13 December 2023

Rechtsreferendare dürfen streiken

Zum Arbeitskampf im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis

Das Arbeitskampfrecht von Rechtsreferendaren hat bisher wenig Beachtung gefunden. Ver.di rief jedoch für den Streik am 4.12.2023 explizit auch alle Beschäftigten an den Gerichten und Staatsanwaltschaften zum Arbeitskampf auf. Daher könnte die Frage nach dem Arbeitskampfrecht von Rechtsreferendaren künftig praxisrelevant werden. Schließlich sind die Arbeitsbedingungen für Rechtsreferendare prekär. Statt einer Vergütung zahlt beispielsweise Hamburg lediglich eine Unterhaltsbeihilfe. Sie liegt unter dem Mindestlohn und ist bundesweit die Niedrigste. Nebenverdienste werden streng angerechnet. Besserung scheint nicht in Sicht.

Grund genug, sich näher mit der Frage des Streikrechts von Rechtsreferendaren zu befassen. Der nachfolgende Beitrag lässt sich in fünf Thesen zusammenfassen:

  1. Der sachliche und persönliche Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG ist für Rechtsreferendare eröffnet.
  2. Das richterrechtlich aus Art. 9 Abs. 3 GG entwickelte Arbeitskampfrecht ist auf Rechtsreferendare übertragbar.
  3. Das aus Art. 33 Abs. 5 GG folgende Streikverbot für Beamte gilt für Rechtsreferendare nicht.
  4. Streikziel muss ein Tarifvertrag sein. Ein Streik, der auf die Änderung der Unterhaltsbeihilfenverordnung abzielt, wäre als politischer Streik rechtswidrig.
  5. Eine Bestreikung des Sitzungsdienstes der Staatsanwaltschaft wäre verhältnismäßig.

Das öffentlich-rechtliche Ausbildungsverhältnis

In der Radikalenerlass-Entscheidung1) hat das BVerfG anerkannt, dass der Staat die Rechtsform des Ausbildungsverhältnisses frei wählen kann. Viele Bundesländer haben sich für das öffentlich-rechtliche Ausbildungsverhältnis entschieden. Deswegen ist zunächst zu klären, wie dieses rechtlich einzuordnen ist.

Es ist kein Beamtenverhältnis im statusrechtlichen Sinn. Ebenso liegt kein zivilrechtliches Verhältnis vor. Stattdessen besteht ein Rechtsverhältnis sui generis. Hamburg regelt die Einzelheiten in § 36 ff. HmbJAG. So regelt § 37 Abs. 1 HmbJAG, dass die für Beamte auf Widerruf geltenden Bestimmungen mit wenigen Ausnahmen „entsprechend“ gelten.

Mangels eines statusrechtlichen Beamtenverhältnisses gelten die aus Art. 33 Abs. 5 GG folgenden „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ nur eingeschränkt. BVerfG2) und BVerwG3) verneinen für Rechtsreferendare das Alimentationsprinzip. Grund sei, dass Referendaren kein Amt im statusrechtlichen Sinne übertragen werde. Die Unterhaltsbeihilfe sei lediglich eine Hilfe, um den Lebensunterhalt bei der Ausbildung zu sichern.4) Auch sei die Distanz vom Staat zu Referendaren größer als bei Statusbeamten.5)

Anwendbarkeit des Arbeitskampfrechts? Eröffnung des Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG!

Ob das für Arbeitnehmer entwickelte Arbeitskampfrecht auf Rechtsreferendare übertragbar ist, ist davon abhängig, ob der Streik von Rechtsreferendaren vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst ist.

Grund ist, dass das Arbeitskampfrecht nicht gesetzlich geregelt ist. Stattdessen folgt es als gesetzesvertretendes Richterrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG. Hierzu wiegt die Rechtsprechung die kollidierenden Verfassungsgüter ab. Auch das Arbeitskampfrecht für Rechtsreferendare ist bisher nicht in einem formellen Gesetz geregelt.

