“Der EuGH erfindet sich gerade neu”
Das gestrige Urteil des EuGH zu Google und dem „Recht auf Vergessen“ stößt im Netz und in den Medien auf ein sehr geteiltes Echo. Was ist Ihre Einschätzung?
Man muss das Urteil in zweierlei Richtungen lesen. Inhaltlich geht es um Datenschutz und um die rechtliche Umzäunung großer Informationsdienstleister. Man muss aber auch die institutionelle Seite sehen. Der EuGH handelt mit diesem Urteil – anders als das Kommission, Rat und Parlament in Hinblick auf die Reform des Datenschutzrechts derzeit tun. Offenbar erfindet sich der EuGH gerade neu, wenn man die aktuelle Entscheidung zur datenschutzrechtlichen Beurteilung von Google im Zusammenhang mit der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung sieht: Er ist nicht mehr nur Wahrer und Motor der europäischen Einigung, sondern ist jetzt auch Menschenrechts- und Verfassungsgerichtshof.
Gemessen an diesem Anspruch erscheint mir das Urteil aber sehr eng an den einschlägigen datenschutzrechtlichen Vorschriften aufgezogen.
Das wirkt nur so. Es ging um einen datenschutzrechtlichen Löschungsanspruch, und es ist erstaunlich, wie wenig der EuGH bange ist, Nägel mit Köpfen zu machen und die Vorlagefragen des spanischen Gerichts umfassend zu beantworten. Der Unternehmensstrategie, in Europa nur eine werbetreibende Niederlassung einzurichten, die eigentlichen Verarbeitungsvorgänge aber außerhalb in den USA durchzuführen und sich somit europäischem Datenschutzrecht zu entziehen, dieser Strategie schiebt der EuGH einen Riegel vor: Wer hier Werbung schaltet und damit Geld verdient, muss sich an das hier geltende Recht halten.
Ist das neu im Verhältnis zu dem, was die Kommission bisher vertreten hat?
Die Kommission hat in ihrem Entwurf einer Datenschutz-Grundverordnung das Territorialitätsprinzip abgeschafft und eine neue öffentlich-rechtliche Kollisionsregel vorgesehen: Wer Dienste anbietet für Bürger der EU, muss sich an EU-Recht halten. Die Notwendigkeit dafür sieht man gerade an Facebook und Google, die in Europa vor allem Werbeniederlassungen haben. In der Entscheidung von gestern war der EuGH nicht bange, die Geltung des europäischen Datenschutzrechts auch im Rahmen des jetzt aktuellen Territorialitätsprinzips nunmehr festzuschreiben.
Materiell hat der EuGH ebenfalls Google nicht damit davonkommen lassen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, was jemand ins Netz stellt. Das war lange heftig umstritten. Jetzt stellt der EuGH klar, dass das Sammeln und Aufbereiten von Informationen, das Auflegen von Algorithmen auf Netzinhalte ein eigenständiger Erhebungs-, Verarbeitungs- und Nutzungsvorgang ist, der sich datenschutzrechtlich in die bestehenden Regelungen einfügen muss.
Wie sieht es mit der Abgrenzbarkeit aus? Der Generalanwalt hatte in seinen Schlussanträgen das Beispiel eines Europarechtsprofessors an die Wand gemalt, der beim EuGH ein Urteil herunterlädt und dann auch datenschutzrechtlich in die Verantwortung geriete. Trifft die Befürchtung zu, dass nach dieser Maßgabe im Grunde jeder Kommunikationsvorgang im Netz zu einem datenschutzrechtlichen Problem werden kann?
In der Tat gilt zunächst einmal Datenschutzrecht. Das ist nichts Schlimmes. Ich akzeptiere doch auch, dass ich beim Herunterladen aus dem Netz dem Urheberrecht oder dem Vertragsrecht unterworfen bin. Ob das ein Problem ist, liegt im Auge des Betrachters. Das Datenschutzrecht ist ja nicht starr und verbietet komplett alles, sondern es erlaubt sehr wohl Möglichkeiten. Es gibt z.B. Ausnahmen für private Zwecke, eine heruntergesetzte Schutzschwelle bei öffentlich gemachten Informationen und dergleichen.
Sehen Sie also auf den besagten Europarechtsprofessor irgendwelche Schwierigkeiten zukommen?
Das halte ich für relativ weit hergeholt. Die eigentlichen Probleme hat jetzt Google. Dort sieht man sich jetzt einer Haftung auch für datenschutzrechtliche Verstöße gegenüber, die eigentlich aus dem Urheberrecht schon lange bekannt ist. Denn das Urheberrecht verlangt schon seit geraumer Zeit, dass derjenige, der Verstöße weiter transportiert, auch mithaftet. Wer ein Risiko schafft oder erweitert, muss auch für das Risiko eintreten.
