den Weg zurück zur Rechtsstaatlichkeit möglichst steinig gestalten können. Was da der Beitritt zur Europäischen Staatsanwaltschaft ausrichten kann, beleuchten ANDRZEJ SCHULTZ und KINGA SCHULTZ.

Wenn die Schufa für Schuldner ein Kreditwürdigkeits-Score errechnet, dann ist das eine Entscheidung, die unter § 22 GDPR fällt. Das hat der Europäische Gerichtshof entschieden, und NATHAN GENICOT untersucht die Tragweite dieses Urteils.

Wie weit reichen die Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs in der Außenpolitik der EU? Und kann sich der Gerichtshof damit zufrieden geben, dass die Verträge ihn außen vor halten, wenn es um Grundrechtsschutz geht? Dazu hat Generalanwalt Ćapeta Schlussanträge erlassen, die ELEANOR SPAVENTA analysiert.

Der Bundestag will die Parteienfinanzierung durch Sponsoring regeln und transparenter machen und vor allem gesetzlich absichern, weil die Parteien das Geld dringend haben wollen. SIMON WANNAGAT findet nicht alles schlecht an dem Gesetzentwurf.

Darf ein Staatsanwalt sich zum Ermitteln von Straftaten unter eine Versammlung mischen? So geschehen jüngst in Wuppertal im Kontext einer Gaza-Großdemo. SIMON PSCHORR sieht darin einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit, für den es keine gesetzliche Grundlage gibt.

Die Ampelkoalition glaubt einen Weg zu einem verfassungskonformen Haushalt 2024 und zur Lösung der Schuldenbremse über die Ausrufung eines Notstands wegen der Ahrtal-Flutkastastrophe gefunden zu haben. ROBERT PRACHT hält das für verfassungswidrig. ULRICH K. PREUSS wirft dem Bundesverfassunsgericht die Schuld, in vier gedankenlosen Zeilen seines Urteils eine veritable Staatskrise ausgelöst zu haben.

Der Klimawandel schreitet unterdessen voran und macht Maßnahmen zur Anpassung notwendig. Der Bundestag hat ein Klimaanpassungsgesetz beschlossen, und was drin steht, erläutert PATRICK HILBERT.

Dürfen Rechtsreferendar*innen streiken? Das ist angesichts der prekären Arbeitsbedingungen, die man auf dem Weg zum 2. Staatsexamen auf sich nehmen muss, keine theoretische Frage. Nach Ansicht von TOBIAS VOGT und CARL CEVIN-KAY COSTE gilt das Streikverbot für Beamt*innen für Rechtsreferendar*innen nicht.

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Wahlreform 2020 ist MATTHIAS ROSSI überhaupt nicht zufrieden.

Zum Thema KI-Regulierung widersprechen HANNAH RUSCHEMEIER und RAINER MÜHLHOFF dem Urteil von Maximilian Wagner aus der Vorwoche: Zwar sei die Strategie von BigTech, mit “ethischen Leitlinien” harte Regulierung abzuwehren, tatsächlich ein Problem. Aber das noch größere Problem sei der direkte Einfluss von BigTech auf die Regulierung. PHILIPP HACKER weist auf die Regulierungslücken hin, die der AI Act offen lässt und die dringend geschlossen werden müssten.

In Australien hat der High Court endlich seine Rechtsprechung zur unbegrenzten Inhaftierung von Migranten geändert: Diese Praxis ist doch mit der Verfassung unvereinbar. JOE McINTYRE feiert diesen dramatischen justiziellen Wetterwechsel.

In Chile steht erneut ein Verfassungsreferendum bevor, diesmal über einen von einer klar rechten Mehrheit erarbeiteten Entwurf, und wahrscheinlich wird es ihm nicht besser ergehen als seinem linken Vorgängerentwurf. RODRIGO KAUFMANN hält das für sehr berechtigt und preist das chilenische Volk für seine Vernunft, eine Verfassung erst zu akzeptieren, wenn es eine Verfassung ist und nicht eine Konstitutionalisierung bestimmter politischer Vorlieben.

21 Blogposts in einer Woche – das hatten wir seit den Tagen der Pandemie nicht mehr, wenn ich mich nicht irre. Jedenfalls sind wir wiedermal am absoluten Limit unserer Möglichkeiten angelangt, und darüber hinaus. Auch deshalb bitte ich Sie, unsere Stellenanzeige oben zu beachten und, wenn Ihnen jemand Geeignetes einfällt, weiterzuleiten.

Und über die Feiertage machen wir Betriebsurlaub, da geht der Rollladen runter, da müssen Sie ohne uns klar kommen.

Ihnen alles Gute!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Editorial Staff, VB: Den Diskurs öffnen, VerfBlog, 2023/12/15, https://verfassungsblog.de/den-diskurs-offnen/, DOI: 10.59704/4c2ba3ae5ab2d1d6.

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