Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten
Auf dem Weg zu einer präziseren Antisemitismusdefinition
Nach den monströsen Massakern der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung am 7. Oktober, bei denen die Hamas über 1200 Menschen brutal ermordete, rund 3000 verletzte und über 200 als Geiseln verschleppte, hat die Bundesregierung die von Angela Merkel eingeführte und vom Bundestag im BDS-Beschluss von 2019 sekundierte Formel von Israels Sicherheit als Teil deutscher Staatsräson aufgenommen, um Israel ihre volle Solidarität und Unterstützung zu versichern und Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen.1)
Angesichts des bedrohlichen Anstiegs antisemitischer Straftaten in Deutschland und der anhaltend schlechten Sicherheitslage im Nahen Osten sind beide Ziele der Staatsräson grundsätzlich zu begrüßen. Doch die aktuelle Interpretation von Israels Sicherheit und entschlossener Antisemitismusbekämpfung als deutscher Staatsräson führt zu Einschränkungen der Versammlungs-, Meinungs-, Kunst-, und Wissenschaftsfreiheit. Diese Interpretation der Staatsräson stützt sich auf die nicht klar abgegrenzte Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Association (IHRA), auf deren Grundlage legitime Kritik an der in Teilen rechtsextremen israelischen Regierung als Antisemitismus charakterisiert werden kann; in den letzten Jahren hat sich dadurch der diskursive Raum zulässiger Kritik an Israel in Deutschland verengt. Eine präzisere Antisemitismusdefinition ist nötig, um die bestehende Spannung zwischen Staatsräson und Grundrechten abzuschwächen. Diese wird nur durch eine Weiterentwicklung der deutschen Erinnerungskultur implementiert werden können, durch die auch das Schicksal der Palästinenser und ihre bis heute andauernde Entrechtung als eine indirekte Folge des Holocaust anerkannt wird.
Staatsräson und Antisemitismus
Das Bundeskabinett hat die erweiterte Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA im Jahr 2017 zur Kenntnis genommen und empfiehlt seitdem ihre umfassende Berücksichtigung. Die IHRA definiert Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Die erweiterte Definition beinhaltet zudem folgenden Satz zu israelbezogenem Antisemitismus: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Die IHRA-Definition wird in der wissenschaftlichen Diskussion wegen ihrer Fokussierung auf israelbezogenen Antisemitismus und die vage Definition desselben durch eine Reihe von Beispielen kritisiert (1,2,3,4), weshalb die UN-Sonderberichterstatterin für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit die Mitgliedstaaten auffordert (Abs. 71ff.), die Definition nicht weiter zu verwenden. Die Definition kann nicht losgelöst vom politisch-historischen Kontext des Nahostkonflikts verstanden werden, der auch ein internationaler Deutungskampf um die Analyse der aktuellen Situation, der Geschichte und der sich jeweils daraus abzuleitenden Schuld ist. Die Definition ist ein Teil dieses Deutungskampfes, insofern sie es ermöglicht, dass legitime Kritik an der israelischen Politik als antisemitisch kategorisiert wird. So lässt sich das die Definition präzisierende Beispiel „das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“ so interpretieren, dass bereits die Rede von Apartheid als antisemitisch eingestuft wird. Auch der von der IHRA-Definition unterschiedene, aber dennoch oft als einfacher Antisemitismus-„Schnelltest“ im Zuge der IHRA-Definition verwendete, „3-D-Test“ lässt viele israelkritische Äußerungen antisemitisch erscheinen (1, 60ff.; 2, 293ff.). So kann als Doppelstandard schon kritisiert werden, dass Wissenschaftler*innen oder Aktivist*innen dem Nahost-Konflikt mehr Aufmerksamkeit widmen als anderen Konfliktgeschehen.2) Die anderen beiden vage formulierten Facetten des „3-D-Tests“, Delegitimierung und Dämonisierung von Israel, können selbstredend antisemitisch sein. Sie sind aber auch erwartbare Elemente der politischen Kommunikation der unter Besatzung lebenden Palästinenser und mit ihnen solidarischen Menschen, und deshalb ohne weitere Spezifikation keine geeigneten Kriterien für Antisemitismus.3)
Im Bundestagsbeschluss zur Einrichtung des Amts des Antisemitismusbeauftragen Anfang 2018 wird diesem Fokus auf israelbezogenen Antisemitismus entsprechend nur die Gefahr durch israelbezogenen und „durch Zuwanderung erstarkenden Antisemitismus“ ausführlich erläutert, obwohl „der größte Teil antisemitischer Delikte […] weiterhin rechtsextrem motiviert“ sei. In einer Antwort auf eine schriftliche Frage zum Umsetzungsstand erläutert die Bundesregierung 2019, dass die Empfehlung zwar nicht rechtlich bindend sei, aber von ihr dennoch – als politisches Signal – handlungsleitende Wirkung für „alle Anwender“ ausginge (dazu kritisch). Innerhalb der Bundesverwaltung sei die Anwendung in Sicherheitsbehörden, dem Verfassungsschutz, in der Definition zu politisch motivierter Kriminalität, der politischen Bildung, der Richter*innenausbildung, und der Demokratieförderung implementiert.