Wie sieht es denn mit der Informationsfreiheit der Öffentlichkeit und überhaupt mit der Freiheit des Netzes aus? Kommt das in den Erwägungen des EuGH ausreichend vor?
Das knüpft an die Diskussion um das „Recht auf Vergessen“ an. Dass Informationen auffindbar sind, kann positive, aber auch negative Effekte haben. Das ist keine sonderlich neue Erkenntnis; es durchzieht die ganze Persönlichkeitsrechtsprechung auf nationaler und europäischer Ebene. Es ist eben nicht nur gut, wenn alle immer alles über uns wissen. Dass es ein Bedürfnis gibt, bestimmte Informationen auch mal zurückzuholen oder nach Jahrzehnten festzustellen, das ist jetzt nicht mehr von solcher Bedeutung, das ist ein legitimes Anliegen des Einzelnen. Das andere Interesse, das Sie ansprechen, ist aber auch ein legitimes Anliegen. Dementsprechend hat der EuGH ja deutlich gemacht, dass durchaus für Personen des öffentlichen Interesses anderes gelten kann und dass sich über diese Personen Informationen in den Suchmaschinen dauerhaft wiederfinden lassen müssen. Hier ist das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ein anderes als gegenüber Lieschen Müller, die bestimmte Entwicklungen durchläuft.
Aber haben wir es hier nicht doch mit einer Dreieckskonstellation zu tun? Wenn ich jetzt einen Artikel über Herrn X schreibe, der Herrn X nicht passt, und dann Herr X zu Google geht und mit Google vereinbart, dass sie den Artikel aus ihren Suchergebnissen löschen – dann findet niemand mehr meinen Artikel, ohne dass überhaupt jemals irgendwer mit mir gesprochen hat. Kann das richtig sein? Was ist mit meinem Grundrecht, meine Meinung frei zu verbreiten?
Wenn Sie über Herrn X etwas geschrieben haben, was Sie nicht hätten schreiben dürfen, ist Ihre Schutzbedürftigkeit jedenfalls deutlich vermindert. Wenn Herr X Ihnen gegenüber hätte durchsetzen können, dass Sie den Artikel aus dem Netz nehmen, ist das Herantreten an Google die viel effektivere Lösung, um die Rechte des Einzelnen wirkungsvoll zu schützen. Das ist genau das, was in den Internet-Diskussionen eine große Rolle spielt, weil es längst zum Problem geworden ist: Das Beharren der Suchmaschinenbetreiber, dass sie nur das, was ohnehin in der Welt ist, abbilden und angeblich keine von ihnen bestimmte Wertigkeit damit verbinden. Es ist aber genau dieses Tun, die zu Beeinträchtigungen führt, die der Einzelne nicht mehr aus der Welt schaffen kann.
Aber angenommen, ich schreibe über Herrn X gar nichts Illegitimes, sondern nur etwas Unangenehmes. Und um so mehr geht derjenige gar nicht zu mir, sondern gleich zu Google, und die wollen keinen Ärger haben und löschen den Verweis auf den Artikel einfach. Und ich stehe plötzlich da mit einer Information, die nicht mehr auffindbar ist im Netz. Ist das nicht die spiegelbildliche Situation zu der des Betroffenen? Google kann das Bild von jemandem prägen, indem es auf Informationen verlinkt, aber Google kann auch eine Meinung unterdrücken, indem es nicht auf Informationen verlinkt?
Jein. Zum einen ist nicht zu erwarten dass Google einfach löscht, um Ärger zu vermeiden. Google hat ein vitales Interesse daran, möglichst viele Informationen zu generieren und aufzubereiten. Das Interesse von Google ist dann genauso gelagert wie Ihres, nämlich möglichst viel Verbreitung. Insofern sind Ihre Rechte bei Google wohl ganz gut aufgehoben. Zum anderen hat der EuGH noch gar nicht ausbuchstabiert, was in solchen Konfliktfällen genau passiert. Das ist ein klassisches Vorgehen bei einem solchen Paukenschlag.
Was genau muss man gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber geltend machen?
Da kann man dem Urteil nur ein paar dünne Hinweise entnehmen, wenn man den Tatbestand heranzieht. Offenbar kann ein Zeitraum von fünf bis sieben Jahren hinsichtlich eines aus der Welt geschafften Sachverhalts ausreichend sein. Viel mehr lässt sich aus der Entscheidung gar nicht ablesen.
