19 January 2015

Der BND baut sich einen rechtsfreien Raum: Erkenntnisse aus dem NSA-Untersuchungsausschuss

Seit den ersten Enthüllungen Edward Snowdens im Juni 2013 sind großflächige Überwachungen durch Nachrichtendienste ein Dauerthema der öffentlichen Debatte. Neben die Empörung über amerikanische und britische Geheimdienste tritt zunehmend die Erkenntnis, dass auch die Tätigkeit deutscher Nachrichtendienste kritikwürdig ist. Insbesondere gilt dies für den Bundesnachrichtendienst (BND). Denn dieser Dienst überwacht in großem Umfang Kommunikation im Ausland, ohne dass es dafür eine hinreichende Rechtsgrundlage gäbe.

Erkenntnisse zu der Überwachungspraxis des BND hat in jüngster Zeit der NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags erbracht, der seit rund einem Dreivierteljahr tagt. In diesem Rahmen wurde auch deutlich, wie der BND selbst seine Tätigkeit verfassungsrechtlich einordnet. Teilweise waren die verfassungsrechtlichen Positionen des BND zwar schon vor Beginn der Ausschussarbeit bekannt. Denn in Ansätzen gingen sie aus einer Stellungnahme der Bundesregierung gegenüber dem BVerfG sowie aus mehreren Antworten auf parlamentarische Anfragen hervor. Durch die Sitzungen des Ausschusses hat sich die Informationslage jedoch verdichtet.

Der Ausschuss hat nämlich mehrere (gegenwärtige oder ehemalige) Bedienstete des BND als ZeugInnen vernommen. Diese Vernehmungen waren großteils öffentlich, die Protokolle werden allerdings nicht veröffentlicht. Gehaltvoller als die kurzen Zusammenfassungen, die der Ausschuss selbst ins Netz stellt, sind die mitgebloggten inoffiziellen Protokolle, die bei Netzpolitik.org zu finden sind. Den Zeugenvernehmungen lässt sich entnehmen, wo der BND die verfassungsrechtlichen Grenzen sieht, an denen er seine Überwachungspraxis ausrichtet.

Drei Arten der Telekommunikationsüberwachung des BND

Der NSA-Untersuchungsausschuss befasst sich mit Überwachungsmaßnahmen, die sich auf die Telekommunikation beziehen. Der BND unterscheidet bei der Telekommunikationsüberwachung drei Arten von Telekommunikationsverkehren. Dementsprechend gibt es drei Arten der Telekommunikationsüberwachung, für die unterschiedliche Rechtsgrundlagen gelten.

Zwei dieser Rechtsgrundlagen finden sich in dem Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz (G 10). Zum einen darf der BND Telekommunikation im Einzelfall nach § 3 G 10 überwachen, wenn bestimmte Verdachtsmomente gegen den Betroffenen bestehen. Zum anderen darf er die internationale Telekommunikation nach § 5 G 10 auch strategisch, das heißt großflächig und ohne konkreten Anlass überwachen, um solche Verdachtsmomente hervorzubringen. Allerdings muss sich das Überwachungsziel auf bestimmte Gefahrenbereiche (Kriegsgefahr, internationaler Terrorismus, Proliferation, bestimmte Felder der organisierten Kriminalität) beziehen. Zudem bindet das G 10 strategische Überwachungen an ein komplexes Anordnungsverfahren und sieht eine Kontrolle durch ein besonderes Gremium vor, die G 10-Kommission (§ 15 G 10). Schließlich errichtet das G 10 vergleichsweise strenge Anforderungen an die Speicherung, Nutzung und Übermittlung der Kommunikationsdaten, die der BND strategisch gewonnen hat.

Nach Auffassung des BND liegt internationale Telekommunikation im Sinne von § 5 G 10 nur vor, wenn die Kommunikation einen Bezug zur Bundesrepublik aufweist. Hiervon grenzt der Dienst reine Auslandsverkehre ab. Für die Überwachung von Auslandsverkehren sollen die materiellen und prozeduralen Hürden des G 10 nicht gelten. Solche Verkehre überwacht der BND aufgrund seiner gesetzlichen Aufgabe, Erkenntnisse über das Ausland von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung zu sammeln.