Auch der BDS-Beschluss des Bundestags von 2019, der die „Boycott, Divestment and Sanctions“-Bewegung (BDS) als antisemitisch verurteilt, begründet dies mit der erweiterten IHRA-Definition (kritisch dazu siehe 1,2,3). Als „Teil der deutschen Staatsräson“ werden dabei sowohl „das unbedingte Nein zum Hass auf Jüdinnen und Juden“ als auch die Sicherheit Israels genannt. Es gibt keine Erwähnung des Kontexts des Israel-Palästina-Konflikts und auch keine Hinweise zur Abwägung, welche Kritik an der israelischen Regierung als Konfliktpartei nach Ansicht des Bundestages nicht antisemitisch sei. Der Satz „Wer Menschen wegen ihrer jüdischen Identität diffamiert, ihre Freizügigkeit einschränken will, das Existenzrecht des jüdischen und demokratischen Staates Israel oder Israels Recht auf seine Landesverteidigung in Frage stellt, wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen“ lässt vielmehr zu, dass auch die Kritik an der spezifischen Art und Weise, wie Israel sein Recht auf Landesverteidigung auslegt, als antisemitisch eingestuft wird.
In Reaktion auf den 7.10. haben die Koalitionsfraktionen in einem Entschließungsantrag von der Bundesregierung gefordert, ein Betätigungsverbot von BDS zu prüfen.4) In diesem Antrag wird im Abschnitt der Erörterung des zunehmenden Antisemitismus auch „vermehrt[er] israelbezogener Antisemitismus linker Milieus“ beklagt und kritisiert, dass es international „viele Akademikerinnen und Akademiker sowie Künstlerinnen und Künstler [waren], die einseitig Position gegen Israel bezogen oder sich gar mit der Hamas solidarisierten.“ Dadurch wird die Unterstützung der antisemitischen Hamas als eine einfache Steigerungsform der Kritik an Israel dargestellt – wodurch letztere delegitimiert wird. Bemerkenswert ist an diesem Satz insbesondere der Vorwurf der Einseitigkeit, weil erstens Einseitigkeit ein übliches Element politischer Rhetorik in Konfliktsituationen ist; zweitens der Entschließungsantrag selbst den implizit formulierten Anspruch an Ausgeglichenheit gerade nicht einlöst, weil er vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegsgeschehens eine einseitige Parteinahme für Israel darstellt; und drittens, weil diese Einseitigkeit mit der spezifischen deutschen Geschichte und Verantwortung begründet ist, was im Umkehrschluss gerade vermuten lassen müsste, dass die internationalen Perspektiven potentiell weniger einseitig seien, als die deutsche – noch dazu, wenn sie von Wissenschaftler*innen artikuliert werden.
Diskursverengungen und Grundfreiheitseinschränkungen
Die Anwendung der IHRA-Definition durch staatliche und parastaatliche Stellen kann zu Unklarheiten bei der Differenzierung von Kritik an Israel und israelbezogenem Antisemitismus führen. Angesichts der deutschen Staatsräson liegt es nahe, dass in solchen Fällen zu einer strengen Auslegung tendiert und der Bereich des Antisemitismus weit verstanden wird. Der philosophische Vater der heutigen Staatsräson, Jürgen Habermas, hat dies nach dem Angriff der Hamas selbst vorgeführt. Zusammen mit drei anderen Philosoph*innen verurteilt er die Rede von „genozidalen Absichten“ bei der Kritik Israels aktueller Militäraktion als “vollends” (Richtung Antisemitismus)5) verrutschter Maßstab, obwohl das Konzept von angesehenen Rechtsexpert*innen und Genozidforschenden diesbezüglich diskutiert wird (1,2,3,4,5,6,7). Habermas et. al. begründen dies damit, dass sich mit dem demokratischen Selbstverständnis der Bundesrepublik „eine politische Kultur [verbinde], für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind.“6)
Entsprechend ist in der Folge der skizzierten Implementierung der IHRA-Definition und insbesondere des BDS-Beschlusses eine Zunahme von Antisemitismusvorwürfen und damit verbundenen (Forderungen von) Veranstaltungsabsagen und Kündigungen bzw. Rücktritten zu verzeichnen (1,2,3,4,5). Im Zentrum solcher Vorwürfe steht die Nähe zu oder Unterstützung von BDS, wobei oft schon analytische Konzepte wie Apartheid (dazu 1,2,3,4,5,6; die israelische Zeitung Haaretz wundert sich über die Ungleichzeitigkeit zwischen Felix Kleins klarer Positionierung und der eigenen Debatte über Apartheid), Kolonialismus (dazu 1,2,3) und teilweise sogar Besatzung als israelbezogener Antisemitismus gewertet werden.7) Neu mit der Kriegsentwicklung hinzugekommen sind die Begriffe „Genozid“ und „ethnische Säuberung“ (dazu 1,2,3,4,5,6,7). So hat der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein Kritik an Israel aus dem Kreis von Greta Thunberg durch die Begriffe „Genozid“ und „Apartheidsstaat“ als „in unerträglicher F