Nochmal kurz zu dem Aspekt der gleichgelagerten Interessen: Mir ist überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, meine Rechte bei Google überhaupt aufgehoben zu sehen, ob gut oder schlecht. Wenn die Prämisse ist, dass an Google kein Weg vorbei geht und von Google abhängt, was über jemand sichtbar ist im Netz und was nicht – kann man das nicht auch umdrehen? Muss dann nicht auch mein Recht, nicht unsichtbar gemacht zu werden, irgendwo in der Abwägung vorkommen?
Wir können natürlich in ein Pingpongspiel eintreten, indem Sie nach der Löschung aufgrund des Verlangens eines Privaten Google Ihrerseits verklagen, Ihren Artikel doch zu verbreiten.
Kann ich das?
Es gab und gibt eine Menge Verfahren dazu, wie Google seine Suchmaschinenergebnisse gestalten muss. Man könnte einen solchen Anspruch z.B. wettbewerbsrechtlich konstruieren angesichts der Marktmacht von Google. Überhaupt: Es ist nicht so ungewöhnlich, dass wir im Recht mit Dreieckskonstellationen befasst sind, wo eine Entscheidung zu Gunsten des Einen automatisch zu Lasten des Anderen geht: im Baurecht, bei der Wettbewerberklage im Regulierungsrecht, bei der Konkurrentenklage bei der Einstellung. Aber nochmal: Ich weiß nicht, ob der EuGH in diesem Urteil wirklich bis ins Letzte ausgefeilt eine neue Rechtsprechung initiieren wollte oder ob nicht eine Hauptintention dabei war, ein deutliches Signal zu setzen: Wir lassen nicht zu, dass das europäische Datenschutzrecht den Bach hinuntergeht und sich das „Recht“ des Stärkeren und des Schnelleren durchsetzt, weil sich Kommission, Rat und Parlament nicht einigen können – oder präziser, weil der Rat bockt. Kommission und Parlament haben ja längst ihre Hausaufgaben gemacht.
Damit sind wir bei den institutionellen Fragen, die Sie eingangs angesprochen haben. Mit welcher Art von Constitutional Moment haben wir es hier zu tun? Was tut der EuGH hier mit seiner eigenen Rolle im Institutionengefüge der EU?
Wenn man die aktuelle Entscheidung mit der Vorratsdatenspeicherungs-Entscheidung vom April 2014 zusammen liest, wird der EuGH auf einmal zu einem echten Verfassungsgericht. Das ist etwas, was wir bisher höchstens schleichend angedeutet gesehen haben. Von 1995 bis ungefähr 2007 hat es im Europäischen Datenschutzrecht nur ganz wenige Entscheidungen des EuGH gegeben. Seit 2007 beobachten wir aber: Es taucht immer mehr auf. Jetzt sind es zwei Paukenschläge auf einmal, in denen der EuGH sich nicht mehr auf die Rolle desjenigen zurückzieht, der die europäische Einigung voranbringt, sondern nunmehr Bürger- und Menschenrechte schützt. Das ist ein ganz erhebliches Umdenken. An den beiden Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung kann man das wie im Bilderbuch ablesen. 2009, als der EuGH zum ersten Mal über die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zu urteilen hatte, hat er kein Wort zur Grundrechtsrelevanz verloren. 2014 dagegen erfolgt zur Vorratsdatenspeicherung ein wirklich durchgearbeitetes Urteil, dem man ansieht, dass der EuGH sich als Verfassungsgericht begreift, das Verfassungsrecht spricht. Das gestrige Urteil ist genau auf dieser Linie.
Aus Karlsruhe waren zuletzt viele Signale zu hören, dass man sich große Sorgen um die Zukunft des Datenschutzes in Europa macht. Wird den Richterinnen und Richtern am Bundesverfassungsrecht jetzt leichter ums Herz?
Manche Sorgen, die etwa der Bundesverfassungsrichter Johannes Masing artikuliert hat, sind natürlich immer noch begründet. Wenn wir eine Europäische Datenschutz-Grundverordnung bekommen, verlagert sich ein ganz erheblicher Teil dessen, was wir bisher national geregelt haben, nach Brüssel. Und wenn man sich diese Verordnung ansieht, muss man sagen, dass sie die Entscheidungsspielräume der Kommission sehr großzügig bemisst. Daran hat sich nichts geändert.