Nicht ganz klar ist nach den bisherigen Vernehmungen, inwieweit sich der BND bei dieser Auslandsaufklärung an das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) gebunden sieht. Für die Überwachung als solche würde das BDSG allerdings keinen Unterschied machen. Denn nach § 13 BDSG darf eine öffentliche Stelle personenbezogene Daten erheben, wenn dies erforderlich ist, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Eine Telekommunikationsüberwachung ist eine solche Datenerhebung. Es bliebe also auch nach dem BDSG dabei, dass die Auslandsüberwachung selbst letztlich allein auf der Aufgabenzuweisung des BND-Gesetzes beruht. Gehaltvollere Vorgaben ergäben sich aus dem BDSG erst nach der Überwachung, wenn der BND die erhobenen Daten speichern, nutzen oder an andere Stellen übermitteln will. Auch diese Vorgaben bleiben allerdings deutlich hinter den Anforderungen des G 10 zurück.

Auslandsaufklärung und Fernmeldegeheimnis

Die Überwachungspraxis des BND beruht auf der verfassungsrechtlichen Prämisse, dass die reine Auslandsaufklärung nicht in das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG eingreift. Denn als Eingriffsermächtigung genügte eine bloße Aufgabenzuweisung nicht den Anforderungen, die sich nach der Rechtsprechung des BVerfG­ zu diesem Grundrecht aus den Geboten der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit ergeben.

Aufgrund der Zeugenvernehmungen des NSA-Untersuchungsausschusses lässt sich schärfer als bisher nachzeichnen, wie der BND den Anwendungsbereich der Auslandsaufklärung bestimmt. Danach darf der BND ausländische Telekommunikation immer dann auf der Grundlage seiner Aufgabenzuweisung überwachen, wenn er dadurch nicht in das Fernmeldegeheimnis eingreift. Eingriffe in dieses Grundrecht sind dagegen nur auf der Grundlage des G 10 möglich. Der BND verkoppelt also den Anwendungsbereich dieses Gesetzes mit dem Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 10 GG und schneidet seine Ermächtigung zur Auslandsaufklärung gewissermaßen um dieses Grundrecht herum zu.

Damit stellt sich die Frage, wann eine deutsche Behörde nicht in das Fernmeldegeheimnis eingreift, wenn sie Telekommunikation überwacht. Um den Schutzbereich dieses Grundrechts einzugrenzen, kann zum einen räumlich, zum anderen persönlich angesetzt werden.

Es gibt keinen überzeugenden Grund, den Schutzbereich von Art. 10 GG räumlich auf das deutsche Staatsgebiet zu verengen; das habe ich an anderer Stelle näher erläutert. Hingegen hat das BVerfG in seinem G 10-Urteil von 1999 offen gelassen, ob ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis einen territorialen Bezug zur Bundesrepublik voraussetzt. Das Gericht hat jedoch ausgeführt, ein solcher Bezug bestehe jedenfalls dann, wenn der Telekommunikationsverkehr mit Empfangsanlagen erfasst und aufgezeichnet werde, die sich auf deutschem Boden befänden. Dies ist bei der Auslandsaufklärung des BND zumindest häufig der Fall. Nach den Zeugenvernehmungen des NSA-Untersuchungsausschusses überwacht der BND die ausländische Telekommunikation insbesondere, indem er Satellitenkommunikation von Deutschland aus abhört oder bei der leitungsgebundenen Kommunikation auf Übertragungswege in der Bundesrepublik zugreift, über die ausländische Verkehre geleitet werden. Beide Überwachungsansätze weisen unproblematisch einen territorialen Bezug zur Bundesrepublik auf.