Der persönliche Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG („jedermann“) umfasst mangels jedweder Beschränkung auch Referendare im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis.

Der sachliche Schutzbereich Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG fordert, dass eine Vereinigung der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dient. Art. 9 Abs. 3 GG schützt als Doppelgrundrecht nicht nur die Vereinigung selbst, sondern als Individualgrundrecht gleichzeitig die von der Koalitionsfreiheit umfassten Handlungen Einzelner. Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen meint als Begriffspaar die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird.6)

Der Wortlaut „Arbeits-[bedingungen]“ könnte nahelegen, den sachlichen Schutzbereich für Rechtsreferendare nicht zu eröffnen, da sie noch in Ausbildung sind. Dagegen spricht jedoch, dass auch während der Ausbildung eine weisungsabhängige Arbeitsleistung erbracht wird, in welcher sich ein Ober-Unterordnungsverhältnis ausdrückt.

Gegen die Eröffnung des sachlichen Schutzbereichs ließe sich anführen, dass § 611a BGB den Arbeitnehmerbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG konkretisiert, welcher wiederum Referendare nicht erfasst. Das Argument überzeugt jedoch nicht. Der verfassungsrechtliche Begriff der Arbeit kann nicht einfachgesetzlich beschränkt werden. Eine so enge Begrenzung des Arbeitsbegriffs widerspräche der Grundrechtsverwirklichung durch einen weiten Schutzbereich. Eine derart starke Einschränkung des Schutzbereichs ist auch nicht notwendig, da eventuelle Besonderheiten des Rechtsreferendariats in der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden können. Ansonsten könnte der Staat durch die Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG entfliehen.

Besonders der Zweck des Art. 9 Abs. 3 GG spricht dafür, Rechtsreferendare zu erfassen. Art. 9 Abs. 3 GG zielt darauf ab, dass abhängig Beschäftigte im Wege der kollektiven Privatautonomie auf die Bedingungen Einfluss nehmen können, unter denen sie tätig sind. Zu diesen Bedingungen zählen neben der Vergütung auch die Arbeitsumstände, auf die sie wegen des Hierachieverhältnisses weniger Einfluss haben als bei üblichen Austauschverhältnissen.

Auch die Rechtsprechung des BAG legt nahe, dass der Streik von Rechtsreferendaren vom sachlichen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst sind. So bejaht das BAG das aus Art. 9 Abs. 3 GG folgende Recht auf Teilnahme am Arbeitskampf für Auszubildende,7) obwohl bei ihnen der Ausbildungszweck gegenüber dem Arbeitszweck überwiegt.

Keine Übertragbarkeit des beamtenrechtlichen Streikverbots des Art. 33 Abs. 5 GG

Das BVerfG hat 2018 das Streikverbot für Beamte als eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums aus Art. 33 Abs. 5 GG gefolgert.8) Das Streikverbot folge aus der Treuepflicht des Beamten. Art. 9 Abs. 3 GG werde durch Art. 33 Abs. 5 GG als Recht mit Verfassungsrang dahingehend begrenzt, dass Beamte im statusrechtlichen Sinne nicht streiken dürften.

Sofern das aus Art. 33 Abs. 5 GG gefolgerte Streikverbot sich auf das öffentlich-rechtliche Ausbildungsverhältnis übertragen ließe, scheitert hieran ein Arbeitskampf von Rechtsreferendaren. Doch Art. 33 Abs. 5 GG betrifft Beamte im statusrechtlichen Sinn. Das BVerfG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Rechtsreferendare das nicht sind.  Für das öffentlich-rechtliche Ausbildungsverhältnis gilt Art. 33 Abs. 5 GG nur eingeschränkt.9) Jede Übertragung der Anwendung von Art. 33 Abs. 5 GG für Rechtsreferendare ist begründungspflichtig.

Das Bundesverfassungsgericht führt im Wesentlichen drei Argumente an, mit denen es das Streikverbot für Beamte begründet. Kein einziges passt für Rechtsreferendare.

