Nur vier Zeilen
Fiat iustitia, pereat res publica
Ein Staat, dessen Regierung am Ende des Jahres nicht ein und aus weiß, wie sie einen verfassungsgemäßen Haushalt für das unmittelbar bevorstehende Folgejahr aufstellen kann, befindet sich in einer veritablen Staatskrise. Nein, was wir erleben, ist nicht lediglich die Krise einer Regierung und der sie tragenden Koalition – es handelt sich tatsächlich um eine Staatskrise. Bis nach Dubai in die Weltklimakonferenz der UN strahlte sie in den letzten Tagen aus, wo Zweifel an der deutschen Fähigkeit geäußert wurden, eingegangene oder angekündigte Verpflichtungen gegenüber der Weltgemeinschaft erfüllen zu können. Ausgangspunkt ist das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November. Es erklärte das vom Bundestag mit der Mehrheit der Ampelkoalition beschlossene Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 vom 18. Februar 2022 für mit dem Grundgesetz für „unvereinbar und nichtig“.
Die vom Senat ausführlich dargelegten Gründe für die Grundgesetzwidrigkeit jenes Haushaltsgesetzes sind überzeugend und bilden für sich genommen keinen Grund für eine Staatskrise – in der langen Geschichte der Bundesrepublik sind schon häufiger Gesetze des Bundestages vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärt worden. Dennoch, es handelt sich dabei keineswegs um eine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, welch komplizierte Rückabwicklungen, Entschädigungen und sonstige Korrekturen der Folgen eines für ex tunc nichtig erklärten Gesetzes aus einem solchen Urteil folgen. Es ist so, als wenn man einen bestimmten Abschnitt der Geschichte noch einmal veranstalten muss, dieses Mal unter Weglassung der ins Werk gesetzten Folgen des für nichtig erklärten Gesetzes.
Und so stellt sich denn die Frage, welche Bedeutung eigentlich die Nichtigerklärung eines Gesetzes durch das Verfassungsgericht hat. Der Tenor des hier in Rede stehenden Urteils beseht aus zwei Elementen; in ihm heißt es, dass das Nachtragshaushaltsgesetz mit verschiedenen, dort aufgezählten Artikeln des Grundgesetzes „unvereinbar und nichtig“ ist. „Unvereinbarkeit“ ist die Feststellung der Erkenntnis einer juristischen Subsumtion; „Nichtigkeit“ dagegen ist eine mögliche Rechtsfolge der Unvereinbarkeit, die autoritativ ausgesprochen werden muss. Ein Gesetz, das mit der Autorität des Gesetzgebers in Kraft gesetzt worden ist, kann nur durch eine ebenso legitimierte Autorität vernichtet werden. Jedenfalls ist eine Nichtigkeitserklärung nicht lediglich das Ergebnis einer juristischen Subsumtion.
Nichtigkeit ist nicht die Feststellung einer durch Subsumtion erschlossenen Rechtsfolge, sondern eine gestaltende Entscheidung des Gerichts. Sie folgt jedenfalls dann nicht automatisch aus der Feststellung der Unvereinbarkeit, wenn aus dieser unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden können. Das muss auch so sein, da ja doch ein Ausschnitt aus einer vergangenen Geschichte neu konstruiert werden muss und hierfür verschiedene Varianten denkbar sind, zum Beispiel: außer der Nichtigkeit ex tunc gibt es die Möglichkeit der Nichtigkeit ex nunc , d.h. ohne Rückwirkung; oder die gerichtliche Anordnung einer Frist für die verfassungsgemäße Korrektur des verfassungswidrigen Gesetzes unter Hinnahme der bisher eingetretenen Folgen jenes Gesetzes; oder, wie es in § 79 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht heißt, der bloße Ausschluss einer Vollstreckung aus einem solchen verfassungswidrigen und für nichtig erklärten Gesetz. Schließlich könnte man – sicherlich ungewöhnlich – in einem so bedeutsamen und folgenreichen Verfahren wie diesem auch an eine Fortsetzung der mündlichen Verhandlung und die Erörterung der Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit des Haushaltsgesetzes mit den Verfahrensbeteiligten denken. Auf jeden Fall erfordert die Erkenntnis der Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz Überlegungen und Entscheidungen darüber, welche Folgerungen aus dieser Erkenntnis gezogen werden können, sollen oder müssen.
Die Problematik einer Nichtigerklärung in einem Tenor des Bundesverfassungsgerichts ist sowohl dem Bundesverfassungsgericht selbst wie auch der Kommentarliteratur zum Gesetz über das Bundesverfassungsgericht geläufig. Im Jahre 1966 erkannte der Erste Senat das damals geltende Umsatzsteuergesetz wegen Verstoßes gegen das Gleichheitsgrundrecht als verfassungswidrig, erklärte es aber nicht für nichtig. Die „besonders große Bedeutung“, die das angefochtene Gesetz „für die Einnahmen des Bundes, aber auch für die Selbstkosten der Unternehmen und die allgemeine Preisgestaltung“ habe, lasse es nicht zu, das ganze Gesetz nur deshalb für nichtig zu erklären, weil bestimme Gruppen gegenüber anderen ungleich behandelt würden.1)
In einer späteren, vom Zweiten Senat ausdrücklich zur Begründung seines jetzigen Nichtigkeitsverdikts herangezogenen Entscheidung heißt es, bei einer Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz sei eine „bloße Erklärung der Unvereinbarkeit insbesondere geboten, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Das ist regelmäßig bei Verletzungen des Gleichheitssatzes der Fall“.2) In beiden Fällen hatte das Gericht die zeitweise weitere Anwendbarkeit des als grundgesetzwidrig erkannten Gesetzes angeordnet. In dem zuerst genannten Fall aus dem Jahr 1966 handelte es sich um eine Verfassungsbeschwerde; hier überging das Gericht die Anordnung des § 95 Abs. 3 BVerfGG, dass im Falle einer stattgebenden Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz „das Gesetz für nichtig zu erklären (ist)“. In dem erwähnen zweiten Fall, einer Richtervorlage gem. Art. 100 GG, ignorierte das Gericht die Vorschrift des § 78 BVerfGG, die besagt, dass das Gericht im Falle der Erkenntnis der Unvereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz das Gesetz „für nichtig (erklärt)“.