„Grundrechtsträger“ und „Funktionsträger“

Um solche Überwachungen zu legitimieren, muss der BND darum bei dem persönlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses ansetzen. In den Vernehmungen des Ausschusses ist die Rechtsauffassung des BND deutlich geworden:

Telekommunikationsverkehre, bei denen sich mindestens ein Teilnehmer in der Bundesrepublik befindet, sind danach als Inlandskommunikation oder als internationale Telekommunikation grundrechtlich geschützt. Auf die Staatsangehörigkeit der Teilnehmer kommt es insoweit nicht an. Solche Verkehre können darum nur nach Maßgabe des G 10 überwacht werden.

Telekommunikationsverkehre zwischen Teilnehmern im Ausland sollen hingegen dem Fernmeldegeheimnis (und in der Folge dem G 10) nur dann unterfallen, wenn mindestens ein Teilnehmer Grundrechtsträger des Art. 10 GG ist. Dies sollen nur Deutsche sein. Ausländer, die sich im Ausland befinden, sollen hingegen nicht den Schutz des Fernmeldegeheimnisses genießen. Sie sind – in den Worten des BND-Mitarbeiters T. B. – „zum Abschuss freigegeben“.

Der BND nutzt mit seiner Grundrechtsträgerthese aus, dass das BVerfG im G 10-Urteil einen weiteren Punkt offen gelassen hat. Im damaligen Verfahren waren alle Personen, die zulässige Verfassungsbeschwerden erhoben hatten, Deutsche. Das Gericht hatte darum nicht über die Frage zu entscheiden, „was für ausländische Kommunikationsteilnehmer im Ausland gilt“. Anders als für deutsche Staatsangehörige im Ausland ist für solche Personen daher bisher nicht positiv judiziert, dass sie von Art. 10 GG geschützt sind.

Allerdings ist diese Rechtsauffassung des BND nicht zu halten. Denn das Fernmeldegeheimnis ist kein Deutschengrundrecht. Wenn ein Telekommunikationsvorgang überhaupt von Art. 10 GG erfasst ist, kann es für den Grundrechtsschutz nicht auf die Staatsangehörigkeit der Teilnehmer ankommen. Insoweit liegt es bei der Auslandskommunikation nicht anders als bei der Inlandskommunikation und der internationalen Telekommunikation, die auch nach Auffassung des BND grundrechtlich geschützt sind, ohne dass es auf die Staatsangehörigkeit der Teilnehmer ankäme.

Der BND macht noch eine weitere Ausnahme vom persönlichen Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses für sogenannte Funktionsträger. Dabei handelt es sich um natürliche Personen, die für ausländische juristische Personen kommunizieren. Denn ausländische juristische Personen genießen nach Art. 19 Abs. 3 GG nicht den Schutz des Fernmeldegeheimnisses. Daraus folgert der BND, dass dieses Grundrecht auch ihre Funktionsträger nicht schützt.

Die Funktionsträgerthese beruht auf der Prämisse, dass die Telekommunikation eines Funktionsträgers eigentlich die Kommunikation der juristischen Person ist, der er angehört. Der Funktionsträger selbst genießt allenfalls einen abgeleiteten Grundrechtsschutz, wenn diese juristische Person Grundrechtsträgerin ist.

Auch die Funktionsträgerthese überzeugt nicht. Sie verdreht die grundrechtlichen Zurechnungszusammenhänge im Rahmen von Art. 10 GG. Das Fernmeldegeheimnis schützt unmittelbar die Teilnehmer eines Kommunikationsvorgangs. Dies sind in der Regel natürliche Personen. Wenn diese natürlichen Personen für juristische Personen aus dem Inland oder aus dem EU-Ausland handeln, sind diese juristischen Personen ebenfalls geschützt. Faktisch wird der Grundrechtsschutz der juristischen Personen damit über die kommunizierenden natürlichen Personen vermittelt. Rechtlich stehen beide Gewährleistungen nebeneinander. Der Grundrechtsschutz eines Kommunikationsteilnehmers verschwindet dementsprechend nicht deshalb, weil er für eine ausländische juristische Person kommuniziert, die selbst nicht durch das Fernmeldegeheimnis geschützt wird.