Erstens argumentiert das BVerfG, der Ausgleich für das Streikverbot sei das Alimentationsprinzip.10) Beide Grundsätze seien untrennbar wechselseitig miteinander verbunden. Der Staat gewährleistet die lebenslange Alimentation, im Gegenzug benötige der Beamte kein Streikrecht. Stattdessen könnte er sich als milderes Mittel auf sein grundrechtsähnliches Individualrecht auf amtsangemessene Alimentation stützen. Das Alimentationsprinzip steht jedoch Rechtsreferendaren im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis nicht zu.

Zweitens argumentiert das BVerfG, dass Beamte gesetzlich abgesichert (§ 118 BBG; § 53 BeamtStG) durch ihre Spitzenorganisationen Einfluss nehmen könnten.11) Das sei ein Ausgleich zum Streikverbot. Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 33 Abs. 5 GG werde schonend zum Ausgleich gebracht. Auch das Argument ist nicht auf das Rechtsreferendariat im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis übertragbar. Eine vergleichbare Möglichkeit Einfluss zu nehmen fehlt.

Drittens argumentiert das BVerfG, das Streikverbot sei mit Art. 11 Abs. 1 EMRK vereinbar.12) Dieser sei wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG zu berücksichtigen. Ein Streikverbot für Rechtsreferendare würde jedoch in Art. 11 Abs. 1 EMRK eingreifen. Eine Rechtfertigung hierfür nach Art. 11 Abs. 2 EMRK ist nicht ersichtlich. Insbesondere kommt die Rechtfertigung der „Staatsverwaltung“ nicht in Betracht. Wie etwa das OVG Hamburg klargestellt hat, soll im Referendariat nicht die Arbeitsleistung (für den Staat) nutzbar gemacht werden.13) Ein Streikverbot für Rechtsreferendare würde gegen Art. 11 Abs. 1 EMRK verstoßen, was auch bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG zu berücksichtigen ist.

Das Streikverbot könnte sich allenfalls dadurch ergeben, dass der Gesetzgeber Art. 9 Abs. 3 GG durch ein einfaches Gesetz beschränkt. Für Rechtsreferendare gelten die Regelungen für Beamte auf Widerruf regelmäßig „entsprechend“, siehe etwa § 37 Abs. 1 HmbJAG. Die Übertragbarkeit scheitert jedoch bereits daran, dass auch Beamte auf Widerruf keine Beamten im statusrechtlichen Sinne sind.14)

Zusammengefasst gilt das aus Art. 33 Abs. 5 GG abgeleitete Streikverbot für Beamte nicht für Rechtsreferendare im öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis.

Die Frage des Streikziels – (k)ein politischer Streik

Weiterhin stellt sich die Frage des zulässigen Arbeitskampfziels. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist das Arbeitskampfrecht tarifakzessorisch.15) Das bedeutet, dass der Arbeitskampf nur rechtmäßig ist, wenn ein tariflich regelbares Ziel verfolgt wird. Politische Forderungen, die sich an den Gesetzgeber richten, sind demgegenüber nicht tariflich regelbar. Politische Streiks sind rechtswidrig. Ansonsten bestünde ein Konflikt mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 GG). Der Erlass von Gesetzen und Verordnungen obliegt dem demokratisch legitimierten Staat. Die parlamentarische Willensbildung darf nicht den Druck einzelner Gruppen behindert werden, die ihre Partikularinteressen durchsetzen.16)

Würden Rechtsreferendare für eine Erhöhung der Unterhaltsbeihilfe streiken, läge ein rechtswidriger politischer Streik vor. Schließlich ist die Unterhaltsbeihilfe regelmäßig in einer Verordnung geregelt. So ist gemäß § 37 Abs. 2 S. 4 HmbJAG etwa der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg ermächtigt. Auf den Senat der FHH als demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan darf kein streikbedingter Druck ausgeübt werden.