In einem der großen Kommentare zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz lesen wir zum Thema der weiteren Anwendbarkeit eines für verfassungswidrig erkannten Gesetzes: „Die Anordnung der weiteren Anwendbarkeit schützt bedeutende Gemeinwohlinteressen – etwa das Interesse des Staates an kontinuierlichen Steuereinnahmen – vor den Folgen einer übergangslos eintretenden Nichtigkeit verfassungswidriger Normen …“3). An anderer Stelle heißt es: „Die Abwägung, die Grundlage für die Anordnung der weiteren Anwendung ist, erfordert sowohl eine Gewichtung der Folgen für das Gemeinwohl, die durch den sofortigen Wegfall der verfassungswidrigen Regelung entstehen, als auch der Belastung der Gesetzesadressaten durch die weitere Anwendung der verfassungswidrigen Norm. …“4)
Diese Stimmen dürften auch dem Senat, der mit seiner Entscheidung die Bundesrepublik in eine tiefe Krise gestürzt hat bekannt sein. Oder doch nicht? Er widmete den Folgen der Nichtigkeit ganze vier Zeilen einschließlich eines für dieses Verfahren nicht einmal einschlägigen Zitates einer früheren Entscheidung desselben Senats. Diese vier Zeilen könnten Eingang in die Geschichtsbücher finden:
„Für eine von der grundsätzlichen Regelung in § 95 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 78 Satz 1 BVerfGG abweichende Unvereinbarkeitserklärung besteht mangels Vorliegens der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierfür erforderlichen Voraussetzungen (vgl. BVerfGE 105, 73 [133] ) kein Anlass.“
Im Klartext: wir brauchen uns wegen der Folgen unserer Entscheidung keine Gedanken zu machen, weil „nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ die bisher zu dem Problem der Nichtigerklärung von Gesetzen behandelte Konstellation der Verletzung des Gleichheitssatzes hier nicht vorliegt. Immerhin geht es um den Wegfall von 60 Milliarden aus einem Haushalt von ca. 440 Milliarden Euro. Es handelt sich dabei um die Haushaltsmittel, die der Lösung dringender gesellschaftlicher Probleme wie der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung der industriellen Kompetenz des Landes an die grundlegenden geopolitischen Wandlungen der Gegenwart gewidmet waren. Es stimmt, es geht hier nicht um den Gleichheitssatz, sondern um das Haushaltsgesetz des Bundes. Es stimmt auch, dass es zur weiteren Anwendbarkeit eines grundgesetzwidrigen Haushaltsgesetzes keine exakt passende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gibt.
Man hätte bei der Bedeutung des Gerichts jedoch erwarten dürfen, dass diese neue Konstellation ein Aufruf an den Senat gewesen sein sollte, in die juristische Logik der bislang vom Gericht verhandelten Fälle der Anordnung der weiteren Anwendung des für verfassungswidrig erkannten Gesetzes einzudringen und zu fragen, ob jene, durch die Kommentarliteratur bekräftigten Gründe für eine solche Anordnung aus den bisherigen Fällen nicht auch hier bedeutsam sind. Doch stattdessen: Vier Zeilen und das Zitat einer Entscheidung des Gerichts, das vom Gericht irrigerweise als Bekräftigung seiner Entscheidung verstanden wurde – es hätte ein Aufruf zum weiteren Nachdenken sein sollen. Denn immerhin sagt die Formulierung, auf die das Gericht die Leser seiner Entscheidung hinweist, dass Probleme des Gleichheitssatzes regelmäßig bei Verletzungen des Gleichheitssatzes, aber eben nicht ausschließlich dort auftauchen. Wenn in dem Falle einer gleichheitswidrigen Benachteiligung bestimmter Gruppen von Rentenempfängern eine Anordnung der weiteren Anwendbarkeit eines für grundgesetzwidrig erkannten Gesetzes gerechtfertigt ist – wie sehr viel dringlicher wäre eine solche Anordnung in dem Falle eines Haushaltsgesetzes, das nichts weniger ist als die institutionelle Lebensader der Nation für das jeweils nächstfolgende Jahr.
Darf sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung nur an der Weisheit der Vergangenheit orientieren? Der Erste Senat des Gerichts beantwortete diese Frage bekanntlich in seinem Beschluss vom 24. März 2021 zum Klimaschutzgesetz ganz anders als der Zweite.
Vier Zeilen, eine Gedankenlosigkeit, eine Staatskrise – es gibt Katastrophen, die nicht von außen kommen.