Die Funktionsträgerthese lässt sich im Übrigen kaum trennscharf handhaben: Selbst wenn an einem Telekommunikationsvorgang nur Funktionsträger ausländischer juristischer Personen beteiligt sind, werden sie doch in der Regel auch persönliche Inhalte austauschen, die mit ihrer Funktionsträgereigenschaft nicht unmittelbar zusammenhängen. Fällt ein Telekommunikationsvorgang nun selbst dann nicht unter das Fernmeldegeheimnis, wenn es überwiegend um Privates geht, aber eben auch Belange der ausländischen juristischen Person besprochen werden? Oder reichen umgekehrt schon Höflichkeitsfloskeln aus, damit ein Telekommunikationsvorgang zwischen Funktionsträgern grundrechtlich geschützt ist? Das von dem ehemaligen BND-Juristen Stefan Burbaum vorgestellte Kriterium, ob jemand „als Staatsbürger oder als Funktionsträger kommuniziert“, beschreibt das Problem, löst es aber nicht.

Vom guten Sinn des Gesetzesvorbehalts

Die Vernehmungen des NSA-Untersuchungsausschusses belegen, was sich schon vorher erahnen ließ: Der BND konstruiert sich für die Auslandsaufklärung einen weitgehend rechtsfreien Raum, indem er sein gesetzliches Fachrecht mit dem Verfassungsrecht kurzschließt und das Grundgesetz höchst eigenwillig auslegt.

Dass diese Konstruktion vor Gericht hält, ist stark zu bezweifeln. Zwar hat sich jüngst gezeigt, dass es schwierig ist, eine zulässige Klage gegen großflächige Überwachungsmaßnahmen des BND zu erheben. Die NSA-Affäre hat aber inzwischen Organisationen auf den Plan gerufen, die über die Mittel und die Kontakte verfügen dürften, um in geeigneten Musterverfahren die Zulässigkeitshürde zu überwinden. Es sollte darum nur eine Frage der Zeit sein, bis die behördliche Sonderdogmatik des BND zum Fernmeldegeheimnis kippt.

In dieser Lage ist es im Sinne aller Beteiligten, die Auslandsaufklärung des BND gesetzlich zu regeln.

Zum einen sprechen hierfür rechtsstaatliche und demokratische Gesichtspunkte: Nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung, welche die Auslandsaufklärung an bestimmte Anlässe und Ziele bindet und sie verfahrensrechtlich flankiert, lässt sich die Auslandsaufklärung rechtlich – und nicht vorwiegend durch Ethos oder Budget – bändigen. Und erst wenn ein Regelungsvorschlag vorliegt, kann die Auslandsaufklärung zuverlässig beschrieben und gehaltvoll öffentlich diskutiert werden.

Zum anderen liegt eine gesetzliche Regelung auch im Interesse des BND selbst. Kommt es nämlich irgendwann zu einem Gerichtsverfahren, so dürfte der rechtsfreie Raum zusammenfallen, den sich der BND geschaffen hat. Eine gesetzliche Regelung mag lästige Vorgaben und Verfahren mit sich bringen, schafft aber mehr Rechtssicherheit. Im Übrigen gewährleistete eine solche Regelung wenigstens ein Minimum an Transparenz. Sie könnte so dazu beitragen, in der Bevölkerung Vertrauen zurückzugewinnen, das nach verbreiteter Diagnose in jüngerer Zeit verloren gegangen ist – ein Anliegen, das der Präsident des BND selbst in jüngerer Zeit mehrfach vorgebracht hat.

Die Zeugenvernehmungen des NSA-Untersuchungsausschusses haben damit den guten Sinn des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts gerade auch im Recht der Nachrichtendienste veranschaulicht. Hoffentlich hört der Gesetzgeber diese verborgene Botschaft.