Allerdings ist es möglich, stattdessen als Streikziel einen Tarifvertrag für Rechtsreferendare zu fordern. Dann liegt kein politischer Streik vor.

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Referendare an einem bereits laufenden Arbeitskampf mit bestehenden Streikzielen teilnehmen. Ein Beispiel ist der Arbeitskampf des öffentlichen Dienstes. Hier hat Ver.di auch die Beschäftigten der Gerichte und der Staatsanwaltschaft zum Streik aufgerufen. Mangels expliziter Beschränkung auf Arbeitnehmer sind auch Rechtsreferendare erfasst.

Die Verhältnismäßigkeit – mögliche kollidierende Verfassungsgüter

Zuletzt sollen einige Probleme der Verhältnismäßigkeit eines Arbeitskampfes der Rechtsreferendare beleuchtet werden. Bisher unbekannte verfassungsrechtliche Herausforderungen ergeben sich etwa, sollten Rechtsreferendare den Sitzungsdienst der Staatsanwaltschaft bestreiken.

Dann wäre die Staatsanwaltschaft gezwungen, die Sitzungstage (je Referendar bis zu drei pro Woche) durch eigene Vertreter wahrzunehmen. Gerade wegen der dort ohnehin angespannten Personallage dürfte sich die Aktenbearbeitung verzögern. Rein hypothetisch wäre es möglich, dass Hauptverhandlungen mangels Vertreter der Staatsanwaltschaft kurzfristig neu terminiert werden müssten. Strafverfahren könnten sich verzögern.

Ob ein Arbeitskampf verhältnismäßig ist, bemisst sich mangels gesetzlicher Regelung durch eine Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter. Diskussionswürdig ist besonders die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Laut BAG ist ein Arbeitskampfmittel verhältnismäßig im engeren Sinn (proportional), dass sich unter hinreichender Würdigung der grundrechtlich gewährleisteten Betätigungsfreiheit zur Erreichung des angestrebten Kampfziels unter Berücksichtigung der Rechtspositionen der von der Kampfmaßnahme unmittelbar oder mittelbar Betroffenen als angemessen darstellt.17)

Als mittelbar Betroffene kommen etwa Angeklagte in Strafverfahren in Betracht. Zu ihren Gunsten ist der Grundsatz des fairen Verfahrens in der Ausprägung des Verfahrens in angemessener Frist zu berücksichtigen (Art. 20 III GG i.V.m. Art. 2 I GG i.Vm. Art. 6 I 1 letzt. Hs EMRK). Eine abstrakte maximale Gesamtlänge ist nicht bestimmbar.18) Stattdessen hängt sie von den Umständen des jeweiligen Verfahrens ab. Wägt man den Grundsatz des fairen Verfahrens mit Art. 9 Abs. 3 GG ab, ist kein abstrakter Vorrang erkennbar. Bei der konkreten Abwägung gilt: Je intensiver die Beeinträchtigung einer verfassungsrechtlich geschützten Position, desto höher sind die Anforderungen an die Rechtfertigung durch das kollidierende Verfassungsgut. Bei einer Bestreikung des Sitzungsdienstes der Staatsanwaltschaft wäre die Beeinträchtigung für Angeklagte selbst bei einer Terminverlegung äußerst gering. Im Verhältnis zur üblichen Gesamtlänge von mehreren Monaten wären selbst Verzögerungen um mehrere Wochen vernachlässigbar. Auch könnte die Staatsanwaltschaft einzelne Verfahren priorisieren, um Verzögerungen gering zu halten. Wegen der geringen Eingriffsintensität in das Gebot des fairen Verfahrens sind die Anforderungen gering, damit Art. 9 Abs. 3 GG überwiegt und der Arbeitskampf verhältnismäßig ist. Zugunsten der streikenden Rechtsreferendare lässt sich etwa anführen, dass sie mangels zivilrechtlichen Vertragsschlusses keinen anderen Einfluss auf die Vergütung als den Arbeitskampf haben. Somit überwiegt das A