Was den inhaltlichen Grundrechtsschutz angeht: Die Kläger im Verfahren um die Vorratsdatenspeicherung hatten seinerzeit gehofft, dass das Bundesverfassungsgericht diesen eklatanten Verstoß gegen Menschenrechte nutzen würde, um seinerseits ein Signal nach Brüssel bzw. Luxemburg zu senden und die Solange-Rechtsprechung dahingehend zu konkretisieren, dass jetzt in Europa kein annähernd vergleichbarer Grundrechtsstandard mehr gewährt sei. Alle, die das gehofft hatten, sind in der Entscheidung des BVerfGs zur Vorratsdatenspeicherung bitterlich enttäuscht worden. Das Bundesverfassungsgericht wollte ersichtlich keinen Konflikt mit Europa, durchaus um den Preis deutscher Grundrechtsstandards. Dieser Konflikt hat sich jetzt ersichtlich etwas entschärft. Das Unbehagen, das Herr Masing seinerzeit diesbezüglich geäußert hat, könnte jetzt durchaus etwas weichen. Man wird aber sehen müssen, wie nachhaltig die Entwicklung ist und was passiert, wenn der EuGH jetzt Gegenwind bekommt. Das ist er nicht gewöhnt. Es ist schon ein Unterschied, ob man im Wesentlichen Urteile für Profis fällt oder mit einem Mal in eine shitstorm-orientierte Öffentlichkeit gerät. In dem Moment, wo ich mich auf das Feld der Bürgerrechte begebe, stehe ich anders im Fokus der Öffentlichkeit. Für die Vorratsdatenspeicherung hat es im Zeitalter des NSA-Skandals jede Menge Applaus gegeben. Aber jetzt könnte das anders sein. Es kommen Befürchtungen auf, ob eine solche Regulierung ein Rückschritt ist und ob man womöglich die Freiheit des Internet beschädigt.
Glauben Sie, dass der EuGH mit dieser Art von Öffentlichkeit nicht umgehen kann?
Ich denke, dass dem EuGH das auch ein Stück weit gefallen könnte. Es macht doch auch Freude, wenn man als der oberste Richter in Europa feststellt, dass man etwas bewegen kann in Sachen Bürgerrechte. Ich gehe davon aus, dass die Richter sich dem in professioneller Distanz stellen und deutlich artikulieren, dass es ihre Aufgabe ist, Bürgerrechte zu schützen.
Fr. Spiecker hat sehr recht – endlich begreift der EuGH, dass Europäisierung auch bedeutet, die “Bürgerunion” ernst zu nehmen, und nicht nur die “Staatenunion”. Und wohltuend, dass Sie auch mal eine (solche!) Frau mit Sach- und Fachkenntnis befragen und prominent platzieren!
“Wenn Sie über Herrn X etwas geschrieben haben, was Sie nicht hätten schreiben dürfen, ist Ihre Schutzbedürftigkeit jedenfalls deutlich vermindert.” (…) “Denn das Urheberrecht verlangt schon seit geraumer Zeit, dass derjenige, der Verstöße weiter transportiert, auch mithaftet.”
Im Gegensatz dazu soll Google datenschutzrechtlich auch haften, wenn es gar keine Verstöße transportiert. Die Auffindbarkeit einer Information über eine Suchmaschine kann laut EuGH (Rn. 85) nämlich rechtswidrig sein, selbst wenn die Information auf einer Website völlig rechtmäßig veröffentlicht ist. Es gibt keine Akzessorietät zwischen beidem. Das befremdet an dem Urteil – nicht die Inanspruchnahme von Google als solche. Diese Symbolik hätte man auch “günstiger” haben können. Und wettbewerbsrechtlich wird sie sich nicht korrigieren lassen.
Für Frau Dörmann steht die Selbstermächtigung des EuGH als Verfassungsgericht im Vordergrund. Ihre diesbezüglichen Aussagen unterschreibe ich. Leider geht sie – wie auch der EuGH – in den inhaltlichen Wertungen des Urteils nicht auf die Kollision der Grundrechtsansprüche im konkreten Fall ein.
Wenn der EuGH Google für die Verbreitung verantwortlich macht (Erst durch Google wird der streitige Text wirklich zugänglich) dann müsste Google auch die Medienfreiheit zugestanden werden, die dann gegen die Datenschutzrechte des Klägers abgewogen werden müsste. Darüber geht der EuGH vollkommen hinweg und postuliert einen Vorrang des Datenschutzes. Das ist nicht sachgerecht und verkennt in grober Weise die Bedeutung der Meinungs- / Pressefreiheit. Man kann sich nicht selbst zum Verfassungsgericht erklären, dann aber solch stümperhafte Fehlaussagen machen.
[…] ist, wie sich vorletzte Woche herausstellte, der Europäische Gerichtshof da, der zu diesem Zweck Google verurteilt hat, Informationen über Leute nicht mehr in ihren Suchmaschinen-Ergebnissen zu listen, wenn sie […]
[…] wie sich vorletzte Woche herausstellte, der Europäische Gerichtshof da, der zu diesem Zweck Google verurteilt hat, Informationen über Leute nicht mehr in ihren Suchmaschinen-Ergebnissen zu listen, wenn […]